marx21 dokumentiert ein Radio-Interview des US-Senders "Democracy Now" mit Nikos Lountos von der Panteion Universität in Athen über die Massenproteste in Griechenland.
Proteste, Aufstände und Zusammenstöße mit der Polizei haben Griechenland für die letzten sechs Tage seit dem tödlichen Schuß auf einen Teenager in Athen am Abend des 6. Dezember, aus der Bahn geworfen. Einen Tag nach dem großen Generalstreik am Mittwoch gegen Rentenreform und Privatisierung, der das Land lahmlegte, blieben mehr als hundert Schulen und mindestens fünfzehn Universitätscampusse in den Händen der studentischen BesetzerInnen. Am Freitag stand eine weitere große Demo bevor, und im Zuge der Ausweitung von Solidaritätsprotesten auf die benachbarte Türkei, sowie Deutschland, Spanien, Italien, Russland, Dänemark und die Niederlande, fanden Dutzende von Festnahmen auf dem ganzen Kontinent statt. Wir sprechen mit einem studentischen Aktivisten und Journalisten aus Athen.
Unser Gast:
Nikos Lountos, griechischer Aktivist und Autor. Er ist Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei Griechenlands und Masterstudent in politischer Philosophie an der Panteion Universität in Athen.
Amy Goddman: Am Mittwoch wurden zwei der Polizisten, die an der Schießerei von letztem Sonnabend beteiligt waren, verhaftet, und der eine wurde des Mordes angeklagt, aber die Wut bleibt groß, da der Polizist auch keinerlei schlechtes Gewissen zeigt. Die Polizisten behaupten, dass die Kugel, die Alexandros Grigoropoulos tötete, in Selbstverteidigung gefeuert wurde und der Tod ein Unfall war, der durch einen Querschläger verursacht wurde. Die Unruhen diese Woche werden als die Schlimmsten ihrer Art seit dem Ende der Militärdiktatur 1974 beschrieben und könnten die bereits geschwächte griechische Volkswirtschaft schätzungsweise Hunderte von Millionen Dollar kosten. Und sie haben die konservative Regierung erschüttert, die nur über eine knappe Eine-Mann-Mehrheit im Parlament verfügt. Die sozialistische Opposition hat den Premierminister aufgerufen, sein Amt niederzulegen und Neuwahlen auszurufen, und seine Appelle zur nationalen Solidarität ignoriert. Am Telefon habe ich jetzt einen studentischen Aktivisten und Journalisten aus Athen. Er ist Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei und studiert Politische Philosophie an der Panteion Universität in Athen. Willkommen bei „Demokratie jetzt!" . Können Sie uns erzählen, wie das alles begann, wie die Proteste eskaliert sind und worum es jetzt gerade geht, Nikos Lountos?
Nikos Lountos: Ja, Amy. Das will ich gerne tun. Wir befinden uns inmitten einer beispiellosen Aktions-, Protest-, und Streikwelle. Alles begann letzten Samstag abend um ungefähr 9 Uhr abends, als ein Polizist, der im Exarcheia-Viertel patrouillierte, den fünfzehn-jährigen Schüler Alexis kaltblütig erschoß. Zunächst einmal wurde versucht, das Verbrechen zu vertuschen. Die Polizisten behaupteten, sie seien angegriffen worden. Aber es gab viel zu viele Zeugen, die diese Behauptung widerlegen konnten. Alle Zeugen sagten, es sei ein direkter Schuss gewesen. Daher musste sogar die Regierung nach einigen Stunden einwilligen und gegen die Polizisten Schritte einleiten, um den Zorn zu besänftigen.
Aber die Wut machte sich in den Straßen Luft. Schon drei, vier Stunden später waren alle Straßen in Athen voller junger Leute, die gegen diese Polizeibrutalität demonstrierten. Die antikapitalistiche Linke besetzte die Jurafakultät im Zentrum von Athen und verwandelte sie in ein Aktionshauptquartier. Und am Sonntag gab es die erste Massendemonstration. Tausende von Menschen aus allen Altersgruppen marschierten Richtung Polizeipräsidium und Parlament. Und am nächsten Tag, am Montag, war daraus bereits eine wirkliche Massenbewegung in ganz Griechenland geworden.
Das Tollste war, dass buchstäblich in jedem Viertel und in allen griechischen Städten und Kleinstädten die Schüler am Montag ihre Schulen verließen. Man konnte Kinder im Alter von 11 bis 17 Jahren in den Straßen demonstrieren sehen, wo immer man sich in Griechenland befand, Zehntausende von Schülern, vielleicht Hunderttausende, wenn man alle Städte zusammennimmt. Mit anderen Worten, überall in Athen und in ganz Griechenland gab es bunte Demonstrationen von Schülerinnen und Schülern. Manche gingen zu den örtlichen Polizeistationen und stießen dort mit der Polizei zusammen, schmissen Steine und Flaschen. Und die Wut war so groß, dass sich die Polizisten in ihre Büros einschließen mussten, die von 13- und 14-jährigen Jungen und Mädchen umzingelt waren. Dieses Bild war so frappant, dass es einen Dominoeffekt produzierte. Die Lehrergewerkschaft beschloss einen Generalstreik für Dienstag. Die Gewerkschaft der Universitätsdozenten beschloss einen drei Tage langen Streik. Und dazu kam der bereits organisierte Streik, den Sie schon erwähnten, der Streik am Mittwoch gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung, also erweiterte sich der Prozess und erweitert sich weiter.
Nikos Lountos, wenn Sie diese Art Massenprotest sehen, selbst wenn der Anfang etwas so Persönliches ist wie der Mord an einem Schüler, letztendlich wird daraus so etwas wie ein Waldbrand in einem Wald, der bereits trocken ist und in den man ein brennendes Streichholz wirft; der Auslöser für einen Prozess, der da schon eine ganze Weile gegoren hat, oder nicht?
Ja, so ungefähr. Alle geben zu, dass sogar die Krawalle, die richtig heftigen Krawalle – Sie haben ja vielleicht die Bilder gesehen – ein soziales Phänomen waren, nicht nur das Ergebnis einer Art politischer Initiative. Es waren einfach Tausende von wütenden jungen Leuten, die raus auf die Straße kamen, um mit der Polizei zusammenzustoßen und dabei Bank-, Hotel- und Teuerlädenfenster zu zertrümmern. Also das stimmt schon. Es war eine Explosion, die nur darauf wartete, auszubrechen.
Ich denke, dahinter steht eine Mischung von Dingen. Wir haben eine Regierung, eine Regierung einer regierenden Partei, die Neue Demokratie heißt, die gelinde gesagt, sehr rechts ist. Sie hat schon viele Angriffe gegen die Werktätigen und die Studenten auf dem Gewissen, besonders gegen die Studenten. Als sie 2004 gewählt wurde, versuchte diese Regierung, die Universitäten zu privatisieren, die in Griechenland öffentlich sind, und versuchte, den Schülern, die zur Uni gehen wollten, mehr Hindernisse in den Weg zu legen. Die finanzielle Last auf arme Familien, die ihre Kinder studieren lasssen wollen, ist in Griechenland wirklich enorm. Und das Schlimmste ist, dass, selbst wenn man einen Universitätsabschluss hat, sogar wenn man Arzt oder Anwalt wird, junge Leute meist einen Lohn unter der griechischen Armutsgrenze erhalten. Also bleibt die Mehrzahl der jungen Leute in Griechenland bis in ihre späten 20er, sogar bis in ihre 30er bei ihren Familien, um mit dieser Unsicherheit fertigzuwerden. Und diese Mischung, zusammen mit der Wirtschaftskrise und ihrer instabilen, schwachen Bekämpfung durch die Regierung, das stand hinter dieser Explosion.
Nikos, es hat nicht nur Proteste in Griechenland gegeben, sondern auf der ganzen Welt – zum Beispiel in den Niederlanden, aber auch in Russland, Italien, Spanien und Dänemark und in Deutschland. Was bedeutet das den Arbeitern und Studenten in Griechenland? Hat das irgendeinen Einfluss? Hat das irgendetwas an den Protesten bei Ihnen geändert?
Das freut uns sehr, dass viele Leute auf der ganzen Welt uns ihre Solidarität zeigen. Und ich denke, es geht nicht nur um Solidarität, sondern es ist derselbe Kampf überall gegen Polizeibrutalität, gegen Krieg, gegen Armut und für Demokratie. Es ist derselbe Kampf. Daher tut uns das gut, darüber zu hören.
Ich denke, Sie sollten wissen, dass der nächste Donnerstag der nächste Aktionstag sein wird. Es wird jeden Tag Aktionen geben, aber der nächste Donnerstag wird der Tag für eine allgemeine Aktion sein. Die Studenten werden alle auf der Straße sein. Und wir versuchen, die Gewerkschaftsbosse zu zwingen, einen erneuten Generalstreik zu erklären. Also würde ich Menschen, die uns jetzt zuhören, sagen, dass der nächste Donnerstag ein ausgezeichneter Tag für Solidaritätsaktionen auf der ganzen Welt wäre, für die Umzingelung griechischer Botschaften und Konsulate, ganz allgemein, zum Auf-die-Straße-gehen und zum Ausdruck Eurer Solidarität mit unserem Kampf. Und ich bin sicher, die Werktätigen und Studenten in Griechenland werden das wirklich zu schätzen wissen.
Sagen Sie, wie ist es um die bürgerlichen Freiheiten im Allgemeinen in Griechenland bestellt? Hat es darüber in der Vergangenheit bereits Kontroversen gegeben?
Das kann man wohl sagen. Die Regierung ist fürchterlich, was die Bürgerrechte angeht. Das ging schon mit der Sicherheit anlässlich der Olympischen Spiele 2004 los, im Zusammenhang natürlich mit dem Krieg gegen den Terror, den George Bush begonnen hatte. Während dieser Olympischen Spiele wurden die ersten Videokameras in den Athener Straßen aufgestellt. Und neuerdings gibt es Beweise, dass viele Telefone abgehört wurden, unter anderem die Telefone der Anti-Kriegsbewegung hier in Griechenland, zum Beispiel die der Koordinatoren der "Stopt den Krieg-Koalition". Und dann kam der schlimmste Skandal von allen. 2005 wurden Dutzende von pakistanischen Immigranten von unbekannten Männern aus ihren Häusern entführt. Sie wurden unter Folter befragt und nach einigen Tagen in die Straßen von Athen geworfen. Die griechische Polizei hatte diese illegalen Entführungen zusammen mit dem britischen MI5 und in Zusammenarbeit mit der damaligen pakistanischen Regierung von Pervez Musharraf organisiert.
Während der Studentenbewegung und der Arbeiterstreiks, während aller dieser Jahre wurden hunderte Schlägereien und noch mehr Polizeibrutalität bemäntelt. Noch vor einem Monat wurde ein pakistanischer Immigrant namens Mohammed Ashraf vom Staatsschutz in Athen ermordet, als die Polizei eine Menge von Immigranten zerstreuen wollte, die auf ihre Grüne Karte warteteten. Und die Immigranten in Griechenland kommen im Allgemeinen aus Kriegsregionen – Irak, Afghanistan, Somalia, Pakistan. Und sie werden vom griechischen Staat und der griechischen Polizei sauschlecht behandelt und untergebracht. Viele Menschen sind durch Minen an den Grenzen oder im Ägäischen Meer umgekommen, als sie versuchten, nach Griechenland und dann nach Europa zu gelangen. Also, mit anderen Worten, ein superschlechtes Zeugnis für diese Regierung, was die Bürgerrechte angeht.
Nikos Lountos, um zum Schluß zu kommen, eines der Dinge, die wir auf unserer Reise von Schweden nach Deutschland erörtert haben, sind die Auswirkungen der US-Wahlen auf den Rest der Welt. In einem Augenblick werden wir mit dem Chefredakteur des "Spiegel" sprechen, der größten Wochenzeitschrift in Europa. Als Obama gewählt wurde, titelte dieses Magazin, „Neuer Weltpräsident". Was war die Auswirkung der Wahl von Barack Obama auf die Menschen, die Sie in Griechenland kennen? Was war deren Reaktion?
Nun, wissen sie, all diese Jahre haben wir hier in der Anti-Kriegs- und in der Studentenbewegung den Slogan gehabt, dass George Bush der Terrorist Nr. 1 ist. Also waren viele Leute glücklich, als sie hörten, dass nunmehr die Tage dieses George Bush und seiner republikanischen Falkenfreunde wie John McCain gezählt sind. Aber leider haben die Menschen in Griechenland die Erfahrung gemacht, dass eine andere Regierung zu haben, nicht automatisch bedeutet, dass die Dinge besser werden. Wenn die Regierung sich nicht wirklich mit ihrer Politik durchsetzt, wird der reine Personalwechsel auch nicht viel bewirken. Aber die Menschen haben den Wechsel in der US-Administration als Botschaft des Wandels auf der ganzen Welt willkommen geheißen.
Nikos Lountos, ich danke Ihnen sehr, dass Sie bei uns waren, Nikos Lountos ist griechischer Aktivist und Schriftsteller. Er ist Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei Griechenlands und Masterstudent in Politischer Philosophie an der Panteion Universität in Athen.
(Aus dem Englischen von Carla Krüger)
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