Colin Wilson interviewt Ray Godspeed, eins der Gründungsmitglieder von LGSM. Aus dem Englischen von David Paenson
Der Film Pride erzählt die Geschichte der Lesben- und Schwulen-Unterstützergruppe LGSM für die streikenden Bergarbeiter. Für einen Mainstream-Movie ist es ein außerordentlich inspirierendes Werk. Fast ein ganzes Jahr lang, von 1984 bis 1985, befanden sich über 100.000 Bergarbeiter im Vollstreik. Ihr Ausstand prägte die politische Landschaft, und ihre schließliche Niederlage war zugleich einer von Thatchers größten Siegen. Aber solange sie standhielten, gab es außergewöhnliche Solidaritätsbekundungen. Beispielhaft war die beiderseitige Solidarität der Lesbians and Gays Support the Miners-Gruppe (LGSM) aus London mit der Bergarbeitergemeinschaft von Onllwyn im Dulais-Tal in Südwales.
Caveat: Das nachfolgende Interview bespricht Ereignisse, die im Film vorkommen, um sie mit der realen Geschichte zu vergleichen – daher wirst du womöglich lieber dir zuerst den Film anschauen, bevor zu hier weiterliest.
Frage: Sag uns bitte etwas über die Lage der Schwulen in den 1980er Jahren. Der Film erwähnt ja, dass das Zustimmungsalter für Sex unter Männern bei 21 Jahren lag.
Antwort: Bis zu meinem achten Lebensjahr war Homosexualität eine Eintrittskarte ins Gefängnis. Mein erster wirklicher Freund stand gerade eine Woche vor seinem 18. Geburtstag. Ich selber war 23 Jahre alt. Wenn die Polizei davon in Kenntnis gesetzt worden wäre, wäre ich womöglich im Gefängnis gelandet. Er erzählte seiner Familie von uns und ich geriet regelrecht in Panik. Ich bereitete mich schon auf einen ungebetenen Polizeibesuch. Das mit dem »hübschen Polizisten« ist heutzutage kaum zu glauben, aber damals war es üblich, dass sie den hübschesten jungen Polizisten, ganz in Leder bekleidet, schickten. Schwul sein war Mitte der 1980er Jahre kein Gesetzesverstoß, sehr wohl aber die Aufforderung zum Sex, vor allem an öffentlichen Orten. Allein die Frage »hättest du Lust, zu mir nach Hause zu kommen« war rechtlich Prostitution gleichgesetzt. Es galt als Aufforderung zu sittenwidrigen Handlungen und man lief Gefahr, verhaftet zu werden. Meistens geschah das in öffentlichen Toiletten. Manchmal aber begegnete man einem Polizisten, angelehnt an der Mauer vor der Coleherne, einer Lederbar. Fragte man ihn »na, wie steht’s?«, holte er gleich die Handschellen raus.
Auf der Universität von Newcastle im Jahr 1980 gab’s die Gay Society Gaysoc. Man brauchte zehn Unterschriften, um von der studentischen Gewerkschaft gesponsert zu werden. Aber keiner der Gaysoc-Mitglieder wollte seinen Namen der Universität preisgeben. Es gab daher die Tradition, alle linken und liberalen Gruppen um eine Unterschrift zu bitten. Ich wurde daher zu einem Gründungsmitglied von Gaysoc Newcastle zu einem Zeitpunkt, als ich mich überhaupt noch nicht geoutet hatte, und zwar in meiner Funktion als Sprecher des Labour Club. Dann fragte ich mich »was hast du da nur gemacht?«
Ich hatte mich zwei Jahre vor dem Streik in einem Brief an meine Mutter geoutet. Ich hätte das ihr nicht direkt ins Gesicht sagen können. Meine Mutter brach zusammen, fiel in Ohnmacht. In Ohnmacht! Ich musste sie und meinen Vater besuchen und durch das Gewitter hindurch. Jene Filmszene des Coming Outs des jungen Joes ist sehr wirklichkeitsnah. Das ganze Hauen auf den Tisch und die vielen Wehklagen, so war es auch. Schließlich war meine Mutter ganz glücklich darüber, dass ich schwul bin, und mein Vater hat es immerhin akzeptiert. Meine Mutter blieb oft bei mir in London über Nacht. Eines Sonntags in der Früh brachte sie das Frühstück meinen beiden Mitbewohnern – die beiden lagen beianeinander im Doppelbett. Hastig und überrascht zogen sie die Bettdecke bis unter den Kinn hoch. Das Bild von meiner Mutter in mittleren Jahren in verschiedenen Schwulenkneipen umringt von schwulen Männern in ihren Zwanzigern ist mir noch sehr präsent. Es gab aber viele, die nie wieder ein Wort mit ihren Eltern redeten. In dem Brief an meine Mutter hatte ich vorsorglich einen Absatz eingefügt »ich habe volles Verständnis, wenn du mich nie wieder sehen willst«. Die Geschichte Small Town Boy von Jimmy Somerville ist aus dem Leben gegriffen. Junge Menschen flüchteten nach London. London war voller Menschen aus allen Landesteilen, die dort die Möglichkeit suchten, ihr Schwulsein offen auszuleben.
Gay’s the Word, der im Film dargestellte Buchhandel, wurde wiederholt von der Zoll- und Steuerbehörde überfallen, weil er anstößige Romane verkaufte – keine Pornografie, lediglich billige Romane, Sadomaso Sex Romane mit solchen Titeln wie »Komm« und so weiter, die als anstößig galten. Die Behörde beschlagnahmte einmal sogar den ganzen Bücherbestand. Heutzutage wäre das undenkbar.
Auf der Arbeit, zur Zeit des Streiks, hatte ich mich noch nicht geoutet. Kannst du dir das vorstellen? Ich arbeitete für die Baubehörde von Islington. Manche meiner Kollegen waren auf die Spur meines Schwulseins gekommen, aber weder bestätigte ich sie darin, noch verneinte ich. Aber sie ließen einfach nicht locker, unaufhörlich sprachen sie davon, wie spaßig Queerbashing sei und wie sehr sie sich wünschten, all diese ekligen und beschissenen Queers zu vergasen oder auf eine Insel zu verbannen und dann in die Luft zu sprengen. Ich tat unbeteiligt, saß einfach vor meiner Schreibmaschine, tippte weiter und ließ das über mich ergehen. Schließlich entschloss ich mich doch, mich zu outen. Ich war der erste an unserer Behörde. Ich sprach das offen gegenüber allen Kollegen aus, entgegen dem Ratschlag meines Betriebsrats, der befürchtete, man werde mich umbringen. Aber ich zog es durch, und ich bekam keine Probleme. Es war ihnen gleich. Anschließend gab es all diese auf bizarre Weise offenen Diskussionen über sexuelle Themen mit diesen Männern auf der Baustelle.
Frage: Ich weiß, dass du mit dem Film zufrieden bist, aber er enthält natürlich eine Portion Fiktion. Darüber wollte ich mehr wissen. Wie war es, als du das erste Mal auf die Bergarbeiter trafst? War es ein Zusammenprall zwei unterschiedlicher Welten?
Antwort: Ja bestimmt. Es gab Neugierde und eine gewisse Argwohn während unserer ersten Rede, und das war sehr belastend. Wir mussten uns vortasten.
Wir waren sehr spät angekommen, erst um ein Uhr morgens. Deshalb verbrachten wir die Nacht auf Dais Fußboden. Tagsüber wurden uns die Schlösser und die Landschaft gezeigt und die lokalen Mythen und Legenden erzählt und wie wichtig die Kohle und die Bergwerke seien. Dann kam die Abendveranstaltung. Der Film stellt die Frostigkeit bei unserer Ankunft dar. In Wirklichkeit, nach einem kurzen Augenblick der Stille, erhielten wir eine Runde Applaus. Keiner ist auf die Idee gekommen, den Saal zu verlassen.
Frage: Der Film erzählt davon, dass nach den Anfeindungen in der Presse gegen LGSM die Bergarbeiter beschlossen hätten, keine Spenden von euch mehr entgegenzunehmen. War das so?
Antwort: Nein. Wir erfuhren erst kürzlich, dass es vor unserer Ankunft all diese Diskussionen gegeben hatte, und es gab in der Tat auch Gegenstimmen. Doch davon erzählten uns die Bergarbeiter nichts, nur dem Drehbuchautor. Aber die Abstimmung ging durch und sie wurde danach nie mehr in Frage gestellt. Wie der Filmdarsteller Cliff im Film sagt »ich glaube den Zeitungen nicht, wenn sie über uns berichten, warum sollte ich ihnen glauben, wenn sie über sie berichten?« Wir hatten nur wenig Gegenwind, Feindschaft oder Unfreundlichkeit erfuhren wir überhaupt nicht.
Frage: Die Bergwerksdörfer waren doch sehr voneinander isoliert, das muss einen Einfluss auf die Einstellungen in den Gemeinschaften gehabt haben, oder nicht?
Antwort: Allerdings, sehr isoliert. Ich meine, Onllwyn, wir konnten den Ort nicht einmal finden. Und sie alle sprachen Walisisch, was sie zusätzlich von uns unterschied, denn für sie war Englisch ihre Zweitsprache. So was wie uns waren sie in ihrem ganzen Leben nicht begegnet. Das Wunderliche ist, wie schnell all diese Barrieren einfach dahinschmolzen.
Wir besuchten sie drei oder vier Mal. Jedes Mal kamen wir uns ein Stück näher. Es stimmt, wie im Film dargestellt, dass sie frei heraus alle möglichen Fragen stellten, ihre Neugierde war echt und sie waren sehr offen. Die Frage »wer von euch macht die Hausarbeit« wurde wirklich gestellt.
Frage: Der Streik veränderte die Frauen der Bergarbeitergemeinschaften. Anfänglich stellte die Gewerkschaftszeitung der Bergarbeiter auf Seite drei das übliche Nacktfoto dar, aber im Verlauf des Streiks übernahmen die Frauen ja eine führende Rolle.
Antwort: Sowohl die Frauen als auch die Männer wurden durch den Streik verändert, vor allem aber die Frauen. Sie durchquerten das Land und sprachen auf Versammlungen von Hunderten, wo sie zuvor kaum über das Schultor oder den Marktplatz hinaus gekommen waren. Und sie trafen auf Menschen, von deren Existenz sie zuvor keine Ahnung hatten – nicht nur den Schwulenkram, sondern irische Republikaner, die schwarzen Communitys –, Menschen, für die sie bislang keinen Gedanken übrig gehabt hatten.
Das Gleiche passierte auch den Männern. Viele verbrachten ihre meiste Zeit während des Streiks in London, hauptsächlich, um Spenden zu sammeln. Dabei machten sie viele neue Bekanntschaften, sprachen zu vielen Menschen, gingen zusammen mit ihnen in die Kneipe und besuchten auch mit uns die Clubs, um auch dort Geld zu sammeln. Auf diese Weise knüpften sich neue Freundschaftsbande.
Frage: Es gibt eine Szene, in der alle Anwesenden im Bergarbeiterclub »Bread and Roses« anstimmen. Ist das wirklich passiert?
Antwort: Alle denken, das sei bestimmt nur erfunden, ein solches sentimentales Nonsens. Nun, Bread and Roses haben sie nicht gesungen. Aber sie sind tatsächlich alle aufgestanden und haben so gesungen, wie im Film dargestellt. Es gibt eine Tradition. Onllwyn hatte ein männliches Chor und zugleich den Brauchtum weiblichen, linken Volksgesangs. Eine Frau würde einfach einen Stuhl besteigen und singen, und die Anwesenden sich einfach einklinken. Es war also nicht ganz so wie in dem Film, aber diese Art des Singens gab es tatsächlich und es war sehr emotional, und wir weinten wirklich alle.
Frage: Kannst du uns mehr von den Aktivitäten der LGSM erzählen?
Antwort: Wir sammelten in jeder Kneipe. Wir wählten ganz bewusst jene aus, vor denen noch nicht gesammelt worden war. Jenes Jahr bleibt mir als besonders heiter und vergnügt in Erinnerung, es war lustig und spaßig, mein soziales Leben blühte auf – man suchte Clubs auf, besoff sich, flirtete, tanzte, und am Ende des Abends nahm man einen Spendeneimer und ging vor die Tür. Unsere ganzen Aktivitäten geschahen im Suff. Ich habe wunderbare Erinnerungen an jene besoffenen Queens, wie sie aus dem Black Cap heraus tummeln, auch Popstar Jimmy Somerville war dabei, der kürzlich mit einem Spendeneimer für die Bergarbeiter unter dem Arm die Charts erobert hatte.
Auf jedem Treffen besprachen wir ganz genau unser Vorgehen. Manche Kneipen erlaubten uns, drinnen zu sammeln, so die Bell in King’s Cross, London. In anderen versuchten wir es nicht einmal und sammelten lieber draußen. Es waren die gleichen Pubs, mit denen wir schon früher schlechte Erfahrungen gesammelt hatten, beispielsweise die White Swan in Mile End im Osten Londons, die mich hinauswarf, als ich Flugblätter für Gay Pride verteilen wollte. Die kommerzielle Schwulenszene verurteilte Gay Pride. Die Haltung war: Bloß keine Aufregung, ihr Märtyrertypen macht nur Ärger. Ich kann nur lachen, wenn all diese Schwulenkneipen und -clubs für sich heute in Anspruch nehmen, Pride erfunden zu haben. Sie sind erst auf den Zug aufgesprungen, als sie die Möglichkeit sahen, daraus Geld zu machen.
Die Reaktion von Schwulen war meistens positiv. Der Film behandelt ganz korrekt manche der negativen Reaktionen. »Warum sammelt ihr dafür und nicht für AIDS?« war eine oft gestellte Frage. Und es gab die, die schimpften »ich bin selber aus Barnsley [einem wichtigen Streikzentrum] und ich hasse die Bastarde, darum lebe ich hier in London«. Andere wiederum sagten »ich stamme aus einer Bergwerksgemeinde, hier, ich gebe dir was«. Es ging in beide Richtungen.
Wir organisierten auch einen sehr gut besuchten Modetrödelmarkt. Es war wirklich tuntig, all diese alten Queens, die ihren alten Plunder verschenkten. Da dachten wir uns, wir organisieren nicht nur einen Trödelmarkt, wir suchen uns die tuntigsten und albernsten Sachen raus und veranstalten eine Modeschau am Vorabend. Das war es, was ich am LGSM besonders schätzte – viele unter uns waren ernsthafte Trotzkisten, wir scheuten uns aber nicht vor dem schrillsten Camp. Das hing damit zusammen, dass wir ausschließlich Gays waren, obwohl das eine fragliche Sache ist. Wir hatten einen großen Benefizkonzert im Electric Ballroom. Wir sammelten an einem einzigen Abend fünftausend Pfund. Es traten Bronski Beat und andere Bands auf, Berühmtheiten spendeten Wertsachen für die Tombola, Platinum- und goldene Schallplatten.
Frage: Der Film stellt die Mitglieder von LGSM als idealistisch und naiv dar, in Wirklichkeit waren manche von euch bewährte Linke.
Antwort: Ich war zehn Jahre schon Mitglied von Militant, obwohl die Militant LGSM nicht unterstützte, uns nicht einmal wahrnahm und insgesamt eine abschätzige Haltung zu Schwulenrechten einnahm. Mark war Generalsekretär der Liga der Jungen Kommunisten, der Jugendorganisation der britischen Kommunistischen Partei. Manche von uns waren in die Labour Party eingetreten, um dort neue Anhänger zu finden, und wir hatten regelmäßige Zusammenkünfte im Rahmen einer Organisation, die sich Lesbian and Gay Young Socialists nannte.
Eins der LGYS-Mitglieder hatte einen Kontakt im Dulais Tal – einen Freund eines Freunds. Wir hatten also einen zarten Draht. Es ist nicht so, dass wir wahllos eine Reißzwecke auf eine Landkarte gesteckt hätten. Wir hatten uns bereits Gedanken gemacht, für die Bergarbeiter zu sammeln, und als Mark und Mike Jackson Sammeleimer zu Pride mitbrachten, sagten wir uns »hier wollen wir mit helfen«, und so entstand die Zusammenarbeit zwischen KP und Trotzkisten. Ein erstes Treffen wurde in Marks Sozialwohnung in Elephant and Castle in London organisiert.
Von den elf Gründungsmitgliedern der LGSM waren alle entweder Trotzkisten, Kommunisten oder mit Kommunisten eng befreundet. Es stimmt allerdings, dass wir schon nach sehr kurzer Zeit Menschen anzogen, die es ganz und gar nicht waren.
Ray und Reggie, das Paar im Film, das nach einem gemeinsamen Betätigungsfeld suchte, stießen zu uns. Sie sind heute noch zusammen, was zeigt, dass es funktionierte. Sie vertraten eine neue Generation von Menschen, die so was noch nie ausprobiert hatten. Und dann gab es auch einige alte Gay Liberation Leute, die schon in den 1970er aktiv waren. Nigel Young hatte gegen die gewerkschaftsfeindliche Gesetzgebung der Tories, die Industrial Relations Act von 1972, im Schwulenkontingent des Demozugs mitdemonstriert.
Es hatte schon in der Vergangenheit Versuche seitens von schwulen Linken, sich an der Arbeiterbewegung zu beteiligen, so während des Bergarbeiterstreiks von 1972. Es war also nicht das erste Mal, nur diesmal war er fabelhaft erfolgreicher. Wir konnten also aus dem Erfahrungsschatz einer Schicht älterer Kämpfer schöpfen, auch wenn es einige Spannungen gab zwischen den Aktivisten von Gay Lib, die eine linke Perspektive vertraten, aber vorrangig Schwule waren, und den Trotzkisten, die in erster Linie Trotzkisten waren.
Frage: Ihr müsstet allerlei politische Debatten gehabt haben …
Antwort: Ja, schier endlose. Ich kann sie nicht einmal ansatzweise schildern, die Zeit reicht nicht. Ja, es waren endlose Diskussionen …
Frage: Waren es produktive Diskussionen, oder ging es bloß darum, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen?
Antwort: Es waren interessante Diskussionen. Wir hatten aber gleich bei der Gründung von LGSM zwei Regeln festgeklopft, und Mark bestand auch darauf, dass wir sie einhalten – womit er nach meiner Meinung absolut recht hatte. Erstens war unsere Unterstützung für die Bergarbeiter eine bedingungslose. Auch wenn die Bergarbeiter uns gesagt hätten, verpisst euch, hätten wir trotzdem weiter gesammelt. Wir taten es überhaupt nicht mit dem Ziel, etwas dafür zurückzubekommen. Zweitens durfte keiner etwas sagen oder mitbestimmen, wenn er nicht selbst Geld sammelte.
Wir hatten also all diese Debatten, aber zum Schluss sagten wir immer »ja, das war sehr interessant, aber lasst uns weiter sammeln«. Natürlich veröffentlichten wir gelegentlich politische Stellungnahmen oder stellten uns und unsere Ziele der Presse vor, und wir mussten uns darüber einigen, wie wir das anstellen wollten.
Es gab auch Debatten über taktische Fragen – das wichtigste Beispiel war, als die konservative Regierung Kohle aus Polen importierte, um den Streik zu brechen. Mark wollte uns nicht erlauben, das zu verurteilen. Die Perspektive der Kommunistischen Partei verbat es ihm, den Kohleimport aus Polen zu verurteilen. Das war lächerlich. Er drohte sogar mit Rücktritt. Er stellte uns auf die Probe, und wir gaben nach. Einige bestanden auf eine Abstimmung und verloren. Wir gaben einfach klein bei. Das war teilweise einfach Mangel an Prinzipien, teilweise einfach Ergebnis des Kalküls »wir wollen bloß die Bergarbeiter so weit unterstützen, wie wir nur können. Den Import von polnischer Kohle werden wir durch unser Gerede nicht stoppen. Warum also eine gut laufende Kampagne spalten?« Die meisten waren der Meinung, dass es keinen Sinn ergab, uns selbst zu zerfleischen.
Die Debatten erreichten aber nie einen Punkt, an dem wir nicht mehr miteinander geredet hätten. Wir bissen uns ineinander fest, nur um uns danach gemeinsam in der Kneipe zu besaufen, zu küssen oder so. Es gab Romanzen auch zwischen »Feinden«. Mark vertrat einfach die falsche Seite in der Debatte, aber ich wäre den ganzen Weg nach China über heiße Kohlen für Mark Ashton gelaufen. Ich liebte ihn mehr, als Worte es ausdrücken können. Die Kameradschaft überwand alle politischen Meinungsverschiedenheiten.
Frage: LGSM war eine ausschließlich Gay-Gruppierung. War es in den 1980er Jahre die Norm, dass unterdrückte Minderheiten sich separat organisierten? Habt ihr darüber gesprochen?
Antwort: Das war eindeutig die Haltung der Gay Liberation-Leute, auch Mark und seine Freunde waren der Meinung. All diese Straßenqueens waren in unserer Gruppe. Es ging richtig ruppig zu. Sie waren ungeschliffene Diamanten. Es gab Jungs, die die falsche Seite des Schwulenszene erlebt hatten. Sie wollten keine Gefangenen machen. Es waren raue Tunten aus der Arbeiterklasse, ganz tolle Kerle. Sie alle wollten die Gruppe nur für Gays öffnen.
Manche von uns Trotzkisten hatten damit Bauchschmerzen. Warum sollte es ausschließlich Gay sein? Aber wir fügten uns – zu recht meine ich auch im Nachhinein. Es war in unseren Augen nicht eine Organisationsform für alle Ewigkeit, und die meisten von uns waren auch unabhängig davon als Gewerkschaftsaktivisten unterwegs. Diese Zusammensetzung erlaubte uns jenes tuntige, humorvolle und selbstbewusste Auftreten, denn wir wussten ganz genau, welche Knöpfe wir in der Gay Community betätigen mussten, um erfolgreich zu sein. Ich kann mir schlecht vorstellen, dass eine nicht ausschließlich von Gay organisierte Kampagne auf die Idee gekommen wäre, eine glamouröse Modeschau mit anschließendem Trödelmarkt zu veranstalten.
Aber kaum einer der Beteiligten sah in einer separaten Organisierung einen Endzweck. Meine Position im Rückblick ist, dass es die richtige Haltung war, denn es ging darum, Gays heranzuziehen und sie mit der Arbeiterbewegung in Verbindung zu setzen. Es war ein Zwischending. Während also manche unter uns unsere Zweifel hatten, ob es Sinn machte, die Kampagne nur für Gays zu öffnen, behielten wir das Hauptziel vor Augen, nämlich, neue Menschen in die Arbeiterbewegung reinzuziehen. Daher dachten wir, es ist schon in Ordnung so.
Frage: Im Film verlassen einige Frauen die Gruppe, weil sie dermaßen männerdominiert ist, obwohl Steph, die zentrale lesbische Figur, bleibt.
Antwort: Steph ist eindeutig die lesbische Heldin des Films, während die anderen eher belächelt werden. Wir waren exzessiv männlich. Das war Teil unseres Problems. Von den wenigen Frauen, die wir hatten, sind nicht alle gegangen. Es gab eine ungehemmte Wortwahl, es waren toughe Schwule aus der Arbeiterklasse, und die waren nicht immer höflich. Die Treffs wurden von Großmäulen dominiert. Aber ich glaube nicht, dass es irgendwelche Frauenfeindlichkeit gab. Wir waren alle ziemlich angefressen, wenn Frauen die Gruppe verließen, denn es kam bei uns der Eindruck auf, sie hatten sich innerlich von vornherein für eine ausschließlich aus Frauen bestehende Gruppe entschieden.
Wir hätten ohne weiteres eine Frauengruppe innerhalb von LGSM haben können, aber sie gründeten die Lesbians Against Pit Closures, Lesben gegen Grubenschließungen, und kamen nie wieder zurück. Sie wählten eine andere Grube in einem anderen Landesteil aus, in Nottinghamshire, und besuchten nie wieder Dulais, sie trennten sich vollkommen ab. Das ist sehr bedauerlich. Aber sie leisteten gute Arbeit, und wer bin ich, der beurteilen soll, ob sie das Richtige taten? Die Gay-Bewegung zu der Zeit spaltete sich entlang der Linie männlich/weiblich – es gab getrennte Demonstrationen von Gay Pride und Lesbian Strength, Lesbischer Stärke, die diese Spaltung ausdrückte.
Frage: Mit welchen politischen Argumenten spracht ihr die Leute an?
Antwort: Diese Frage trifft den Kern der politischen Differenzen innerhalb von LGSM. Die KP sprach von zwei Communitys, die beide von der Regierung unter Beschuss genommen wurden – Schwule und Bergarbeiter, beide wurden von der Polizei attackiert. Das war gute Solidaritätsarbeit. Aber wir Trotzkisten hoben viel mehr die Klassenfrage hervor, denn Schwule und Bergarbeiter gehörten beide der Arbeiterklasse an, und sollten die Bergarbeiter verlieren, würde die gesamte Arbeiterklasse leiden. Die meisten von uns waren aktive Gewerkschafter, daher sowieso Teil der Arbeiterbewegung.
Die YCL und Mark machten gerade ihre eurokommunistische Phase durch. Alles drehte sich um Communitys. Ziel war eine Regenbogenkoalition von Frauen, Gays, Schwarzen zusammen mit der Arbeiterklasse. Ich hatte immer meine Probleme mit diesem Konzept. In meinen Augen waren es zwei Teile ein und derselben Klasse. Als ich einmal ein Treffen in der Stadthalle von Lambeth leitete, sagte ich »noch nie war ich so stolz, gay zu sein, noch nie war ich so stolz, Mitglied der Arbeiterklasse zu sein«. Die beiden Hälften meines Lebens vereinigten sich, etwas, was ich bisher nicht für möglich gehalten hatte. Mike Jackson wurde nicht müde zu sagen, nach Dulais zu fahren sei wie nach Hause fahren – in eine Arbeitergemeinschaft, die einen offenherzig aufnahm. Das galt für viele der Teilnehmer an der Kampagne. Im Herzen einer Arbeitergemeinschaft Aufnahme zu finden, hinterließ einen bleibenden Eindruck, weil es unsere eigene Klasse war, und wegen dem, was unseren Familien angetan wurde.
Frage: Was wurde aus den LGSM-Mitgliedern?
Antwort: Viele machten in ihrem persönlichen Leben weiter, da wo sie vor dem Streik gestanden hatten, fanden Arbeit, verliebten sich, kauften ein Haus. Die meisten vertreten weiterhin richtige politische Standpunkte, obwohl einige etwas abgedriftet sind.
Ich selber verließ die Gruppe Militant noch während des Streiks. Ich beteiligte mich später an der Lesbians and Gays Support the Printworkers zur Unterstützung der streikenden Drucker. Sie war kein so durchschlagender Erfolg, aber dennoch nützlich. Ich arbeitete ehrenamtlich für die Telefonzentrale Lesbian and Gay Switchboard. Dann kam der Paragraph 28 und wir organisierten die gewerkschaftliche Gruppierung Trade Unionists against Section 28, separat von der offiziellen Kampagne Stop the Clause. Letztere betätigten sich lediglich als Lobbyisten in der Tradition aus der Zeit vor Stonewall, sie beschränkten ihre Aktivitäten auf das Bearbeiten von Abgeordneten auf der Hintertreppe. Wir hatten die Lehren aus LGSM gezogen, nämlich, dass man die Arbeiter direkt ansprechen muss, man darf nicht dabei stehenbleiben, deren Führer aufzusuchen. Wir hatten gelernt, dass wenn du auf der Basis von Solidarität andere Arbeitergruppen aufsuchst, diese dir dann entgegenkommen. Ich sprach auf einer Reihe von betrieblichen Gewerkschaftsversammlungen, wir kontaktierten Betriebsräte und die Gewerkschaften vor Ort. Wir stellten für gewerkschaftliche Vertrauensleute eine Leitfadenmappe über Schwulenrechte zusammen, die von der Gewerkschaft des öffentlichen Diensts CPSA gesponsert wurde. Eine Weile lang war ich Mitglied der Grünen. Nach dem Golfkrieg von 1991 blieb ich dann 15 Jahre lang politisch vollkommen untätig. Mein Akku war leer. Seit meinem 14. Lebensjahr hatte ich mich von Aktivismus genährt. Als die Tories im Jahr 1992 dann wieder an die Macht kamen, dachte ich mir, zum Teufel mit dem Ganzen.
Jetzt bin ich in Left Unity aktiv. Ihr Geist scheint mir sehr in der Tradition von LGSM zu stehen. Die Menschen kommen wieder zusammen, stellen sich nicht gegenseitig ideologische Fragen, bevor man überhaupt Mitglied wird. Trete zuerst bei, wir sprechen später noch darüber. Mach mit bei unseren Aktionen, wir werden schon die Zeit finden, über wichtige Fragen uns gründlich auseinanderzusetzen. Left Unity hat meine Begeisterung aufgeweckt, mehr als alles andere seit der Zeit von LGSM.
Frage: Viele Menschen sind aber seit der Zeit an AIDS gestorben, auch Mark Ashton.
Antwort: Ja, Mark ist gestorben, andere Menschen auch. Ich musste auf viele Begräbnisse. Wenn sie dem Film einen schmalzigen Touch hätten geben wollen, hätten sie sein Sterben zeigen können. Die Bergarbeiter kamen alle nach London zu seinem Begräbnis. Wir hatten die Gewerkschaftsbanner und die Band spielte, es war alles da. Wir marschierten bis zum Friedhof. Wenn du die Gay Pride Demonstration von 1985 bewegend empfandest, dann hättest du erst recht diesem Begräbnis beiwohnen müssen. Bergarbeiter und ihre Frauen schluchzten. Sein Tod war wie ein Pfahl in unser Herz, auch für die Menschen, die mit ihm politisch auseinander lagen. Er hatte was besonderes, was der Film auch gut herausarbeitet.
Frage: Und die Menschen von Dulais?
Antwort: Wir stehen noch in Kontakt, und es ist wirklich bewegend, wieder zusammenzukommen. Cliff ist gestorben, auch Hefina. Siân ist Parlamentsabgeordneter, Dai arbeitet für die Mediengewerkschaft BECTU. In Gemeinschaften in den Tälern haben sich aber neue Probleme aufgetan, Kriminalität, Alkoholismus, Drogenkonsum machen sich breit.
Jahrelang haben wir die Position vertreten »wenn die Bergarbeiter verlieren, verlieren wir alle«. Keiner von uns wusste, wie recht wir hatten. In den letzten dreißig Jahren sind wir vernichtet worden. Jetzt müssen wir die Scherben wieder einsammeln. Man fühlt sich in die 1880er Jahre zurückversetzt, als William Morris und Keir Hardie einen Neuanfang machen mussten. Wir müssen die grundlegenden Lehren von gewerkschaftlichem Zusammenhalt und Solidarität lernen. Ich hoffe, dass der Film einen Beitrag dazu leistet.
Damals konnte man nicht neutral sein – der Streik polarisierte das ganze Land. Entweder war man für die Bergarbeiter oder gegen sie. LGSM bestand aus Trotzkisten, KP-Mitgliedern, Anhängern der Labour Party, Drag Queens, Gay Libs, unpolitischen Menschen. Wenn ich sie jetzt wieder sehe, werde ich sie alle umarmen. Die üblichen Auseinandersetzungen zwischen diesen verschiedenen Menschen spielten keine Rolle. Es war ganz klar: all diese Menschen sind auf meiner Seite, und ich liebe sie.
Das Interview führte Colin Wilson und wurde anschließend von David Paenson von Englischen ins Deutsche übersetzt. Zuerst wurde das Interview unter dem Titel Dear Love of Comrades: The politics of Lesbians and Gays Support the Miners auf rs21.org.uk veröffentlicht.
Schlagwörter: Bergarbeiter, film, Gay Pride, Großbritannien, Homosexualität, Kino, Labour Party, Pride, Streik, Trotzkismus