Walden Bello über die die Ursachen des Zusammenbruchs der Wall Street.
Viele an der Wall Street haben noch immer die erschütternden Ereignisse der letzten Wochen zu verdauen:
- 1-3 Billionen Dollar an Finanz-Werten ausgelöscht.
- Die Wall Street ist de facto verstaatlicht. Die Federal Reserve Bank (Notenbank = FED) und das Finanzministerium treffen alle wichtigen strategischen Entscheidungen im Finanzbereich. Seit der Rettung der American International Group (AIG) kontrolliert die US-Regierung die weltgrößte Versicherungsgesellschaft.
- Das größte Bail-out seit der großen Depression mit 700 Milliarden US$ ist die jüngste Verzweiflungstat zur Rettung des globalen Finanz-Systems.
Die üblichen Erklärungen reichen nicht mehr. Außerordentliche Ereignisse erfordern außerordentliche Erklärungen. Aber zuerst einmal…
Ist das Schlimmste vorbei?
Nein, wenn irgendetwas aus den widersprüchlichen Vorgängen der letzten Woche klar wird, dann, dass es keine Strategie gibt, wie mit der Krise umzugehen ist. Zuerst lässt man Lehman Brothers in den Konkurs schlittern, dann übernimmt man AIG und fädelt die Übernahme von Merrill Lynch durch die Bank of America ein. Es gibt nur taktische Manöver, ähnlich der Feuerwehr bei einem Großbrand.
Der Kauf von schlecht besicherten Hypothekar-Krediten im Wert von 700 Milliarden US$ zeugt nicht von einer Strategie, sondern ist vor allem ein verzweifelter Kraftakt, um wieder Vertrauen für das System zu gewinnen, um das schwindende Vertrauen in die Banken und anderer Finanz-Institutionen wieder herzustellen und einen Run auf die Banken zu verhindern, der 1929 die große Depression ausgelöst hat.
Was war die Ursache für den Zusammenbruch des Nervenzentrums des Kapitalismus? War es Gier?
Die gute altmodische Gier spielte eine Rolle. Klaus Schwab, der Organisator des Welt-Wirtschafts-Forums, wo sich alle Jahre die Elite in den Schweizer Alpen trifft, sagte seiner Klientel: „Wir müssen für die Sünden der Vergangenheit büßen."
Hat sich in diesem Fall Wall Street selbst ausgetrickst?
Ganz sicher. Finanz-Spekulanten tricksten einander aus, indem sie immer komplexere Finanz-Kontrakte schufen. Z. B. Derivate, die Sicherheiten und Geld aus allen Risiko-Formen gewannen. Darunter solch exotische Derivate wie „Credit Default Swaps". Sie erlauben Investoren auf das Risiko zu wetten, dass die eigenen institutionellen Schuldner der Bank, ihre Schulden nicht zurückzahlen können. Dieser unregulierte Handel im Umfang von vielen Billionen Dollar brachte AIG zu Fall.
Als das International Financing Review (IFR) am 17. Dezember 2005 ihre jährlichen Auszeichnungen (eines der begehrtesten Auszeichnungs-Programme des Anlagen-Geschäfts) ankündigte, gab es folgendes Statement: „(Lehman Brothers) behielt nicht nur seine marktbeherrschende Stellung, sondern führte auch den Sturm an die Spitze an, indem … sie innovative Produkte entwickelte und Transaktionen anbot, welche maßgeschneidert sind für die Bedürfnisse der Kreditnehmer. Lehman Brothers ist die innovativste Gesellschaft an der Spitze und bietet Produkte, die man sonst nirgends erhält." Kommentar überflüssig.
Fehlte die Regulierung?
Ja – inzwischen ist es allgemein bekannt, dass die innovative Kapazität der Wall Street, die immer kompliziertere finanzielle Instrumente entwickelte, den Regulierungsfähigkeiten der Regierungen weit voraus war. Aber nicht deshalb, weil die Regierungen nicht imstande gewesen wären zu regulieren, sondern weil die vorherrschende neoliberale Laissez-faire-Einstellung die Regierungen davon abhielt, effektive Regelungs-Mechanismen zu entwickeln.
Aber passiert da nicht noch etwas mehr? Steckt da etwas im System?
Immerhin sah George Soros so etwas kommen. Er sagt, die Krise, durch die wir derzeit gehen, ist die Krise des Finanz-Systems, ist die Krise des „gigantischen Kreislaufes" eines „globalen kapitalistischen Systems, das … aus allen Nähten platzt."
Um die Einsichten dieses Erz-Spekulanten zu verstehen: Was wir beobachten können ist die Intensivierung einer der zentralen Krisen oder Widersprüche des globalen Kapitalismus: Die Krise der Überproduktion, auch bekannt als Überakkumulationskrise oder Krise der Überkapazitäten.
Es ist die Tendenz des Kapitalismus, enorme Produktionskapazitäten aufzubauen, welche die Mittel der Bevölkerung zu konsumieren bei weitem übersteigt. Die Ursache dafür liegt in den sozialen Ungleichheiten, die die Kaufkraft der Bevölkerung begrenzt und damit auch die Gewinne mindert.
Aber was hat die Krise der Überproduktion mit den gegenwärtigen Ereignissen zu tun?
Jede Menge. Aber um die Zusammenhänge zu verstehen, müssen wir zurück schauen in das so genannte goldene Zeitalter des zeitgenössischen Kapitalismus, in die Periode von 1945 bis 1975.
Das war eine Periode schnellen Wachstums, sowohl in den entwickelten als auch in den unterentwickelten Ökonomien. Die Ursache dafür war zum einen der massive Wiederaufbau Europas und Ost-Asiens nach den Zerstörungen des zweiten Weltkrieges, zum anderen die neue sozioökonomische Ausrichtung, institutionalisiert in der Wirtschaftspolitik nach John Maynard Keynes. Der Schlüssel zu letzterem war eine starke staatliche Steuerung der Aktivitäten des Marktes, aggressiver Einsatz der Geld- und Finanzpolitik, um die Inflation niedrig zu halten und eine Rezession zu vermeiden. Zudem ein Regime relativ hoher Löhne, um die Nachfrage zu stimulieren und aufrecht zu erhalten.
Was ist schief gelaufen?
Diese Periode kräftigen Wachstums kam in der Mitte der siebziger Jahre zu einem Ende, als die entwickelten Ökonomien von einer Stagflation erfasst wurden mit geringem Wachstum und zugleich mit hoher Inflation. Das hätte nach der neoklassischen Wirtschaftstheorie nicht passieren dürfen.
Stagflation war nur ein Symptom für eine tiefere Ursache: Der Wiederaufbau Deutschlands und Japans und das rasche industrielle Wachstum von Ökonomien wie Brasilien, Taiwan und Süd-Korea vermehrten die Produktionskapazitäten ganz enorm und damit den globalen Konkurrenzkampf. Zugleich begrenzten die sozialen Ungleichheiten in diesen Ländern und die globale Ungleichheit zwischen den Ländern das Wachstum der Kaufkraft und der Nachfrage, damit schwanden die Gewinne. Verstärkt wurde dieser Effekt durch die massiven Ölpreis-Steigerungen in der Mitte der siebziger Jahre.
Wie versuchte der Kapitalismus die Krise der Überproduktion zu meistern?
Das Kapital fand drei mögliche Auswege aus dem Schlamassel der Überproduktion: Neoliberale Umstrukturierung, Globalisierung und Finanzialisierung.
Was bedeutet neoliberale Umstrukturierung?
Die neoliberale Umstrukturierung nahm im Norden die Formen der Reaganomics und des Thatcherismus an und im Süden gab es die strukturelle Anpassung. Das Ziel war es, die Akkumulation des Kapitals zu beleben und die Mittel waren:
1) Abbau der staatlichen Beschränkungen für den Zuwachs, Einsatz und Umlauf von Kapital und Vermögen.
2) Umverteilung des Einkommens von den armen und mittleren Einkommensklassen zu den Reichen, nach der Theorie, dass die Reichen dadurch motiviert würden, Investitionen zu tätigen und damit das Wirtschaftswachstum wieder anzukurbeln.
Diese Formel barg allerdings ein Problem: durch die Umverteilung der Einkommen zu den Reichen plünderte man die der Armen und der Mittelklasse, und dadurch wurde die Nachfrage geschwächt, während die Reichen nicht unbedingt in neue Produktionen investierten.
Die generelle neoliberale Umstrukturierung im Norden und im Süden während der achtziger und neunziger Jahre brachte nur ein schwaches Wirtschaftswachstum. In den Neunzigern war das durchschnittliche Wachstum der Weltwirtschaft 1,1%, in den Achtzigern 1,4%, während es zu den Zeiten des dominierenden staatlichen Interventionismus in den Sechzigern durchschnittlich 3,5% betrug und in den Siebzigern 2,4%. Die neoliberale Unstrukturierung konnte die Stagnation nicht beenden.
War die Globalisierung eine Antwort auf die Krise?
Der zweite mögliche Ausweg für das Kapital aus der Stagnation war die "extensive Akkumulation" oder Globalisierung oder die rasche Integration von halb-kapitalistischen, nicht-kapitalistischen oder vor-kapitalistischen Gebieten in die globale Markt-Ökonomie. Rosa Luxemburg, die berühmte deutsche revolutionäre Ökonomin, sah dies schon lange als Bedingung, um die Profitrate in den Metropolen zu erhöhen. Wie? Durch den Zugang zu billigen Arbeitskräften, zu neuen, bisher begrenzten Märkten, zu neuen Quellen billiger Agrarprodukte und Rohstoffe, durch die Eröffnung neuer Bereiche für Investitionen in Infrastruktur. Diese Integration geschah durch Handels-Liberalisierung, Beseitigung von Beschränkungen für den freien globalen Kapitalfluss und durch die Abschaffung von Hindernissen für Auslands-Investitionen.
Das prominenteste Beispiel für die Integration eines nicht-kapitalistischen Landes in die globale kapitalistische Wirtschaft in den letzten 25 Jahren ist natürlich China.
Um den sinkenden Profiten entgegen zu wirken, verlagerten zahlreiche Unternehmen aus der Fortune 500 Gruppe bedeutende Teile ihrer Aktivitäten nach China, um den Vorteil des so genannten „China-Preises" erreichen – das ist der Kostenvorteil, der sich aus der scheinbar unerschöpflichen Quelle billiger Arbeitskräfte ergibt. In der Mitte der ersten Dekade dieses Jahrhunderts kamen ca. 40 bis 50% der Gewinne US-amerikanischer Konzerne aus den Aktivitäten im und den Verkäufen ins Ausland, besonders in und nach China.
Warum konnte mit der Globalisierung die Krise nicht überwunden werden?
Durch diesen Ausweg aus der Stagnation wird allerdings das Problem der Überproduktion nur verschlimmert, weil die Produktionskapazitäten erweitert werden. China hat während der letzten 25 Jahre enorme Produktionskapazitäten errichtet. Das hatte einen Druck auf Preise und Gewinne zur Folge. So überrascht es nicht, dass, seit ca. 1997 die Gewinne der US-Konzerne stagnierten. Der Index der Gewinnmargen in der Gruppe der Fortune 500 bewegte sich von 7,15 zwischen 1960 und 1969 auf 5,30 zwischen 1980 und 1990 auf 2,29 zwischen 1990 und 1999 und auf 1,32 zwischen 2000 und 2002.
Warum lösten die neuen Finanztransaktionen das Problem nicht?
Wegen der begrenzten Erfolge der neoliberalen Umstrukturierung und der Globalisierung im Kampf gegen die negativen Auswirkungen der Überproduktion, wurde der dritte mögliche Ausweg, um die Gewinne zu erhalten und zu steigern, immer wichtiger: die Finanzialisierung.
In einer idealen Welt neo-klassischer Wirtschaftlehre ist das Finanzsystem der Mechanismus, mit dem Sparer oder Leute mit frei verfügbarem Geld zusammen gebracht werden mit Unternehmern, die dieses Geld zum Investieren in Produktionen brauchen. In der realen Welt des Spät-Kapitalismus bringen Investitionen in Industrie und Landwirtschaft wegen der Überkapazitäten nur geringe Gewinne. Daher zirkulieren große Mengen frei verfügbaren Geldes. Sie werden investiert und reinvestiert im Finanz-Sektor, d.h. der Finanz-Sektor wendet sich gegen sich selbst.
Als Ergebnis öffnet sich die Schere zwischen einer hyperaktiven Finanz-Wirtschaft und einer stagnierenden Real-Wirtschaft immer weiter. Wie ein Finanz-Manager feststellt: „In den letzten Jahren ist die Diskrepanz zwischen Real-Wirtschaft und Finanz-Wirtschaft immer größer geworden. Die reale Wirtschaft ist gewachsen … aber bei weitem nicht so stark wie die Finanzwirtschaft-bis sie implodierte."
Was uns dieser Beobachter nicht sagt ist, dass die Diskrepanz zwischen Real- und Finanz-Wirtschaft kein Zufall ist – dass die Finanzwirtschaft genau deswegen explodiert ist, weil sie die Stagnation wettmachen sollte, die durch die Überproduktion in der Real-Wirtschaft verursacht wurde.
Was war das Problem mit dem Ausweg über die Finanzialisierung?
Investitionen im Finanzsektor sind gleichbedeutend mit dem Versuch, einen Wert aus einem schon geschaffenen Wert herauszupressen. Man kann damit einen Gewinn erzielen, jawohl, aber es wird kein neuer Wert geschaffen – nur Industrie, Landwirtschaft, Handel und Dienstleistungen schaffen neue Werte. Weil der Gewinn nicht auf einem geschaffenen Wert beruht, sind solche Investitionen sehr unsicher. Die Preise von Aktien, Anleihen und anderen solche Investitionsformen können sich dramatisch von ihrem wahren Wert entfernen. Z. B. können die Aktien von Internet-Start-Upsin einer Aufwärtsspirale aus Finanz-Spekulationen immer weiter steigen – und dann abstürzen. Die Gewinne hängen ab von den Vorteilen, die aus dem positiven Abweichen der Preise vom Wert der Ware entsteht. Man muss verkaufen, bevor die Realität eine „Korrektur" erfordert, also vor einem Absturz bis zum realen Wert. Der rasche Anstieg der Preise für eine Anlage weit über den realen Wert hinaus wird die Bildung einer Blase genannt.
Warum ist die Finanzialisierung so flüchtig?
Da die Gewinne abhängig sind von Spekulations-Coups, ist es keine Überraschung, dass der Finanz-Sektor von Blase zu Blase taumelt, oder von einer Spekulations-Manie zur nächsten.
Weil der Kapitalismus der Finanzwelt nur von Spekulations-Manie getrieben wurde, hat er Dutzende von Krisen erlebt seitdem der Kapitalmarkt in den achtziger Jahren dereguliert und liberalisiert wurde.
Vor dem aktuellen Zusammenbruch der Wall Street waren die explosivsten Krisen die „Tequila"-Finanz-Krise von Mexiko (1994-95), die Finanz-Krise in Asien (1997-98), die russische Finanzkrise (1996), der Aktien-Crash an der Wall Street (2001) und der Finanz-Zusammenbruch in Argentinien (2002). Bill Clintons Finanzminister Robert Rubin (er kam von der Wall Street) sagte vor fünf Jahren schon voraus, dass „künftige Finanz-Krisen fast mit Sicherheit nicht zu vermeiden sind und sie könnten noch schwerer werden."
Wie konnte diese Blasen entstehen, anwachsen und platzen?
Wir wollen die Finanz Krise in Asien der Jahre 1997 und 98 als ein Beispiel nehmen:
- Zuerst: Liberalisierung des Kapital- und Finanzmarktes auf Drängen des IWF (Internationaler Währungs-Fonds) und des US-Finanzministeriums.
- Dann: Eintritt ausländischer Investoren auf der Suche nach schnellen und hohen Gewinnen. Sie stiegen in den Immobilien- und Aktienmarkt ein.
- Die folgende Investitionsflut führte zum Verfall der Aktien- und der Immobilienpreise. In der Folge wurden 1997 die Gelder panikartig abgezogen. In wenigen Wochen verließen 100 Milliarden US$ den ost-asiatischen Markt.
- Bail-out der ausländischen Spekulanten durch den IWF.
- 1998: Zusammenbruch der realen Wirtschaft – Rezession in ganz Ost-Asien.
- Trotz dieser massiven Destabilisierung wurde eine nationale und internationale Regulierung des Finanzsystems aus ideologischen Gründen abgelehnt.
Nun zur aktuellen Blase. Wie ist sie entstanden?
Der gegenwärtige Zusammenbruch der Wall Street hat seine Wurzeln in der Technologie-Blase von Ende 1990. Damals schnellten die Preise der Aktien von Internet-Start-Ups ins Unermessliche und stürzten nachher ab. Die Folge waren Verluste von sieben Billionen US$ und die Rezession von 2001-2002.
Die lockere Geldpolitik der FED unter Alan Greenspan ermöglichte die Technologie Blase. Als sie platzte entstand eine Rezession. Um eine lange Rezession zu vermeiden, senkte Greenspan im Juni 2003 den Diskontsatz auf 1%, den niedrigsten Satz seit 45 Jahren, und beließ ihn dort für mehr als ein Jahr. Der Effekt: eine neue Blase, die Immobilien-Blase.
Schon 2002 warnten fortschrittliche Wirtschaftswissenschafter wie Dean Baker vom Center for Economic Policy Research vor der Immobilien-Blase. Dennoch sah Ben Bernanke, damals Präsident des Rates der Wirtschaftsberater und heute Chef des Federal Reserve Board (Fed), bis zum Jahr 2005 die Ursache für den Anstieg der Immobilienpreise in den USA in „starken wirtschaftlichen Grundsätzen" und nicht in spekulativen Aktivitäten. Wen wundert es, dass er auf dem falschen Fuß erwischt wurde, als im Sommer 2007 die Krise der schlecht besicherten Hypotheken ausbrach.
Wie ist sie gewachsen?
Hören wir einen der wichtigsten Spieler am Markt selbst, George Soros: „Hypotheken-Banken ermutigten ihre Schuldner, ihre Hypotheken umzuschulden und das Kapital teilweise zurück zu fordern. Sie erleichterten die Bedingungen und boten neue Produkte an, wie flexible Hypothekarkredite, Kredite mit „nur Zinsen" und „Lockangebote" mit niedrigen Zinsen. All das ermutigte Spekulationen mit Wohnhäusern. Die Preise für Häuser begannen in zweistelligen Raten zu steigen. Damit wurde die Spekulation weiter angeheizt. Wegen des Anstiegs der Preise für die Wohnhäuser fühlten sich die Hauseigentümer reich und sie stürzten sich in den Konsum auf Schulden. Das hielt die Wirtschaft in den letzten Jahren am Laufen".
Wenn wir den Vorgang genauer betrachten, werden wir sehen, dass die Ursache für die Krise der schlechten Hypotheken nicht im Überangebot gegenüber der realen Nachfrage lag. Die „Nachfrage" war zum Großteil durch eine Spekulations-Manie generiert von Erschließungsfirmen und Finanziers, die fette Profite machen wollten mit ausländischem Geld, das die USA in den letzten zehn Jahren überflutete. Große Hypotheken-Darlehen wurden aggressiv an Millionen von Menschen verkauft, die sie sich sonst nicht hätten leisten können. Man bot niedrige „Lockzinsen", die später hinaufgesetzt wurden und damit die Zahlungsverpflichtungen der Hauseigentümer in die Höhe trieben.
Aber wie konnten schlechte Hypotheken, die nicht zurückgezahlt wurden, zu so einem großen Problem werden?
Der Grund: Diese Anlagen wurden nachher von den Hypotheken-Banken "verbrieft" durch andere komplexe Derivate, so genannte "collateralized debt obligations" (CDO = Anleihe, die durch ein diversifiziertes Schuldenportefeuille besichert wird). Es wurde mit Mittelsmännern auf verschiedenen Ebenen gearbeitet, die Risken wurden verharmlost und so schnell als möglich an andere Banken und institutionelle Anleger weiterverkauft. Diese Institute wiederum verkauften diese Verbriefungen an andere Banken und ausländische Finanz-Institute.
Als die Zinssätze für die schlecht besicherten Kredite, die flexiblen Hypotheken und andere Wohnungsbau-Kredite angehoben wurden, ging nichts mehr. Es gibt ca. sechs Millionen schlecht besicherte offene Hypotheken. 40% derselben werden wahrscheinlich in den nächsten zwei Jahren fällig gestellt werden, schätzt Soros.
In den nächsten Jahren werden noch fünf Millionen flexible Hypotheken und andere ähnliche Kredite als uneinbringlich erscheinen. Aber „Verbriefungen" im Wert von einigen Billionen Dollar sind schon wie Viren in das globale Finanz-System gepumpt worden. Das gigantische Kreislauf-System des globalen Kapitalismus war tödlich infiziert.
Wieso konnten die Titanen der Wall Street wie Kartenhäuser zusammenstürzen?
Bei Lehman Brothers, Merrill Lynch, Fannie Mae, Freddie Mac und Bear Stearns überstiegen die Verluste durch diese vergifteten Anlagen die Reserven dieser Firmen bei weitem und ruinierten sie. Es ist wahrscheinlich, dass noch andere fallen werden, wenn erst einmal ihre Bücher korrigiert sind und die Bewertung dieser Anlagen korrekt dargestellt ist – viele dieser Anlagen wurden nämlich unter „Bilanz extern" verbucht.
Viele andere werden folgen, wenn andere spekulative Aktivitäten, wie Kreditkarten und verschiedene Varianten von Risiko-Besicherungen bewertet werden müssen Die American International Group (AIG) stolperte über ihr massives Engagement im nicht regulierten Bereich von credit default swaps, Derivate, die es Investoren erlauben, auf das Risiko zu wetten, dass Unternehmen ihre Schulden nicht zurück zahlen könnten. Solche Wetten auf Rückzahlungs-Ausfälle erreichen derzeit einen Marktwert von 45 Billionen US$. Dieser Markt ist gänzlich unreguliert. Der Betrag erreicht den fünffachen Wert aller Anleihen der US-Regierung. Das riesige Ausmaß dieser Werte, die verloren gehen könnten, sollte AIG zusammenbrechen, war der Grund, warum Washington sich doch dazu entschied die AIG zu retten, nachdem man Lehman Brothers zusammen brechen ließ.
Was wird nun geschehen?
Folgendes können wir mit Sicherheit sagen: Es wird noch mehr Insolvenzen und Verstaatlichungen geben. Ausländische Banken und Institute werden ihren Partner in den USA folgen. Der Zusammenbruch der Wall Street wird die Rezession in den USA intensivieren und verlängern. In Asien und in anderen Weltgegenden wird eine Rezession in den USA auch Rezessionen oder noch schlimmeres auslösen. Der Grund für letzteres liegt darin, dass die USA der wichtigste Absatzmarkt für China ist. Anderseits importiert China Rohstoffe und Vorprodukte aus Japan, Korea und Süd-Ost-Asien zur Herstellung ihrer Exportgüter für die USA. Die Globalisierung hat ein „Abkoppeln" unmöglich gemacht. Die USA, China und Ost-Asien sind wie drei Sträflinge, die aneinander gekettet sind.
Kurz zusammen gefasst…?
Der Zusammenbruch der Wall Street hat seine Ursache nicht nur in der Gier und im Mangel an Regulierung eines hyperaktiven Sektors durch die Regierungen. Der Zusammenbruch der Wall Street entstand letztendlich aus der Überproduktion, die den globalen Kapitalismus seit der Mitte der siebziger Jahre plagt.
Investitionen in Finanztransaktionen waren einer der möglichen Auswege aus der Stagnation, die anderen beiden sind die neo-liberale Umstrukturierung und die Globalisierung. Der mäßige Erfolg von Umstrukturierung und Globalisierung machte die Finanzialisierung zu einem attraktiven Mechanismus, die Gewinne zu steigern. Aber diese Finanzialisierung erwies sich als ein gefährlicher Weg, der spekulative Blasen erzeugte. Sie brachten einigen Wenigen kurzfristig Reichtum, aber schließlich führten sie zum Zusammenbruch von Unternehmen und zur Rezession in der realen Wirtschaft.
Die Schlüsselfrage jetzt ist: wie tief und wie lang wird diese Rezession sein? Braucht die Wirtschaft der USA eine neue spekulative Blase, um sich selbst aus dieser Rezession zu befreien? Wenn ja, wo wird diese Blase entstehen? Einige sagen, der militärisch-industrielle Komplex oder der „Desaster Kapitalismus Komplex", über den Naomi Klein schreibt, könnte die nächste Blase sein. Aber das ist eine andere Geschichte, oder?
Zum Autor: Walden Bello ist Professor für Soziologie an der Universität der Philippinen und ein bekannter Globalisierungskritiker.
Quellen: Dieser Text ist zuerst auf deutsch erschienen in: Sand im Getriebe (SiG) Nr. 69 vom 16.10.2008, Internationaler deutschsprachiger Rundbrief der ATTAC-Bewegung, Übersetzung des Originaltextes: coorditrad (Herbert Kaser) und SiG-Redaktion. Veröffentlichung auf marx21.de mit freundlicher Genehmigung des Autors und der SiG-Redaktion.