Am 20. September marschierten ultrarechte sogenannte »Lebensschützer« mitten durch Berlin. Daraus könnte eine organisierte Bewegung und Partei entstehen.
Die Kampagne zeigt, dass es sich keineswegs nur um harmlose ‚Spinner‘ handelt, sondern um eine Bewegung, die auf professionelle Lobbyarbeit und eine breite gesellschaftliche Verankerung setzt. Angesichts dessen erscheint die geringe Beteiligung an den Gegenprotesten der vergangenen Jahre in Berlin alarmierend. Hier zeigt sich, dass die zunehmende gesellschaftliche Einflussnahme der reaktionären Bewegung unterschätzt wird (Netz gegen Nazis)
Vielen mag es einfach nur bizarr erscheinen, wenn Nonnen, Priester und Familien mit großen Holzkreuzen durch die Stadt ziehen. Das wäre eine schwere Unterschätzung des Potenzials dieser rechten Mobilmachung (marx21.de)
Am 20. September marschierten zum 10. Mal ultrarechte sogenannte Lebensschützer aus dem katholischen und protestantischen Spektrum und von der AfD triumphalistisch mitten durch Berlin. Im Jahr 2012 waren es 3.000, im vergangenen Jahr 4.500, in diesem mindestens 5.000. Der Sender rbb aktuell spricht von 6.000. Es ist somit den Klerikalen gelungen, jährlich mehr Anhänger bundesweit zu mobilisieren. Die katholischen und protestantischen fundamentalistischen Portale wie kath.net oder idea und die nazinahe Junge Freiheit zeigen sich sehr zufrieden.
Am selben Tag fand der „Marsch fürs Läbe“ in Zürich mit etwa 2.500 Teilnehmern statt, wie die Website „Freie Welt“ erfreut berichtet. Die „Freie Welt“ wird von dem Ehemann Beatrix von Storchs, die für die AfD im Europaparlament sitzt, betrieben.
Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung (BfsS) und das Bündnis „‚Marsch für das Leben‘: What the fuck“ (WTF) konnten in diesem Jahr sehr viel mehr Gegner dieses Marschs zu Protesten mobilisieren und das Thema bekannter machen. Im Jahr 2013 waren wir etwa 300, diesmal insgesamt etwa 1.500 Demonstrantinnen und Demonstranten.
Die Gegenkundgebung war sehr internationalistisch mit einer spanischen, einer polnischen und einer irischen Rednerin. In Spanien wollte die konservative Regierung die erst im Jahr 2010 erfolgte gesetzliche Liberalisierung abschaffen – und hat soeben nach massiven Protesten einen Rückzieher gemacht. In Polen gab es im Jahr 1993 einen schweren Rückschlag für das Recht der Frauen auf Schwangerschaftsabbruch, in Irland herrscht bis heute eine äußerst repressive Gesetzgebung.
Es gab dieses Jahr Versuche, den Klerikalenmarsch zu stoppen. Mehrere hundert Teilnehmer des Bündnisses WTF haben sich immer wieder vor den Kreuzezug gesetzt und den Marsch behindert. Das massive Aufgebot an Polizei hat die „Lebensschützer“ aber letztendlich zu ihrem Ziel am Berliner Dom geleitet.
Dieser Marsch wird am 19. September 2015 wieder stattfinden. Der Termin des Samstags kurz vor oder nach dem Weltkindertag (in Deutschland am 20. September) ist auf Jahre gebucht. Die europaweite gesellschaftliche Dynamik deutet darauf hin, dass die Christenfundamentalisten im Verein mit der AfD und möglicher Nazibeteiligung größere Anziehungskraft gewinnen und Druck auf die bürgerliche Politik ausüben werden. Schon in der Frage des Rassismus der AfD können wir sehen, wie CDU/CSU, sogar SPD und Teile der Grünen versuchen, bei der nach rechts gerutschten Wählerschaft mitzuhalten (siehe „Kompromiss“ bezüglich der „sicheren Herkunftsländer“ in Osteuropa, was insbesondere Roma trifft).
Die Vergangenheit und die Zukunft
In Polen begann im Jahr 1992 die Kampagne rechter Kräfte, vor allem der katholischen Kirche, und sogar der Ärzteschaft gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch:
»Ohne ein Abtreibungsgesetz durchzupeitschen, erreichten die polnischen Fundamentalisten, dass seit einigen Tagen Abtreibung in Polen fast unmöglich ist: Auf einem sehr fragwürdigen Weg hat die polnische Ärztekammer einen »Kodex der ärztlichen Ethik« verabschiedet. Einem Arzt, der sich diesem Recht nicht unterordnet, droht ein Verfahren vor einem Ärztekollegium.
Proteste und Mahnungen der mäßigen Politiker und Publizisten helfen nicht, die Kirche und die regierende national-christliche Partei haben aus dem weiblichen Körper ein Schlachtfeld der übelsten Politik gemacht.« (taz.de)
Im folgenden Jahr wurde mit einem Federstrich das im Jahr 1956 erlassene liberale Abtreibungsrecht gekippt, trotz einer breiten Ablehnung in der Bevölkerung. Die katholische Kirche und die Politik konnten sich darüber hinwegsetzen, weil keine signifikante Protestbewegung entstand beziehungsweise aufgebaut wurde. Im Gegenteil wagte es „kaum einer der Oppositionellen, die den Realsozialisten so mutig die Stirne geboten hatten, für das Recht auf Abbruch der Schwangerschaft einzutreten“.
Heute ist der Abbruch illegal. Und im Verlauf von 20 Jahren der Vermittlung reaktionärer Ideologien an Schulen und in Medien hat es einen deutlichen Stimmungsumschwung gegeben. Ellisiv Rognlien von der Bewegung für soziale Gerechtigkeit in Polen, sagt:
»Heute ist ein größerer Teil der Bevölkerung gegen das Recht auf Selbstbestimmung. Die Sprache der Abtreibungsgegner beherrscht die öffentliche Debatte. Sie sprechen von ungeborenen Kindern, nicht von Föten, sie sprechen von der Tötung von Kindern, nicht einem Schwangerschaftsabbruch, sie sprechen von Mördern, Mörderinnen und sogar vom Holocaust. Frauen, die verantwortungsbewusst über ihren Körper und ihr Leben bestimmen, werden verteufelt.« (sexuelle-selbstbestimmung.de)
Es zeigt sich also, dass sich herrschende Ideologie nach einem erfolgreichen Rückschlag gegen erkämpfte Errungenschaften umso stärker verankern kann und es sehr viel schwieriger wird, einen Neuaufbruch zu organisieren.
Der Zeit der Frauenemanzipation vor und während des Zweiten Weltkriegs in den USA, als aufgrund der Kriegswirtschaft Frauen verstärkt in den Arbeitsmarkt der Rüstungswirtschaft gezogen, zum ersten Mal in großer Zahl ökonomisch unabhängig wurden und eigene Lebensentwürfe entwickeln konnten, folgte der Rückschlag in Form des McCarthyismus. Der neue Kleinfamilienkonservativismus mit der Frau als Mutter im Haushalt war begleitet von Hexenjagd auf Homosexuelle und Linke und von scharfem Antikommunismus. Die konservative Familienideologie, die die 50er und einen Großteil der 60er Jahre beherrschte und von der die Mehrheit geprägt war, wurde erst durch die breite 68er Bewegung langsam wieder aufgebrochen.
Besonders offensichtlich aber war die Verbindung von Spaltung der Gesellschaft und Schwächung von progressiver Bewegung und Widerstand mittels Frauenunterdrückung im Iran 1979:
Als die Diktatur des Schahs im Iran durch eine Massenbewegung, die insbesondere in den Fabriken der Ölindustrie revolutionäre Züge annahm, gestürzt war, machten sich die Mullahs, die sich unter Ajatollah Chomeini an die Spitze der Bewegung setzen konnten, daran, diese aktive Basis und insbesondere die Arbeiterklasse wieder zurückzudrängen. Sie taten das, indem sie als Erstes die Frauenrechte angriffen:
„Am 26. Februar 1979 leitete das Chomeiniregime eine Offensive gegen die Frauen ein, indem es das ohnehin geringe Rechte gewährende Reformgesetz des Schahs zum Schutz der Familie aufhob. Chomeini gab das exklusive Scheidungsrecht den Ehemännern wieder zurück und erlaubte ihnen zugleich, sich vier Ehefrauen auf Dauer und eine unbegrenzte Zahl von vorübergehenden Ehefrauen […] zu nehmen. Wenige Tage später, am 3. März, wurde den Richterinnen die Ausübung ihres Berufs untersagt […]. Am 6. März ließ das Verteidigungsministerium Frauen aus dem Militärdienst entfernen […]. Und am 7. März verkündete Chomeini, dass es zwar kein generelles Arbeitsverbot für Frauen geben werde, sie aber den islamischen Schleier (Hidschab) tragen müssten.
Als Millionen Frauen am nächsten Tag den Internationalen Frauentag feierten und gegen die frauenfeindlichen islamischen Gesetze protestierten, griffen Schläger der Hisbollah, der „Partei Gottes“, Frauen mit Steinen an, und islamische Fundamentalisten […] eröffneten das Feuer auf Demonstrantinnen. Tag für Tag, eine ganze Woche lang, gingen mehrere Millionen Frauen auf die Straße, um gegen Chomeinis islamische Gesetze, die jeden Bereich ihres Lebens berührten, zu protestieren. Die iranische Linke unternahm keinen Versuch, Solidarität für die Frauensache unter den Arbeitern zu organisieren […]. Einige argumentierten sogar, dass die Forderungen der Frauen „bürgerlich“ und deshalb nicht zu unterstützen seien. […]
Nach den Frauen waren die nationalen Minderheiten an der Reihe. Am 18. März wurden kurdische Dörfer zerbombt, weil sie das nationale Selbstbestimmungsrecht gefordert und Land der Großgrundbesitzer beschlagnahmt hatten. Am 29. März eröffneten die Truppen das Feuer auf turkmenische Bauern in Gonbadkawus, weil auch sie Land genommen hatten“ (Mariam Poya)
Die Niederlage der iranischen Revolution wurde mit der Niederlage der Frauen eingeleitet. Die Frauenfrage erwies sich so auf Leben und Tod als Klassenfrage. Das sollte Marxisten eine Lehre sein.
Krise und Ideologie
Leo Trotzki, der russische Revolutionär, sprach mit Blick auf den Aufstieg der Nazis in den 30er Jahren von der „konterrevolutionären“ Verzweiflung im Gegensatz zur „revolutionären Hoffnung“, die das Kleinbürgertum in Zeiten der Krise erfasst, wenn die Arbeiterklasse (die Linke) keine glaubwürdige Kraft ist, die Aussicht bietet, den wirtschaftlichen Verheerungen etwas entgegenzusetzen und eine darüber hinausgehende Alternative anzubieten.
Auf dem Boden bürgerlicher herrschender Ideologie gedeihen in Krisenzeiten leicht die bizarrsten und reaktionärsten ideologischen Blüten, über die sich unter Umständen eine organisierte Bewegung und Partei herausbildet. Dieses Potenzial hat der Marsch der „Lebensschützer“, zumal die AfD bereits mitmischt. Die Klerikalen üben schon jetzt auf Kliniken Druck aus. Das zeigte der Fall einer vergewaltigten jungen Frau in Nordrhein-Westfalen Anfang 2013, der bereits die Untersuchung in einem Krankenhaus verweigert wurde, weil dann auch über eine mögliche Schwangerschaft, einen Abbruch und die „Pille danach“ gesprochen werden müsse, was die katholische Kirche ablehne.
Spaltende Ideologien erschweren den gemeinsamen Kampf. Marxisten haben, wo sie aktiv waren, diese Spaltung zu überwinden gesucht. Als generalisierendes politisches Thema gehört der Kampf gegen einen drohenden Backlash in alle Komitees und auf alle Konferenzen, insbesondere jene, wo wir mit Arbeiterinnen und Arbeitern, mit Verkäuferinnen oder Krankenpflegern zu tun haben, weil wir hier auch in die organisierte Arbeiterklasse hineinreichen. Wir müssen in den Gewerkschaften Mitstreiter gewinnen, denn ohne Aktivitäten in und von der organisierten Arbeiterbewegung werden wir auf Dauer nicht gewinnen können – weil das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung eben eine Klassenfrage ist.
Wir benötigen Material, denn viele wissen gar nicht mehr, was der Paragraf 218 bedeutet. Bei einem zufälligen Gespräch mit einer jungen Frau vor einer Kneipe stellte sich heraus, dass sie glaubte, der Paragraf 218 gewähre das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, weshalb sie die Forderung nach Abschaffung nicht verstand.
Perspektivisch brauchen wir ein echtes bundesweites Bündnis, und es liegt auch in der Verantwortung der Partei Die Linke, solch ein Bündnis mit aufzubauen. Die Linke hatte auf ihrem Europa-Parteitag im Februar eine Resolution gegen das drohende totale Abtreibungsverbot in Spanien und pro Selbstbestimmung verabschiedet. Auf ihrem Bundesparteitag im Mai gab es den Beschluss, eine bundesweite Gegenmobilisierung zu unterstützen. Leider ist es nicht gelungen, dies mit entsprechenden Aktivitäten in und außerhalb der Partei und auch bundesweit zu unterfüttern, auch wenn in Berlin Mitglieder der Linken in den Bündnissen aktiv waren.
Als Vorbild kann uns die Mobilisierung gegen die Naziaufmärsche in Dresden dienen. Einem bundesweit aufgebauten Bündnis, das in die verschiedensten gesellschaftlichen Spektren von Grünen, Sozialdemokraten, Linken und Autonomen hineinreichte, gelang es schließlich, den Spuk der Tausenden Faschisten, die dort jährlich aufmarschierten, zu beenden. Die Parole war klar: Den Marsch blockieren!
Das ist unsere Aufgabe im nächsten Jahr – und ein Erfolg ist dringend und bitter nötig.
Foto: Sozialfotografie [►] StR
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