marx21 sprach mit der Gesundheitsaktivisten Helen Redmond aus Chicago, über Obama's »Jahrhundertreform« und die Perspektiven für ein staatliches Gesundheitssystem.
marx21: In Europa ist es schwierig, die umfangreiche Gesetzgebung zur Gesundheitsreform, die kürzlich im US-Repräsentantenhaus verabschiedet wurde, zu verstehen. Kannst du eine Zusammenfassung geben, worum es genau geht?
Helen Redmond: Das Gesetz umfasst über 2.000 Seiten. Es ist unglaublich verwirrend und unverständlich und wird deshalb sehr unterschiedlich interpretiert. Am wichtigsten ist, dass die Gesetzgebung die bisherige Gesundheitsversorgung in den USA nicht wesentlich verändert und die privaten, profitorientierten Krankenversicherungen, die gerade Ursache der Krise des Gesundheitssystems sind, unangetastet lässt. Das Gesetz gibt 30 Millionen nicht versicherter US-Amerikaner eine Versicherung. Fünfzehn Millionen Menschen haben Anspruch auf das staatliche Gesundheitsprogramm für die Armen, Medicaid. Die andere Hälfte wird einen Zuschuss für eine Privatversicherung von der Bundesregierung bekommen.
Aufgrund des Gesetzes ist es jetzt verboten, Menschen wegen einer Vorerkrankung eine Versicherung zu verweigern. Außerdem wurde die finanzielle Obergrenze für Leistungen im Laufe eines Lebens gestrichen. Kinder können bei ihren Eltern bis zum 26. Lebensjahr mitversichert bleiben. Die Gesundheitszentren der Gemeinden werden mehr Geld bekommen, um Hausärzte ausbilden – es gibt zurzeit einen echten Mangel an Hausärzten. Das ist alles, was die Demokraten nach einem Jahr ununterbrochener Arbeit an der Gesundheitsreform zustande gebracht haben. Aber das hätten sie auch unabhängig von dem Gesetz umsetzen können, und außerdem wird das durch jede Menge scheußlicher Bestimmungen entwertet.
Eine der größten Fragen für Aktivisten scheint jetzt zu sein, ob diese Reform ein Fortschritt ist. Die Linke der USA scheint sich in dieser Frage uneinig zu sein. Einige sagen, Obamas Gesetz ist besser als gar nichts, und andere, dass es sogar als Rückschritt betrachtet werden könnte. Was meinst du dazu?
Das Gesetzt ist kein Fortschritt. Es beinhaltet Reformen, die schon mal ausprobiert wurden und die gescheitert sind. Lobbyisten der Versicherungs- und Pharmaindustrie haben bei der Abfassung des Gesetzes mitgeholfen und es spiegelt ihre Hauptpriorität wider, nämlich Profit zu machen. Am beunruhigendsten ist, dass es ihre wirtschaftliche und politische Macht zementiert, weiterhin Menschen zu ruinieren und umzubringen.
Das Gesetz ist auf zweifache und empörende Weise ein Geschenk an die privaten Krankenversicherungskonzerne: Erstens werden 500 Milliarden Dollar an Steuergeldern in ihre Kassen gespült, mit denen Versicherungen für diejenigen subventioniert werden, die sich sonst keine leisten könnten. Zweitens zwingt das Gesetz die Unversicherten, eine Versicherung abzuschließen, oder sie werden vom Finanzamt mit Bußgeldern in Höhe von bis zu 2 Prozent ihres Jahreseinkommens belegt.
Die Kosten für die Versicherungsprämie und die Selbstbeteiligung werden nicht reguliert, die Versicherer haben das Recht, je nach Alter und gesundheitlicher Verfassung den Beitrag um das Dreifache zu erhöhen. Die Praxis, von Frauen höhere Prämien zu verlangen – in der Regel wegen möglicher Schwangerschaft – ist weiterhin erlaubt. Von dem Gesetz werden nur 30 Millionen der 50 Millionen Unversicherten erfasst, und Einwanderer ohne Aufenthaltsberechtigung sind weiterhin ausgeschlossen. Die meisten Bestimmungen des Gesetzes werden ohnehin nicht vor 2014 in Kraft treten. Mit dem Gesetz wird das Recht der Frauen auf Abtreibung angegriffen und eingeschränkt. Eine Frau, die sich auch für eine Abtreibung versichern will, muss monatlich zwei getrennte Schecks schreiben, und der Versicherer führt zwei getrennte Konten. Diese lästige Anforderung wird dazu führen, dass die Versicherer gar keine Abtreibungsversicherung mehr anbieten werden.
Es ist sehr klar, dass das sogenannte Reformgesetz die überwiegende Mehrheit der US-Amerikaner weiterhin einer wuchertreibenden, nur am Profit orientierten Versicherungsindustrie ausliefert und dieser beispiellose Macht und Möglichkeiten zum Profitmachen gibt. Das Gesetz ist eine Katastrophe, und im Gegensatz zu der Behauptung der jubelnden Medien handelt es sich nicht um einen historischen Triumph, sondern um eine historische Tragödie.
Von den Medien wurde während der ein Jahr dauernden Auseinandersetzungen über die Gesundheitsreform die Basisorganisationen weitgehend ignoriert, die für eine staatliche Versicherung gekämpft haben. Am Ende ist gar keine Art öffentlicher Krankenversicherung in die Schlussfassung des Gesetzes eingegangen. Helen, du warst sehr aktiv an der Kampagne für ein staatliches System beteiligt, kannst du uns etwas darüber erzählen?
Die einzige Lösung für die Krise des Gesundheitssystems ist ein staatliches System mit einer Kasse für alle. Die privaten, profitorientierten, marktabhängigen System müssen abgeschafft werden, weil sie Ursache der Krise sind. Solange diese Konzerne nicht aus dem System ausgeschlossen werden, werden weiterhin jährlich tausende Menschen wegen mangelnder Gesundheitsversorgung sterben. Zurzeit sind es 45.000 Menschen im Jahr. Das ist ein Verbrechen. Laut Meinungsumfragen wollen die US-Amerikaner eine größere Beteiligung der Regierung am Gesundheitssystem, und nicht eine geringere. Nach einer Gallup-Befragung denken 69 Prozent der Bevölkerung, dass es Aufgabe der Bundesregierung ist, allen US-Bürgern eine Krankenversicherung zu ermöglichen. Und eine Umfrage von CBS/New York Times vom letzten Jahr zeigte 59 Prozent zugunsten eines staatlichen Versicherungssystems mit einer Kasse für alle. Die Mehrheit der Ärzte ist ebenfalls dafür.
Nur die Basisbewegung war gegen die Verabschiedung des Gesetzes und hatte den Mut, auf dem Grundprinzip zu bestehen, dass Gesundheitsfürsorge ein Menschenrecht für alle ist. Sie weigerte sich, Kompromisse zu schließen oder sich dem großen Druck zur Unterstützung Präsident Obamas zu beugen. Wir riefen auf, das Gesetz nicht zu verabschieden, aber aus völlig anderen Gründen als die Republikaner und die rechten, religiösen Abtreibungsgegner. Ein paar Linksliberale unterstützen ursprünglich die staatliche Lösung, dann die »öffentliche Option« (ein kleines Regierungsprogramm, das niemals eine Chance hatte), und am Ende kippten sie vollständig um und unterstützen das Senatsgesetz, das auch nach ihrer Meinung schrecklich und ein Ausverkauf an die Versicherungs- und Pharmaindustrie war. Liberale erklärten, das Senatsgesetz müsse durchkommen, damit Obama wiedergewählt wird. Ihre Loyalität gilt an erster Stelle der Demokratischen Partei, nicht den Menschen.
In der Linken sind Einzelheiten von Obamas Programm umstritten, dennoch scheint Konsens zu herrschen, dass diese Gesundheitsreform nicht weit genug geht – es gibt noch vieles zu verbessern. Wie sieht es jetzt an der Basis aus? Siehst du eine Möglichkeit, dass die Debatte über die Gesundheitsreform fortgesetzt wird und sich zuspitzt und auf diese Weise Raum für weitergehende Kampagnen zur Frage der Gesundheitsreform entsteht? Oder wird die Verabschiedung des Gesetzes einen eher deprimierenden Effekt haben?
Unsere Bewegung hat in den vergangenen anderthalb Jahren einen großen Schritt nach vorne gemacht. Hunderte von Basisorganisationen entstanden im Land und organisierten Kundgebungen, Demonstrationen, Versammlungen und machten Druck auf Politiker. Aktivisten spitzten ihre Kampagne zu, und wurden verhaftet. Zweimal störten Ärzte und Aktivisten Senatsanhörungen und wurden verhaftet. Bei einem nationalen Tag von Sit-ins vor Versicherungszentralen wurden 200 Menschen verhaftet. Basisorganisationen sind zahlenmäßig gewachsen und haben mehr Selbstbewusstsein und Erfahrung.
Leider gab es einen medialen Blackout, was diese Bewegung betrifft, und unsere Demonstrationen, Kundgebungen und Sit-ins wurden in der Regel von der Presse ignoriert.
Aktivisten der Kampagne geben nicht auf und sind auch nicht entmutigt, weil wir diese Runde des Kampfes verloren haben. Im Gegenteil sind wir bereit, weiterzukämpfen, damit Gesundheitsfürsorge ein Menschenrecht in den Vereinigten Staaten wird. Für uns ist klar, dass mit diesem von Präsident Obama unterzeichneten Gesetz die Krise nicht beendet wird. Die Wut und Frustration von Millionen Menschen wird sich erneut gegen das System Luft verschaffen, wenn sie erkennen, dass die Reform eine Lüge ist: Die Versicherungsbeiträge werden steigen, medizinische Versorgung wird verweigert werden, es werden noch mehr medizinische Einrichtungen eingehen. Organisationen für eine staatliche Versicherung für alle wie die »Ärzte für ein nationales Gesundheitsprogramm« (PNHP), »Gesundheitsfürsorge jetzt!« und hunderte Basisorganisationen in den Bundesstaaten werden dann diese Wut umsetzen in Aktionen für eine dauerhafte Lösung: ein bundesweites staatliches Gesundheitssystem.
Zur Autorin:
Helen Redmond ist Sozialarbeiterin an einem Krankenhaus in Chicago, das für den Landkreis Cook County zuständig ist. Es ist die einzige öffentliche Einrichtung, die auch Menschen ohne Krankenversicherung behandelt. In Cook County gibt es über eine Million Unversicherter, und die Zahl steigt wegen der Wirtschaftskrise weiter an. Sie arbeitet seit 15 Jahren im Gesundheitsbereich. Zudem ist sie Aktivistin im Netzwerk für eine staatliche Krankenkasse für alle und Mitglied der Internationalen Sozialisten der USA (ISO).