Die latente Wirtschaftskrise der letzten Jahre in Deutschland hat sich zuletzt dramatisch zugespitzt. Jürgen Ehlers über die Ursachen, die Agenda des Kapitals und Perspektiven des Klassenkampfs
Deutschland befindet sich im zweiten Jahr in Folge in einer Wirtschaftskrise. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank 2023 – wie schon im Vorjahr – um 0,2 Prozent. Besonders betroffen mit einem Minus von 3 Prozent sind die Autoindustrie und der Maschinenbau sowie die Chemie- und Metallindustrie, also die Herzkammer des deutschen Kapitalismus. Die Zahl der Arbeitslosen beginnt infolge des teilweise massiven Stellenabbaus in der Industrie bereits zu steigen.
Deutsches Bruttoinlandsprodukt (BIP) (indexiert)

Das reale Bruttoinlandsprodukt Deutschlands zeigt seit fünf aufeinanderfolgenden Quartalen kein Wachstum und ist in den letzten vier Jahren tatsächlich stagniert. Preisbereinigt; Kettenindex 2020 = 100; rote Linie: Saison- und kalenderbereinigte Werte nach X13; blaue Linie: Ursprungswerte; © Statistisches Bundesamt (Destatis), 2024
Verarbeitendes Gewerbe: Herzkammer des deutschen Kapitalismus

Verarbeitendes Gewerbe in Prozent an der Wertschöpfung. Alle Daten stammen aus dem Jahr 2020, mit Ausnahme der Daten für die USA, die aus dem Jahr 2019 stammen. Quelle: OECD © FT
Die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland wird auf den ersten Blick vor allem von folgenden Faktoren bestimmt. Zum einen die verschärfte weltweite Konkurrenz in den für den deutschen Kapitalismus wichtigen Industriebranchen, verbunden mit der Umstellung auf E-Mobilität, noch verstärkt durch eine geringere Nachfrage nach deutschen Exportgütern vor allem in China.
PMI (Einkaufsmanagerindex) für das deutsche verarbeitende Gewerbe – Punkte

In den letzten drei Jahren ist die wirtschaftliche Aktivität im verarbeitenden Gewerbe zusammengebrochen.
Die Problemlage wird noch zusätzlich durch den gescheiterten Plan verschärft, sich ab 2011 – auch gegen den dauerhaften und lauten Protest anderer EU-Mitgliedsstaaten und den USA gegen den Bau von Nord Stream 1 und 2 – mit billigem Erdgas aus Russland dauerhaft einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen.
Tiefe Wirtschaftskrise
Ein zweiter Blick offenbart aber noch tieferliegende Probleme. Die schwere Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 – die schwerste seit 1929 – war auf den ersten Blick die Folge von hochspekulativen Kapitalanlagen in den USA im Immobiliensektor. Schaut man genauer hin, dann wird deutlich, dass die geplatzte Immobilienblase die Folge einer Entwicklung war, die dem Kapitalismus eigen ist. Diese Anlagemöglichkeiten aus unüberschaubaren Schuldverschreibungen sind in den USA geschaffen worden und weltweit über Investmentbanken vertrieben worden, weil es in anderen Wirtschaftsbereichen in den Augen der Kapitalist:innen keine ausreichend profitablen Anlagemöglichkeiten gab.
Die Zentralbanken haben deswegen seit 2009 mehr als zehn Jahre lang versucht, mittels einer historisch einmaligen Niedrigzinspolitik die Folgen dieser Wirtschaftskrise abzufedern und neue Wachstumsimpulse zu setzen. Das ist nicht gelungen. Die Niedrigzinspolitik hat Übernahmeschlachten und Konzentrationsprozesse beschleunigt und so wie in Deutschland eine Blase am Immobilien– und Aktienmarkt erzeugt. Das eigentliche Ziel – nämlich die Profitraten zu erhöhen – ist aber nicht erreicht worden. Im Gegenteil: Die dazu notwendige Verdrängung von Konkurrenten, die den Überlebenden neue Wachstumschancen eröffnet hätte, ist infolge der Geldschwemme der Zentralbanken ausgeblieben. Die Niedrigzinspolitik hat vor allem viele Unternehmen vor der Insolvenz bewahrt, weil damit außergewöhnliche Kostenvorteile verbunden waren. Die Zinserhöhung ab 2022 führt jetzt dazu, dass die Zahl der Insolvenzen deutlich ansteigt.
Zeitreihe der Gewinnrate auf den Nettokapitalstock (EWPT, AMECO) in Prozent

Der Rentabilitätsaufschwung für das deutsche Kapital seit der Einführung des Euro, über die Verlagerung von Industriekapazitäten in den Osten der EU und den niedrigen Löhnen für einen großen Teil der Arbeitnehmerschaft, ist vorbei. Die Rentabilität des deutschen Kapitals begann in der Großen Rezession und während der langen Depression der 2010er Jahre zu sinken. Der größte Einbruch erfolgte jedoch während der Pandemie, und die Rentabilität ist nun auf einem historischen Tiefstand. ©Michael Roberts / thenextrecession.wordpress.com
Die aktuelle Wirtschaftskrise ist die Zuspitzung einer Tendenz, die sich bereits zuvor in den immer geringer ausfallenden Zuwachsraten des BIP widergespiegelt hat. In den ersten 25 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg lag der jährliche Zuwachs im Durchschnitt noch über 6 Prozent. Diese Zuwachsraten sanken – begleitet von Wirtschaftskrisen, die von zunehmend schwachen Konjunkturerholungen abgelöst wurden – im Laufe der Jahre immer weiter ab. Nach der schwersten Krise des Kapitalismus seit 1929, die 2008 ihren Anfang nahm, folgte bis 2022 ein konjunkturelles Zwischenhoch, allerdings mit jährlichen Zuwachsraten von gerade einmal knapp über einem Prozent.
Schrumpfendes Wachstum in Deutschland

©Statistisches Bundesamt (Destatis), 2024
Sinkende Profitrate, wachsende Ausbeutung
Karl Marx hat dieses Phänomen, das auch er bereits zu seinen Lebzeiten beobachten konnte, untersucht. Er hat daraus das »Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate« abgeleitet, nachzulesen im Dritten Band des Kapitals. Im Kern geht es darum, dass nur die Ausbeutung lebendiger Arbeit zu Profiten führt und der Einsatz von Maschinen im Produktionsprozess einen Kostenfaktor darstellt. Dieser Kostenfaktor hat im Konkurrenzkampf eine entscheidende Bedeutung, der sich kein:e Kapitalist:in entziehen kann. Der Einsatz von mehr und besseren Maschinen verschafft Unternehmer:innen zunächst einen Wettbewerbsvorteil, bis die Konkurrenz gleichgezogen hat, nachdem sie ebenfalls in neue Geräte und Produktionsanlagen investiert hat. So wurde 2023 in Deutschland ein Allzeithoch beim Einsatz von Industrierobotern erreicht. 28.355 Roboter sind in dem Jahr neu in Betrieb genommen worden. Eine Steigerung von 7 Prozent gegenüber dem Vorjahr, nachdem bereits von 2008-2023 jedes Jahr ein Zuwachs von 5 Prozent zu verzeichnen gewesen ist.
Das führt dazu, dass der Anteil des auf diese Weise gebundenen Kapitals im Verhältnis zur eingesetzten Arbeitskraft tendenziell steigt. Das gebundene Kapital ist für die Kapitalist:innen ein Kostenfaktor, der die Profitrate drückt. Wenn es ihnen gelingt, die Arbeitskraft intensiver oder länger auszubeuten, oder wenn es gelingt, höhere Preise durchzusetzen, weil Konkurrenten ausgeschaltet worden sind, dann können sie diesen tendenziellen Fall der Profitrate verlangsamen oder sie sogar für eine bestimmte Zeit wieder erhöhen. Genau darum ging es 2003 bei der »Agenda 2010« unter Gerhard Schröder (SPD) in Deutschland, darum geht es der herrschenden Klasse in China mit dem Bau der »Neuen Seidenstraße« und darum geht es den USA mit dem drohenden Handelskrieg durch das anheben von Importzöllen.
Handelskrieg verschärft Wirtschaftskrise
Deutschland ist eine der drei größten Exportnationen. Die großen Marktanteile auf dem Weltmarkt sind die Basis, um besonders umfangreiche Profite zu erzielen, wenn entsprechende Preise für die Produkte durchgesetzt werden können. Die Profitraten sinken aber drastisch, wenn der erzielbare Preis durch Exportzölle belastet wird. Das ist jetzt mit der von Trump angekündigten aggressiven Handelspolitik der Fall. Auch wenn der US-Markt für beispielsweise den Stahlexport Deutschlands mit unter drei Prozent nur einen vergleichsweise geringen Anteil ausmacht, werden die hohen US-Zölle zur Folge haben, dass vermehrt Stahl aus anderen Ländern wie China und Indien auf den europäischen Markt drängen, da den Produzenten ohne hohe Zollschranken hier höhere Profite winken. Eine Entwicklung, die sich bereits in den letzten Jahren abgezeichnet hat, so dass sich der Marktanteil von Stahlproduzenten aus Asien in Deutschland von 13 auf 27 Prozent verdoppelt hat.
Da der Export in die USA seit 2008 für den deutschen Kapitalismus in anderen Branchen immer wichtiger geworden ist, während er in anderen Ländern im gleichen Zeitraum stagnierte oder sogar rückläufig gewesen ist, hat die Zollpolitik der neuen US-Regierung hier besonders weitreichende Folgen. So gehen beispielsweise inzwischen ein Viertel aller deutschen Pharmaprodukte in die USA. Das bedeutet, dass sich mit den Strafzöllen in den USA ein neues, sehr bedrohliches Krisenszenario für die deutsche Wirtschaft abzeichnet.
Neuauflage der Agendapolitik
Eine einfache Neuauflage der »Agenda 2010« wird nicht ausreichen, um die Profitraten angesichts dieses Krisenszenarios wieder zu erhöhen. Mit dem vorläufigen Tiefpunkt dieser von der Sozialdemokratie zu verantwortenden Politik, der »Agenda 2010«, ist seit dem Jahr 2003 der größte Niedriglohnsektor in ganz Europa entstanden. Zu dem Zeitpunkt wurde Deutschland als »kranker Mann Europas« verspottet. Gemeint waren damit die hohe Arbeitslosigkeit, eine hohe Staatsverschuldung und niedrige Wachstumsraten. Die Senkung der Lohnnebenkosten und die Mobilisierung der »industriellen Reservearmee« auf den Arbeitsämtern durch »Hartz IV« haben in Verbindung mit Steuersenkungen für Unternehmen das Problem aus der Perspektive des Kapitals gelöst. So entlastete bereits die Unternehmenssteuerreform von 2001 die Unternehmen gegenüber dem Vorjahr um 23,6 Milliarden Euro. Die Lohnstückkosten sanken dann infolge der sogenannten Arbeitsmarktreformen von 2003-2007 um 3,6 Prozent. Das hat der deutschen Industrie für eine lange Zeit die erhofften Wettbewerbsvorteile verschafft.
Mit der schweren Wirtschaftskrise sind die Lohnstückkosten ab 2008 erneut jedes Jahr mal mehr, mal weniger stark gestiegen, so wie in anderen Ländern auch. Die Niedrigzinspolitik der EZB hat dazu geführt, dass daraus zunächst kein Problem erwuchs, weil das billige Geld zu einer Kostenentlastung führte. Der starke Einbruch der Nachfrage nach Exportgütern in den letzten zwei Jahren – nicht nur in der Autoindustrie – belastet die Profitraten gegenwärtig in viel höherem Maße als die Löhne.
Reales Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer (Indizes 2019 im vierten Quartal = 100)

Die Reallöhne in Deutschland liegen, wie auch in vielen anderen EU-Ländern, noch immer unter dem Niveau vor der Pandemie.
Im Jahr 2023 ist das Exportvolumen Deutschlands um 1,2 Prozent und 2024 noch einmal um 1 Prozent zurückgegangen. Die nicht ausgelasteten Produktionskapazitäten – in Deutschland zur Zeit fast ein Viertel der Industrieanlagen – verursachen erhebliche Kosten. Das Problem ist, dass das darin gebundene Kapital – das fixe Kapital, wie Marx es genannt hat – nicht profitabel eingesetzt werden kann. Um daran etwas zu ändern, müssen aus Perspektive des Kapitals die Löhne gesenkt werden. Sie sind die variablen Kosten im Gegensatz zu den fixen Kosten bei der Ausbeutung.
Deutsche Handelsbilanz – Milliarden Euro

Der Handelsüberschuss mit dem Rest der Welt ist im Vergleich zu den 2010er Jahren mit 20 Milliarden Euro pro Jahr so gut wie unverändert.
Deutsche Importe – Milliarden Euro

Dennoch sind die Warenexporte rückläufig. Der unveränderte Handelsüberschuss kommt dadurch zustande, dass auch die Importe seit der Pandemie zurückgingen, da die deutschen Hersteller ihre Produktion drosselten und den Einsatz von Rohstoffen und Bauteilen zurückfuhren.
Schuldzuweisungen in der Wirtschaftskrise
In der Debatte um Schuldzuweisungen für die krisenhafte Entwicklung in Deutschland wird gegenüber China der Vorwurf erhoben, dass dort eine »gezielte Industriepolitik« betrieben wird, um auf dem Weltmarkt die Konkurrenz zu verdrängen. Das ist aber in den USA oder in Europa und allen voran Deutschland nicht anders. Das Erscheinungsbild dieser Industriepolitik ist nur ein anderes. Direkte und indirekte Subventionen in Verbindung mit Zöllen, flankiert durch eine entsprechende Außenpolitik gehören dazu. Der chinesische Staatskapitalismus hat sich bei der Entwicklung von leistungsfähigen Batterien für E-Autos jedoch als effektiver erwiesen, weil sehr viele Ressourcen im Rahmen eines Fünf-Jahres-Plans ab 2010 ganz gezielt darauf konzentriert worden sind. Zur gleichen Zeit war der VW-Konzern noch damit beschäftigt, eine Manipulation der Abgasvorrichtung bei Dieselfahrzeugen zu entwickeln, um kostengünstig verschärfte Grenzwerte einzuhalten. Nachdem der Betrug aufgeflogen war, musste der Konzern 30 Milliarden Euro an Entschädigungen zahlen.
Trotzdem lagen die Dividendenausschüttungen von VW allein von 2021 bis 2023 bei zusammen über 12 Milliarden Euro. Auch die operativen Ergebnisse – also die Beträge, die nach Abzug aller laufenden Kosten in der Kasse des Konzerns verbleiben – sind beachtlich. Von 2021 bis 2023 bewegte sich das operative Ergebnis des Konzerns in jedem Jahr zwischen 20 und 22,6 Milliarden Euro, von denen jeweils 20 Prozent als Dividende ausgeschüttet worden sind, um die Aktionär:innen bei Laune zu halten. Trotzdem sind das Management und die Kapitaleigner:innen von VW unzufrieden, weil in diesem Zeitraum die Rendite – also die Profitrate – auf inzwischen nur noch 3,5 Prozent gesunken ist. Die Konzernführung leitet genau daraus die Forderung an die Belegschaft ab, ihren »Beitrag« dazu zu leisten, damit die Profitrate wieder zweistellig wird. Damit ist das eigentliche Problem benannt, das es so auch in anderen Branchen gibt.
Nur wenn die gesunkene Profitrate wieder deutlich steigt, sind die Anleger:innen bereit, ihre Aktien zu halten, weil sich in der Profitrate die Verzinsung ihres Kapitals ausdrückt. Wenn das nicht geschieht, bricht der Aktienkurs ein, weil sich die Kapitalanleger:innen nach Alternativen umsehen. Dem Konzern geht dann buchstäblich das Geld aus. Da gleichzeitig in großem Maßstab in die E-Mobilität investiert werden soll, um wieder konkurrenzfähig zu werden, ist es ausgeschlossen, die Profitrate zu erhöhen, ohne den Beschäftigten Lohnabbau und andere Zugeständnisse abzupressen. Das ist jetzt geschehen und es ist damit zu rechnen, dass das noch weitergehen wird.
Austerität und Investitionsstau
Die politischen Maßnahmen, die die Profitraten und damit auch die internationale Konkurrenzfähigkeit erhöhen können, sind in den sozialpolitischen Einschnitten der »Agenda 2010« und der Unternehmensteuerreform erprobt worden. In der Folge ist in Deutschland der größte Niedriglohnsektor Europas entstanden, der – ergänzt durch den Krisenkorporatismus der Industriegewerkschaften – dafür gesorgt hat, dass sich die Profitraten erhöht haben. Die Steuerpolitik gegenüber den Unternehmen, den Spitzenverdiener:innen und den reichen Erb:innen hat aber auch dazu geführt, dass wichtige Teile der technischen und sozialen Infrastruktur nicht instand gesetzt oder modernisiert worden sind. Das betrifft das Schienen- und Straßennetz ebenso wie die Schulen und reicht bis zur Digitalisierung von Verwaltungsvorgängen. Das bedeutet, dass gegenwärtig ein riesiger Nachholbedarf besteht, dessen Beseitigung mit hohen Kosten verbunden ist. Der Wettbewerbsvorteil aus einem gigantischen Niedriglohnsektor, billiger Energie, niedrigen Zinsen und Steuervorteilen ist inzwischen durch die fortgesetzte kapitalistische Konkurrenz aufgebraucht. Der Absturz von VW illustriert das auf besonders dramatische Weise.
Es droht jetzt unter der Kanzlerschaft von Friedrich Merz eine »Agenda 2030«, die mit Blick auf die Profitrate an die Erfolge der »Agenda 2010« anknüpfen soll – das aber unter veränderten Rahmenbedingungen. Der Verlust von vergleichsweise gut bezahlten Industriearbeitsplätzen wird zunächst weitergehen, weil die Umstellung auf Elektromobilität in der Autoindustrie noch lange nicht abgeschlossen ist und die höheren Zinsen noch mehr angeschlagenen Betrieben das Leben kosten. Gleichzeitig werden für die Klimaschutzmaßnahmen in der Industrie und im Wohnungsbau hohe Subventionen gefordert, die Instandsetzung und Modernisierung von Infrastruktur verursachen hohe Kosten, während außerdem die Rüstungsausgaben gewaltig gesteigert werden sollen.
Angriffspläne der Union
Die Pläne der Unionsparteien sehen vor, dass die Steuereinnahmen sinken, indem Unternehmen entlastet, der Solidaritätszuschlag gestrichen, die Energiekosten für Unternehmen gesenkt und die Einkommensgrenze für den Spitzensteuersatz angehoben wird. Gleichzeitig sollen die Kosten zur Rentenfinanzierung durch eine längere Lebensarbeitszeit – noch auf freiwilliger Basis – gesenkt und die Sanktionen bei den Bezieher:innen der Grundsicherung verschärft werden. Die eigentliche Gegenfinanzierung der steuerlichen Entlastungspläne sind aber die erhofften 2 Prozent Wirtschaftswachstum, die dem CDU-Programm zugrunde liegen.
Angesichts der weltweit schwächelnden Konjunktur und dem eskalierenden Handelskrieg mit den USA, muss damit gerechnet werden, dass diese Rechnung nicht aufgeht.
Dann aber werden weitere, noch tiefere sozialpolitische Einschnitte folgen, die bereits in den Schubladen liegen, aber mit Blick auf potentielle Wählerstimmen noch nicht veröffentlicht werden. Und es gibt neben den ökonomischen Rahmenbedingungen noch einen wichtigen Unterschied zur Agendapolitik unter dem sozialdemokratischen Kanzler Schröder. Dem gelang es, den Protest der Gewerkschaften gegen seine Agenda 2010 einzuhegen, weil seine Partei deren Spitzenpositionen bekleidete.
Diesen Trumpf – die privilegierten Beziehungen in die Führungsetagen der Gewerkschaften – hat Merz nicht in der Hand – daran ändert auch keine Regierungsbeteiligung der massiv geschwächten SPD etwas. Gleichzeitig ist der Spielraum für den bisher praktizierten Krisenkorporatismus der Industriegewerkschaften in den zurückliegenden Jahren immer enger geworden. Das bedeutet nicht, dass keine weiteren Zugeständnisse denkbar sind, die sich in der Unternehmensbilanz positiv niederschlagen und die Konkurrenzfähig erhöhen können. Aber das damit verbundene Versprechen, dass diese Einsicht in die Zwänge der kapitalistischen Konkurrenz, dann den Beschäftigten zugutekommt, wenn es dem Unternehmen besser geht, findet schon seit längerem keine Abnehmer:innen mehr.
Eine neue politische Qualität
Es zeichnet sich ab, dass die Quantität der großen und kleinen Zugeständnisse im Rahmen des Korporatismus die Belegschaften spalten, die Entfremdung vor allem zur Sozialdemokratie und den Gewerkschaften fördern und damit in eine neue politische Qualität umschlagen können. Es ist deutlich geworden, dass das verheerende Folgen haben kann. Die Zustimmung zur AfD ist in den Reihen der Arbeiterklasse inzwischen besorgniserregend hoch. Alle Parteien – mit Ausnahme der Linken – eilen dem Rassismus der AfD hinterher und bieten gleichzeitig keine glaubhaften Lösungen für die anstehenden Probleme, die nicht auf dem Rücken der abhängig Beschäftigten ausgetragen und von ihnen bezahlt werden sollen. Die Folge ist eine politische Verwahrlosung von größeren Teilen der Arbeiterklasse, die bereit sind, die AfD zu unterstützen – obwohl deren Wahl- und Parteiprogramm nicht in ihrem Interesse ist –, um so ihre Wut zum Ausdruck zu bringen. Diese Wut ist mit dem Gefühl der Ohnmacht verbunden, weil es keine erkennbare politische Kraft gibt, die einen Ausweg aus der Endlosschleife aufzeigt: »Wir machen die Reformen und ihr bezahlt dafür.« Das gilt nicht nur für die Steuer- oder Sozialpolitik, sondern auch für den Klimaschutz.
Die Linke muss sich auf den Weg machen, um eine glaubhafte linke Alternative zur AfD darzustellen. Erste kleine Schritte sind erfolgt, denen größere folgen müssen. Es braucht eine Linke, die den Kampf um Reformen im Interesse der abhängig Beschäftigten konsequent mit diesen zusammen führt und das mit der Perspektive zur Beseitigung der eigentlichen Ursachen von Ausbeutung und Unterdrückung verbindet. Die Fixierung auf das parlamentarische Stellvertretertum verschleiert, wo die Kraft zu suchen und entwickeln ist, die es ermöglicht, Reformen im Interesse der abhängig Beschäftigten durchzusetzen. Dazu müssen die Gewerkschaften ihre Mitglieder ermächtigen und befähigen, den Kampf um ihre Interessen selbst zu führen und das Stellvertretertum abzulegen. Der gemeinsame und selbstbestimmte Kampf ist das beste Mittel, um Klassensolidarität erfahrbar zu machen und damit auch das beste Mittel gegen das Gift des Rassismus – die entscheidende Voraussetzung, um Klassenbewusstsein entwickeln zu können.
Foto: Kilian – KiwiKilian / flickr.com / CC BY-NC 2.0
Schlagwörter: Agenda 2010, Deutschland, Krise, Ökonomie, Wirtschaftskrise