Was tun wenn die Bosse angreifen? 1936 besetzten Autoarbeiter von General Motors ihr Werk in Flint in den USA. Mit der Taktik der Werksbesetzung zwangen sie das Management von GM in die Knie. Aus diesem Kampf können auch Lehren für heute gezogen werden, meint Sadie Robinson.
Die Arbeiter hatten Sitz-Streiks und Besetzungen bereits in der Vergangenheit organisiert. Diese Waffe wurde aber erst während der systematischen Angriffe auf Löhne und Arbeitsbedingungen während der 1930er Jahre zu einem Schlüsselinstrument in Arbeiterkämpfen. Unmittelbarer Anlass in Flint waren Gerüchte, wonach das Management die Verlagerung von Ausrüstung in andere, gewerkschaftlich weniger gut organisierte Werke plane. Ihre Initiative war zugleich Teil eines umfassenderen Kampfes zur Bildung einer gewerkschaftlichen Vertretung in der gesamten Autoindustrie. Die Ausgangsbedingungen für ihre Aktion waren schwierig.
»Wenn du die Tore von General Motors passierst, solltest du die Verfassung der Vereinigten Staaten lieber vergessen«, war ein bekannter Spruch aus der Zeit. Es ist nicht schwer zu verstehen warum. Die Werke von GM waren berüchtigt für ihre Praktiken der »Temposteigerung«. Ein Augenzeuge beschrieb die Arbeitsbedingungen mit folgenden Worten: »Die Männer arbeiten wie Fanatiker, ihre Lippen gepresst und Feuer in ihren Augen. Für sie existiert Nichts außer dem Fließband mit seiner endlosen Kette von Chassis, die auf sie erbarmungslos zu steuern.« Die Vorarbeiter hatten die Macht, Arbeiter aus jedem nichtigen Anlass und gar ohne Anlass zu feuern. Die Arbeiter waren allerdings in der Zwickmühle. Die Bedingungen bei GM waren schrecklich, es gab aber die ständige Angst vor dem, was einen draußen erwartete, sollte man rausgeworfen werden. Flint hatte eine Gesamtbevölkerung von 146.000, 44.000 von ihnen arbeiteten bei GM. Nicht nur ihre Familien waren von ihnen abhängig, die gesamte Stadt war es für ihre Lebensmitteleinkäufe und sonstigen Ausgaben.
GM war nicht nur der bedeutendste Arbeitgeber – sie hatte die Stadt regelrecht in der Hand. Die wichtigste Tageszeitung und die Radiostationen waren unter ihrer Kontrolle und sie hatte eine eigene Polizei. Alle Amtsinhaber, einschließlich des Bürgermeisters, des Polizeichefs und der Richter, waren GM-Angestellte oder besaßen Anteile an GM. Irving King, ehemaliger GM-Arbeiter, erinnert sich: »In dieser Stadt, wohl flächendeckend, war ihre Autorität unangefochten. Und sogar als unser Streik endlich im Gange war, glaubte nicht mal jeder vierte unter uns, dass GM besiegt werden könne.«
Organisation
Die Automobilarbeitergewerkschaft United Automobile Workers of America (UAW) wurde 1936 gegründet. Es war Teil einer landesweiten Welle der gewerkschaftlichen Organisierung. Bis dahin galten die Automobilarbeiter als nicht organisierbar. Flint und andere Kämpfe zeigten, dass dieser Glaube nicht fundiert war. GM-Arbeiter, die sich für die gewerkschaftliche Organisierung einsetzten, riskierten ihren Job und sogar ihr Leben. Das Unternehmen ließ Nichts unversucht, um die Arbeiter daran zu hindern, sich zu organisieren. Die Bosse heuerten Lippenleser an, um herauszufinden, ob Arbeiter sich über die Gewerkschaft austauschten. Arbeiter, die ein Gewerkschaftsabzeichen trugen, wurden gefeuert.
Das Unternehmen gab zwischen Januar und Juni 1936 fast eine Million Dollar allein für Spitzel aus. Es hatte mehr Tränengas und andere Unruhebekämpfungsmittel als alle anderen US-amerikanischen Städte zusammengenommen. GM heuerte Schläger an, um Arbeiter zu vermöbeln, die sie verdächtigte, eine Gewerkschaft organisieren zu wollen. Die Besetzungen zeugen vom großen Mut der Arbeiter angesichts dieser Repression.
Der Sitzstreik bei Flint begann am 30. Dezember 1936. Als Erstes sicherten die Arbeiter das Werk. Sie bauten Barrikaden an allen Eingängen auf und versiegelten die Fenster mit kugelsicheren Stahlplatten. Sie stellten Farbpistolen überall im Werk auf, um etwaige Eindringlinge zurückzudrängen. Dann hielten die Arbeiter eine Massenversammlung ab und wählten Komitees für die Streikführung. Von da an hielten sie täglich zwei Vollversammlungen aller Arbeiter des gesamten Werks ab. Sie schufen ihre eigene Gemeinschaft. Die Organisierung außerhalb des Werks war genau so wichtig wie die innerhalb. Lebensmittel waren ganz zentral – tausende Menschen drinnen und draußen mussten täglich ernährt werden. Jeden Tag mussten 500 Pfund Fleisch, 100 Pfund Kartoffeln, 300 Laibe Brot, 100 Pfund Kaffee, 200 Pfund Zucker und 120 Liter Milch herangeschafft werden. Busfahrer waren für die Lebensmitteltransporte zuständig, womit sie die ihnen erwiesene Solidarität während ihres eigenen Streiks zurückzahlten. Andere Arbeitergruppen beteiligten sich ebenfalls an der Solidaritätsarbeit.
Ein Problem, wogegen die Streikenden anzukämpfen hatten, war die Langeweile. Viele Menschen zeigten ihre Solidarität auf kulturellem Gebiet. Das Detroit Contemporary Theatre veranstaltete Theateraufführungen und ein Student der University of Michigan organisierte eine Schreibwerkstatt. Charlie Chaplin spendete seinen Film »Moderne Zeiten« und Arbeiter organisierten Filmaufführungen. Sie schrieben Gedichte und Lieder und führten Theaterstücke auf, in denen sie die GM-Bosse verspotteten. Frauen spielten eine Schlüsselrolle im Streik. Die Sozialistin und Aktivistin Genora Dollinger gründete ein Frauenwerk, um auf den Streikposten auszuhelfen und die Solidarität zu verbreiten. In der Schlacht von Bulls Run (Stierlauf) am 11. Januar griffen die GM-Schläger und die Polizei die Streikenden mit Tränengas an und schossen in die demonstrierende Menge.
Kampf
Es folgte ein lang andauernder Kampf. Der Wendepunkt kam, als Genora den Lautsprecherwagen der Gewerkschaft benutzte, um die Frauen aus der Zuschauermenge direkt anzusprechen: »Brecht durch die Polizeiketten durch und kommt hierher, um euren Männern und Brüdern, euren Onkeln und Liebhabern beizustehen.« Die Frauen begannen, die Polizeiketten zur Seite zu schieben und die Straße runter auf die Streikposten zu zu marschieren. Die Polizei war gezwungen zu weichen und die Schlacht war gewonnen. Die Frauennotbrigade wurde gegründet, damit die Frauen in jede aufkommende Auseinandersetzung intervenieren konnten.
GM gründete ihrerseits eine Streikbrecherorganisation, die Flintallianz, die sie für eine Zurück-zur-Arbeit-Kampagne einzusetzen versuchte. Der Gouverneur von Flint, Frank Murphy, rief beide Seiten zu Gesprächen am 13. Januar auf und GM sagte zu, mit der UAW auf Bundesebene verhandeln zu wollen. Nach langer Debatte, was der nächste Schritt sein sollte, begannen die Arbeiter mit ersten Vorbereitungen, ihre Besetzung zu beenden.
Dann entdeckten sie, dass GM mit der Flintallianz verhandeln wollte. Die Gewerkschaft stoppte daraufhin die Räumung, während die Arbeiter die neue Lage besprachen. Sie beschlossen, drin zu bleiben – was ihre Unterstützer draußen mit großem Applaus begrüßten. Die Gewerkschaften argumentierten, dass Präsident Franklin D. Roosevelt GM zwingen sollte, Kollektivverhandlungen aufzunehmen – er weigerte sich. Mitte Januar war eine Pattsituation entstanden. Die eine oder die andere Seite musste die Lage eskalieren lassen. Die Arbeiterseite ergriff die Initiative.
Chevrolet Werk 4 war die größte GM-Einheit. Hier wurden die Motoren hergestellt. Sie war schwer bewacht. Die Arbeiter entwickelten den Plan, dieses Werk einzunehmen. Dafür setzten sie die GM-eigenen Spitzel gegen das Unternehmen ein. Sie hielten eine »geheime« Sitzung ab, auf der sie die Schließung des Werks 9 beschlossen. Die Informanten erzählten den GM-Bossen davon, die daraufhin ihre gesamten Kräfte vor Werk 9 versammelten und Werk 4 schutzlos hinterließen. Die Polizei griff die vor Werk 9 versammelten Streikpostenketten brutal an und schoss mit Tränengas auf die Arbeiter im Werk. Währenddessen nutzten andere Arbeiter die Gunst der Stunde, um Werk 4 einzunehmen.
Rückzieher
GM wurde am 4. Februar an den Verhandlungstisch gezwungen, nachdem sie zuvor jegliche Gespräche ausgeschlossen hatte, solange die Besetzung anhielt. Dann erwirkte GM eine einstweilige Verfügung gegen die Besetzung, und alle waren auf das Schlimmste gefasst. Menschen von außerhalb kamen in die Stadt, um die Besetzung zu schützen.
So viele Arbeiter aus umliegenden Städten kamen, um die Flint-Arbeiter zu schützen, dass ganze Werke die Arbeit einstellen mussten. 10.000 Arbeiter der Dodge- und Chrysler-Werke in Detroit waren da. Insgesamt standen 20.000 Menschen dicht an dicht vor den Werkstoren in Flint. GM kapitulierte schließlich am 11. Februar 1937. Sie unterzeichnete ein Abkommen, das die UAW als gewerkschaftliche Vertreterin der Arbeiter anerkannte. Die siegreichen Arbeiter marschierten aus dem Werk und führten einen Demozug an, dem sich tausende Menschen anschlossen. Die drei Kilometer lange Demoroute führte quer durch die Stadt. 1936 kontrollierte GM 43 Prozent der Automobilproduktion. GM war größer als Ford und Chrysler zusammengenommen. Dennoch war es den Arbeitern gelungen, ihr eine demütigende Niederlage beizufügen.
Manche Arbeiter überkam ein seltsames Gefühl beim Verlassen des Werks nach 44 Tagen Besetzung. John Thrasher erinnert sich: »Nachdem die Euphorie über unseren ersten gewerkschaftlichen Sieg verflogen war, versank die Mannschaft ins Grübeln über den Gedanken, die stille Fabrik zu verlassen. »Man ertappte sich beim Gedanken, wie das Leben zu Hause sein würde. Alles, was vor dem Streik stattgefunden hatte, schien unwirklich zu sein. Es ist, als ob die Zeitrechnung überhaupt erst mit dem Streik begonnen hatte.« Die Menschen waren nach dem Streik wie verändert. »Der Autobauer war ein neuer Mensch«, sagte Genora. »Die Frauen, die sich aktiv beteiligt hatten, bildeten einen neuen Frauentypus, sie hatten Vertrauen in sich selbst und liefen mit erhobenem Haupt.Die gesamte Stadt hatte ein anderes Aussehen.« Die Vorarbeiter, die es gewohnt waren, mit Drohungen die Arbeiter einzuschüchtern, liefen auf einmal auf Eierschalen. Die Arbeiter hatten ihre Angst abgeschüttelt. Mit Hilfe ihrer Gewerkschaft erklommen die Arbeiter weitere Gipfel. In der darauf folgenden beiden Wochen fanden in Detroit allein 87 Sitzstreiks statt. Im ganzen Bundesgebiet strömten Arbeiter in die Gewerkschaften.
Nach der Besetzung gestand GM-Präsident Alfred Sloan, dass »das Unternehmen machtlos dastand«, nachdem sich die Arbeiter dazu entschlossen hatten, das Gesetz zu ignorieren. Einer der Besetzer formulierte das so: »Jetzt wissen wir, dass unsere Arbeit wichtiger ist als das Geld der Aktienbesitzer, als die Zockerei an der Börse von Wall Street, als das ganze Getue der Manager und Vorarbeiter.« Solche militanten Aktionen mögen in der heutigen Zeit nicht mehr vorstellbar erscheinen. Der Kampf von Flint ist aber kein bloßer Geschichtsunterricht. Heute greifen immer mehr Arbeiter auf das Mittel der Betriebsbesetzung zurück. Die Lehren von Flint sind eine wichtige Quelle, wie der Kampf gewonnen werden kann.
Mehr im Internet:
Infos und Augenzeugenberichte unter: www.historicalvoices.org/flint.
Aus dem Englischen von David Paenson.