Chris Harman, Chefredakteur des Magazins International Socialism und zuvor viele Jahre der Wochenzeitung Socialist Worker, starb in der Nacht vom 6./7. November an einem Herzinfarkt. Ein Nachruf von Alex Callinicos.
Chris ging aus der politischen Radikalisierung Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre als der herausragende Marxist in Großbritannien hervor. Sein grundlegender intellektueller Beitrag erstreckte sich über ein verblüffendes Spektrum von Themen. Aber ganz in der Tradition von Marx, Engels, Lenin und Trotzki, Luxemburg und Gramsci war er ein professioneller Revolutionär, der sein Leben dem Aufbau der Socialist Workers Party (SWP) widmete.
Geboren im Jahr 1942 schloss Chris sich als Schüler in Watford der Socialist Review Group an, der Vorgängerin der International Socialists (IS), die später zur SWP wurde. Nach seinem Studium an der Universität Leeds von 1962 bis 1965 ging er für ein Promotionsstudium an die London School of Economics (LSE). In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre war das LSE das Auge des Sturms in der Studentenbewegung Großbritanniens. Chris wurde führender LSE-Aktivist und gab seine wissenschaftliche Karriere auf. Seitdem arbeitete er Vollzeit für die IS, anfangs als Chefredakteur des Theoriemagazins International Socialism und Journalist für die Wochenzeitung Socialist Worker. Chris gab den Socialist Worker von 1975 bis 1977 heraus und erneut von 1982 bis 2004. In seiner letzten, sehr produktiven Arbeitsperiode war er wieder Chefredakteur von International Socialism.
Leistungen
Zehntausende junger Menschen trafen Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre eine ähnliche Entscheidung wie Chris. Aber sehr viel weniger blieben diesem Weg noch treu, nachdem die Revolte Mitte der 1970er Jahre abzuflauen begann. Chris dagegen blieb nicht nur dabei, sondern begann bereits mit Anfang zwanzig in seinen Schriften einen revolutionären Marxismus als Wegweiser durch die Komplexitäten und Wirrungen der letzten Jahrzehnte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts zu entwickeln. Tony Cliff, der Begründer der IS-Tradition, stattete Chris mit dem theoretischen Rüstzeug aus. Cliffs Analyse der Sowjetunion und der anderen »sozialistischen« Länder als bürokratische Staatskapitalismen erlaubten die Fortsetzung des revolutionären Marxismus als lebendige Tradition.
Auf dieser Grundlage – so demonstrierte Chris – konnte Marx' Vorstellung von Sozialismus als Selbstbefreiung der Arbeiterklasse weiterhin von Bedeutung sein. Aufbauend auf Cliffs Leistungen erweiterte Chris die Bandbreite und Tiefe der marxistischen Theorie auf vielen, sehr unterschiedlichen Gebieten. Insgesamt war seine Arbeit von höchster Qualität, stützte sich auf gründlichste Forschung und rigorose wie schöpferische Analyse. Das Folgende kann leider eine nur unzureichende Zusammenfassung seiner Arbeit darstellen:
Zuallererst entwickelte Chris die Analyse des Stalinismus von Tony Cliff weiter. In seinem ersten Buch, »Bureaucracy and Revolution in Eastern Europe« von 1974, wiederveröffentlicht unter dem Titel »Class Struggles in Eastern Europe«, untersuchte er die instabile und konfliktbehaftete Geschichte der staatskapitalistischen Regime nach 1945. Aber schon vorher hatte Chris aufgezeigt, wie Versuche, die stalinistischen Regime von oben zu reformieren, eine Dynamik freisetzen konnten, die die Möglichkeit eines revolutionären Umsturzes von unten eröffnete. Eben diese Logik führte vor zwanzig Jahren zum Sturz des Stalinismus.
In »Poland: Crisis of State Capitalism« (1976/77) erahnte er dieses Ende. Er untersuchte, wie die sogenannten sozialistischen Länder in den globalen kapitalistischen Rhythmus von Handel und Verschuldung gezogen wurden. Er bezeichnete in »The Storm Breaks« (1990) den Sturz der Regime als »Schritt zur Seite«, von Staatskapitalismus zu Privatkapitalismus. Chris' Fähigkeiten als Historiker zeigten sich zum ersten Mal in ihrer ganzen Breite in der überzeugenden Darstellung der Arbeiterrevolten in seinem Buch »Bureaucracy and Revolution«. Dann setzte er sich in »Die verlorene Revolution. Deutschland 1918-1923« (1982) mit der Deutschen Revolution auseinander, und mit dem Bewegungsaufschwung Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre in »1968 – Eine Welt in Aufruhr«.
Chris schrieb auch wichtige Abhandlungen über marxistische Theorie und Geschichte. Ein absoluter Höhepunkt seiner historischen Veröffentlichungen ist das Buch »People's History of the World« (1999). Eine marxistische Darstellung der Geschichte der Menschheit. Ein großer Erfolg vor allem, seit der englische Verlag Verso es neu herausgebracht hat. Eine der Stärken des Buchs liegt in der kenntnisreichen Darstellung der »primitiven« Gesellschaften. Anlässlich der in den 1970er Jahren tobenden Debatten über die Frage der Frauenbefreiung begann Chris sich mit der anthropologischen Forschung über diese Gesellschaften gründlich auseinanderzusetzen.
Für ihn zeigte sie, dass Männer und Frauen in Gleichheit leben konnten, wenn erst einmal die Klassengesellschaft mit ihrer Ausbeutung gestürzt war. Das war typisch für Chris' Arbeitsweise. Er interessierte sich normalerweise für bestimmte Fragen nicht um des Themas selbst willen, sondern um in eine politische Debatte einzugreifen. Der Text »Politischer Islam – eine marxistische Analyse« war deshalb ebenfalls eine Pionierarbeit, die Sozialisten als Rüstzeug für die Debatten und Kämpfe nach dem 11. September 2001 diente.
Einige von Chris' wichtigsten Schriften widmeten sich unmittelbar den Fragen der revolutionären Strategie und Taktik. Ein herausragender früher Aufsatz, »Partei und Klasse« von 1968, war ursprünglich ein internes Parteidokument, mit dem die radikalisierten Studenten, die sich um die IS gesammelt hatten, von der Notwendigkeit des Aufbaus einer leninistischen Avantgardepartei überzeugt werden sollten. Mitte der 1970er Jahre, zu einer Zeit wachsender Konfusion in der europäischen radikalen Linken, griff Chris entscheidend in die aufkommenden Bewegungen und Diskussionen ein, vor allem während der portugiesischen Revolution von 1974/75, und wandte sich gegen den Versuch, Antonio Gramsci in einen Theoretiker des Reformismus zu verwandeln.
Dasselbe Bedürfnis, politische Richtung zu geben, stand hinter einem letzten und wesentlichen Bereich von Chris' Arbeiten: der Analyse des Kapitalismus selbst. Sein tiefes und originäres Verständnis marxistischer politischer Ökonomie hatte sich schon in einem brillanten Beitrag zu einer Debatte Ende der 1960er Jahre mit Ernest Mandel, dem Führer der Vierten Internationale, gezeigt. In einer Artikelsammlung, die unter dem Titel »Explaining the Crisis« 1983 als Buch erschien, stützte er sich auf eine frühere Arbeit von Mike Kidron. Kidron hatte nachgewiesen, dass ein hohes Niveau von Rüstungsausgaben den Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg vorübergehend stabilisiert hatte.
Chris erweiterte diese Analyse nun, um die Rückkehr großer Krisen im System ab Ende der 1960er Jahre zu erklären. Zu einer Zeit, da die marxistische Ökonomie an den Universitäten in der Krise war, bewies er die fortgesetzte Bedeutung von Marx' Versuch, die Bewegungsgesetze des Kapitalismus zu verstehen. Chris schrieb weiterhin über politische Ökonomie in späteren Jahrzehnten, aber erst in den letzten Jahren kehrte er mit größerer Tiefe zu dem Thema zurück. In einem sich ausweitenden Dialog mit anderen führenden marxistischen Wirtschaftswissenschaftlern arbeitete er an dem Buch »Zombie Capitalism«, das Anfang dieses Jahres veröffentlicht wurde. Es handelt sich um eine ausgezeichnete Studie, in der Chris die gegenwärtige Krise in den Kontext von Geschichte und Dynamik des Kapitalismus insgesamt setzt.
Engagement
Schon ein Bruchteil seiner Leistungen hätten vielen eine akademische Karriere verschafft. Chris produzierte all dies und noch viel mehr nicht um der Annehmlichkeiten und des Ansehens der universitären Karriere willen, sondern als unterbezahlter Vollzeitangestellter der SWP. Eine besondere Rolle in der Partei spielte er als Chefredakteur von Socialist Worker, nachdem er die Zeitung Anfang der 1980er Jahre erneut übernommen hatte, in einer Zeit großer Desorientierung für die Linke. Chris steuerte das Blatt durch die verheerenden Thatcher-Jahre – die vor allem durch das große Drama des verlorenen Bergarbeiterstreiks von 1984/85 gekennzeichnet waren – und die Flaute der 1990er Jahre bis zur neu aufkommenden Radikalisierung der antikapitalistischen und Antikriegsbewegungen im vergangenen Jahrzehnt.
Chris verbarg seine außerordentlichen Fähigkeiten und Leistungen hinter einem schüchternen Äußeren. Er hatte nicht die geringste Überheblichkeit an sich. Aber er blieb ein Vorbild revolutionärer Integrität und Hingabe. Er setzte einen eigenen Kontrapunkt gegen die selbstgefällige Nostalgie der kürzlich in Erinnerung an die Kämpfe am LSE in den 1960er Jahren Versammelten, indem er verkündete, dass er jetzt als Rentner mehr Zeit für Aktivitäten habe. Es gehört zu den Grausamkeiten des Lebens, dass Chris des glücklichen und produktiven Alterslebens beraubt wurde, das er mit Fug und Recht erwarten konnte. Er wird in seinen Schriften und dem politischen Erbe, das er der SWP und ihren Schwesterorganisationen der International Socialist Tendency hinterlassen hat, weiterleben.
Das kann über den schrecklichen Verlust, den sein Tod bedeutet, nicht hinwegtrösten – vor allem für seine Partnerin Talat und seine Kinder Seth und Sinead, aber auch für den viel größeren Kreis, mit dem er in Berührung kam. Ich und Chris kannten uns über 35 Jahre – persönlich habe ich einen Genossen, Freund und Lehrer verloren. Dies ist der Moment zu trauern ehe wir – wie Chris es erwarten würde – den Kampf wieder aufnehmen.