Am 20. September werden sogenannte Lebensschützer zu Tausenden mit ihren weißen Kreuzen durch Berlin ziehen. Sie mobilisieren bundesweit und kommen aus dem ultrakonservativen Spektrum des Katholizismus und Protestantismus. Mit dabei ist die Alternative für Deutschland (AfD), die soeben einen erschreckenden Wahlerfolg in Sachsen einheimsen konnte.
Diese Klerikalkonservativen stehen für einen umfassenden Angriff auf die Selbstbestimmung der Frau und aller, die ihr Leben nicht nach christlich-fundamentalistischen „Werten“ führen wollen. Bezüglich des Schwangerschaftsabbruchs und der vorgeburtlichen Diagnostik sind sie sich nicht zu schade, diese in die Nähe des Holocausts („Babycaust“) und der Euthanasie im Nationalsozialismus zu stellen. Sie betreiben „Gehsteigberatungen“ vor Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen, wo sie Frauen, die sich an diese Institutionen wenden, bedrängen, ihnen Bilder blutiger Föten zeigen und „Infomaterial“ und Plastikföten in die Hand drücken.
Sie wollen ein klerikales Regime des Mannes über die Frau im Rahmen der Kleinfamilie errichten. Sie verweigern deshalb auch Lesben, Schwulen und Trans*Personen das Recht auf Selbstbestimmung.
Das wahre Gesicht der Afd
Die Alternative für Deutschland hat sich in diesen Chor eingereiht. Schon im vergangenen Jahr marschierte die soeben ins Europaparlament gewählte protestantische Fundamentalistin Beatrix von Storch neben dem katholischen Fundamentalisten Martin Lohmann hinter dem Leittransparent. Nachdem die AfD sich im vergangenen Jahr noch hauptsächlich als Anti-Europa-Partei präsentiert hatte, beginnt sie inzwischen ihr wahres Gesicht zu zeigen: Die Bundessprecherin der AfD, Frauke Petry, tritt für die Verschärfung des Paragrafen 218 (Schwangerschaftsabbruch) ein, um „das Überleben des eigenen Volkes“ sicherzustellen (und entsprechend für die Schließung der Grenzen im Osten, gegen Zuwanderung und insbesondere gegen Muslime). Der stellvertretende Vorsitzende der Partei in Sachsen hetzte gegen Behinderte. Parteichef Lucke spricht von „Verfallserscheinungen“ bei Familie und Ehe und legt nahe, dass gleiche Rechte für Homosexuelle ein Angriff auf die Familie seien. Beatrix von Storch spricht von der „Schwulen-Lobby“ und vom „Gift der Genderideologie“, gegen die „Widerstand Pflicht“ sei.
Vielen mag es einfach nur bizarr erscheinen, wenn Nonnen, Priester und Familien mit großen Holzkreuzen durch die Stadt ziehen. Das wäre eine schwere Unterschätzung des Potenzials dieser rechten Mobilmachung. In Frankreich waren es Zehntausende, die mehrfach zusammen mit dem faschistischen Front National Anfang dieses Jahres gegen die Gleichstellung homosexueller Paare demonstrierten. In Spanien soll das Recht auf Schwangerschaftsabbruch faktisch abgeschafft werden, nachdem es erst im Jahr 2010 geschaffen wurde. In Irland ist ein Schwangerschaftsabbruch nur erlaubt, wenn das Leben der Frau in Gefahr ist. Dennoch wurde einer vergewaltigten und suizidgefährdeten Frau erst kürzlich ein Abbruch verweigert, der Fötus wurde in der 25. Woche per Kaiserschnitt aus ihrem Bauch geholt.
Paragraf 218: Widerstand seit 1871
Aber selbst in Deutschland ist der Paragraf 218 heute noch in das Strafrecht eingebettet und grundsätzlich eine Straftat, die nach Paragraf 218 a lediglich nur unter bestimmten Bedingungen wie einer Zwangsberatung und der Einhaltung einer 12-Wochen-Frist straflos bleibt (aber nicht legalisiert ist).
Seit Einführung des Paragrafen 218 im Jahr 1871 im Rahmen der Gründung des Deutschen Reichs hat es Widerstand gegen diesen Paragrafen gegeben. Frauen konnten mit bis zu fünf, Helfer mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus bestraft werden. Die erste große Bewegung, die von Arbeiterparteien, Sexualreformern und Feministinnen getragen war, erreichte in der Weimarer Republik einen Höhepunkt, als in der Kölner Messehalle im Mai 1931 15.000 Teilnehmer unter der Parole „Dein Körper gehört dir“ zusammenkamen.
Der Paragraf gegen die Armen
Die zweite große Bewegung kam im Rahmen der 1968er-Proteste auf und forderte erneut die Abschaffung des Paragrafen 218. In der Folge wurde das Gesetz in Westdeutschland im Jahr 1974 schließlich liberalisiert. (In der DDR gab es seit 1972 eine grundsätzlich straffreie „Fristenlösung“.)
Der Angriff auf das körperliche Selbstbestimmungsrecht der Frau ist in doppelter Hinsicht eine Klassenfrage: Der Paragraf 218 wurde schon im Kaiserreich als Klassenparagraf bezeichnet, weil er Frauen der Arbeiterklasse am schwersten traf, denn zusätzlich waren Verhütungsmittel verboten und schwer zugänglich. Frauen mussten zu selbstzerstörerischen Mitteln greifen oder zu „Engelmachern“ und „Kurpfuschern“ gehen, wenn sie aus blanker Not kein Kind austragen konnten, während wohlhabende Frauen ihren Hausarzt aufsuchen und mit genügend Geld einen sicheren Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen konnten. Das galt bis Anfang der 70er Jahre. Frauen, die es sich leisten konnten, reisten in das liberale Holland, wo ohne moralischen Druck und legal Abbrüche vorgenommen wurden. Frauen, die es sich nicht leisten konnten, mussten heimlich, schuld- und schambelastet eine Lösung im „Hinterzimmer“ mit allen gesundheitlichen Risiken suchen.
Darüber hinaus ist der Eingriff in das Recht auf Selbstbestimmung der Frauen so alt wie die Entstehung von Klassengesellschaften selbst, als deren Begleiterscheinung Frauen die ersten Opfer von Unterdrückung wurden. Jede Art der Unterdrückung ist auch ein Instrument der Spaltung der Arbeiterklasse. Männer sollen gegen Frauen, Heterosexuelle gegen Homosexuelle (Weiße gegen Schwarze, Inländer gegen Ausländer usw.) gesetzt werden, um eine gemeinsame Front gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu erschweren, zu sabotieren oder ganz zu verhindern.
Ein Trittbrett für Nazis
Ob es den christlichen Fundamentalisten gelingt, eine wachsende Kampagne gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht aufzubauen, kann uns deshalb nicht gleichgültig sein. Es ist nicht Sache der Frauen oder Sache der LGBT-Leute allein, sich zu wehren. Eine wachsende reaktionäre Straßenbewegung stellt eine noch viel übergreifendere Gefahr dar. Sie beginnt bereits jetzt zum Trittbrett für Nazis zu werden, die AfD selbst reicht in den rechtsradikalen Sumpf hinein. Je größer dieser Fundamentalistenaufmarsch, desto größer auch die Versuchung bei bürgerlichen Parteien, ihnen hinterherzuhecheln und auf diese Weise einen neuen Angriff auf die Rechte von Frauen und LGBT samt der frauenfeindlichen, homophoben und rassistischen Fundamentalistenbewegung politik- und gesellschaftsfähig zu machen. Ohnehin haben hochrangige CDU/CSU-Politiker und Kirchenvertreter schon in den vergangenen Jahren Grußbotschaften geschickt und erlauben den Aufmarsch in der Bannmeile nahe dem Reichstag.
Deshalb gehört die Mobilisierung für sexuelle Selbstbestimmung und gegen christlichen Fundamentalismus in Streik- wie Mietenbündnisse, Antifa- wie Palästinabewegung. Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung in Berlin ruft zu einer Gegenkundgebung auf. ★
Unterzeichnet als Unterstützer und kommt am 20. September um 13 Uhr zum Brandenburger Tor!
Foto: alias URBAN ARTefakte
Schlagwörter: Abtreibung, Abtreibungsgegner, AfD, Alternative für Deutschland, Berlin, Demonstration, Lebensschützer