Anfang des Jahres bereisten die LINKE-Bundestagsabgeordneten Christine Buchholz und Jan van Aken Afghanistan. Dort haben sie mit Opfern des deutschen Luftangriffs in Kundus gesprochen, bei dem im September vergangenen Jahres über 140 Menschen getötet oder verletzt worden sind. marx21 dokumentiert ihren Reisebericht.
Anfang Januar beschlossen wir, angesichts der zu erwartenden Mandatsaufstockung und zur Vorbereitung des Untersuchungsausschusses zum Bombenangriff von Kundus am 4. September 2009, eine Informationsreise nach Afghanistan zu unternehmen.
Unser Ziel war es, uns ein möglichst umfassendes Bild über die Lage in Afghanistan, den Einsatz der Bundeswehr und die Situation der Opfer und Hinterbliebenen der Bombardierung von Kundus zu machen.
Wir fuhren einen Tag nach der Londoner Konferenz, auf der eine Erhöhung der Truppen in Afghanistan und eine Verstärkung der nichtmilitärischen Hilfe, die Reintegration von Talibankämpfern und einem Versöhungsprozess mit Talibanführern, diskutiert wurde.
Aufgrund der kurzen Vorbereitungszeit beschlossen wir mit der Bundeswehr zu reisen und die Hilfe der deutschen Botschaft bei der Organisierung von Gesprächsterminen in Anspruch zu nehmen. In eigener Regie organisierten wir Gesprächstermine mit den Hinterbliebenen und ihren Fürsprecherinnen sowie mit der Kriegsgegnerin und Frauenrechtlerin Malalai Joya.
Wir wurden begleitet von der Dolmetscherin Tamina Kasi und dem Journalisten Steffen Twardowski. zufällig plante Hans-Christian Ströbele zusammen mit seiner Mitarbeiterin Katrin Schmidberger zur selben Zeit eine Reise nach Afghanistan, sodass wir gemeinsam reisen und einen Teil des Programms zusammen absolvieren konnten. Sieben Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes sorgten für unseren Schutz.
Der Weg in den Einsatz – der Abschied ist das schwerste
Unsere Reise begann auf dem militärischen Teil des Flughafens Köln/Bonn. Gemeinsam mit Soldatinnen und Soldaten, die außerhalb des regulären Kontingentwechsels nach Afghanistan flogen, bestiegen wir den Airbus der Luftwaffe, der uns zum Lufttransportstützpunkt Termes in Usbekistan brachte. Dieser Stützpunkt ist Durchgangsstation für jährlich ca. 35.000 Soldatinnen und Soldaten, die von hier aus nach Masar-i-Sharif, Kundus, Feysabad oder Kabul fliegen.
Abends nutzten wir die Gelegenheit mit verschiedenen Soldaten zu sprechen. Der Abschied von ihren Familien und Freunden steckt vielen in den Knochen. »Der Abschied ist das schwerste«, meint einer von ihnen. Im Camp gibt es auch eine Marketenderin, ein Container mit Waren für den privaten Bedarf der Soldaten. Beherrscht werden die Regale von Barbie-Puppen und Lego – als Geschenke für die daheim gebliebenen Kinder.
Camp Marmal: Dreh und Angelpunkt – wir sind hier von Anfang an Konfliktpartei
Von Termes geht es mit der Transall nach Masar-i-Sharif ins Camp Marmal, dem größten Feldlager der Bundeswehr außerhalb der Bundesrepublik. Hier befindet sich der Stab der deutschen Streitkräfte und das Regionalkommando Nord (Regional Command North) der ISAF sowie der Quick Reaction Force.
Camp Marmal ist Basis und Logistikknotenpunkt für die ISAF-Soldaten im Norden Afghanistans. Die Stimmung ist ruhig. Wir treffen uns mit Brigadegeneral Frank Leidenberger, der seit dem 5. Dezember der Kommandeur des RC North ist.
Wir unterhalten uns über die Ergebnisse der Londoner Konferenz. Leidenberger begrüßt die Aufstockung und auch die angekündigten 5000 zusätzlichen US-Soldaten im Norden Afghanistans. Er sieht den Abzug von Polizeikräften nach Südafghanistan und den Zustrom von 250.000 Flüchtlingen im Norden als Hauptgründe für die verschlechterte Sicherheitslage im Raum Kundus.
Positiv sieht er die geplante Reintegration von früheren Taliban, betont aber, dass dieser Prozess afghanisch organisiert sein muss. Er ist auch der Meinung, dass die Versöhnung mit einigen Führern des Widerstands, wie Hekmatjar, zur Befriedung von verschiedenen Regionen beitragen könnte.
Leidenberger misst der Polizeiausbildung große Bedeutung bei, betont aber auch die Probleme: 70 Prozent der Polizeianwärter seien Analphabeten, ein Polizist bekommt 200 US-Dollar, eine Familie braucht in Mazar-i-Sharif aber 350-400 US-Dollar zum Überleben.
Er zieht einen interessanten Vergleich zu anderen Bundeswehreinsätzen, wo die Bundeswehr – aus seiner Sicht – als »Unparteiische« zwischen Konfliktparteien gestanden habe. Es habe einige Zeit gedauert, um zu verstehen, dass die Bundeswehr und ISAF in Afghanistan im Gegensatz dazu von Anfang an Konfliktpartei gewesen seien.
Angesprochen auf die Bombardierung von Kundus erklärt er, dass das Ereignis politisch missbraucht würde. Die Bundeswehr habe die Vorgabe capture (gefangen nehmen), während die US-Armee nach der Maßgabe capture and kill (gefangen nehmen und töten) arbeite.
Im Anschluss besuchen wir Feldjäger Oberstleutnant Sandro W. Er koordiniert die 45 Feldjäger in der Polizeiausbildung. Teams von vier Polizisten, vier Feldjägern sowie vier bis acht Schutz-Infanteristen und Sanitäter gingen mit der Afghanischen Polizei ANP für ein Jahr in einen Distrikt. Da sie nur tagsüber ausrückten, kämen nur nahe Distrikte infrage. Zur Zeit seien acht Distrikte für Deutschland ausgesucht, elf weitere für die USA. Auswahlkriterien der Distrikte seien zum Beispiel Sicherheit und Wiederaufbau.
Aus der Sicht von W. sei das entscheidende Problem die Überlastung der Feldjäger, alleine schon deshalb, weil die Zahl der Feldjäger in Deutschland, die voll ausgebildet sind, sehr begrenzt sei. Sie alle seien im Schnitt ca. die Hälfte des Jahres in Afghanistan. Deshalb sieht er auch den Zeitplan für die Ausbildung der zusätzlichen afghanischen Polizisten sehr skeptisch. Er weist darauf hin, dass die Mandatsobergrenze ein Problem bei der Ausweitung der Polizeiausbildung sein kann, denn für jeden zusätzlichen Polizeiausbilder brauche man drei zusätzliche Soldaten.
Auch Wiesner sieht den Zustand der afghanischen Polizei pessimistisch. Er schätzt dass 10-30 Prozent die Truppe wieder verlassen. Er nennt das Beispiel eines Polizeipräsidenten, der von oben abgesetzt wurde und dann seine ganze Truppe mitgenommen habe.
In Masar-i-Sharif besuchen wir auch noch kurz das Lazarett. Es dient in erster Linie der Notfallbehandlung von Angehörigen der ISAF. Wenn Kapazitäten frei sind, werden vereinzelt auch einheimische Staatsbürger behandelt.
Wir besuchen einen jungen Soldaten, der am Vortag in Kundus von einer Panzerfaust schwer am Kopf verletzt wurde, sowie einen Angehörigen der ANA und einen alten Mann aus Mazar-i-Sharif. Das Problem bei der Behandlung der afghanischen Patienten ist, dass nach einer Erstbehandlung keine Weiterbehandlung und keine optimale Versorgung mit Medikamenten möglich ist.
Kundus: Im Krieg – wäre ich nicht arm, hätten wir kein Benzin gebraucht
Die Transall landet im steilen Sinkflug in Kundus, um die Gefahr von Raketenbeschuss zu minimieren. Wir sind angekommen im Krieg. Der Flughafen wird nur militärisch genutzt. Wir werden von schwer bewaffneten Soldaten in Empfang genommen. Von diesem Moment an ist das Gefühl der ständigen Bedrohung präsent.
Am Rande des Flughafens liegen die Wracks russischer Panzer. Das Heck eines russischen Kriegsflugzeuges ist als Trophäe auf dem Flugfeld aufgebaut. Die Soldaten haben darauf »Kundus Airfield« geschrieben, dazu die deutsche Flagge – die bittere Ironie, Siegessymbole auf die Überreste einer untergegangenen Supermacht zu malen, ist ihnen offensichtlich entgangen.
Wir setzen uns in die gepanzerten Geländewagen und rasen vorbei an dem Gelände der US-Sicherheitsfirma Dyncorp, die in Afghanistan unter anderem Polizisten der ANP ausbildet, zum deutschen Provincial Reconstruction Team (PRT).
Das PRT ist eine Festung. Als wir den mehrfach bewachten Eingangsbereich passieren, schwinden unsere letzten Illusionen, dass das PRT vor allem etwas mit Wiederaufbau zu tun haben könnte. Das PRT ist ein Militärlager. Hier leben über 1.300 Soldatinnen und Soldaten, hier befindet sich der Kommandostab, die Sondereinheit Taskforce 47, eine Abteilung mit 20 CIMIC (Zivilmilitärische Kooperation)-Mitarbeitern, eine Sanitätsstation und ein großer militärischer Fuhrpark.
Wir treffen uns mit Frau Korshid Zaka und Frau Dr. Habibe Erfan, die sich für die Opfer und Hinterbliebenen des Bombenangriffes von Kundus einsetzen. Beide sind Mitglieder des Provinzrates. Frau Dr. Erfan ist 45 Jahre alt, eine energische, sympathische Frau. Sie hat 15 Jahre als Frauenärztin praktiziert, war fünf Jahre beim Roten Halbmond und hat sieben Kinder. Sie ist bei der NGO Afghan Women and Gender Rights Protection Organisation.
Sie und Frau Saka haben als Mitglieder des Provinzrates in den Tagen nach dem Bombenangriff an der Trauerfeier für die Opfer teilgenommen. Dort wurde ihnen klar, dass anders als offiziell behauptet auch viele Zivilisten ums Leben gekommen sind. Sie sind dann in den betroffenen Dörfern – sechs an der Zahl – von Haus zu Haus gegangen und haben eine Liste der Opfer erstellt. Die Gefahr dabei war ihnen bewusst und ist ihnen heute noch präsent, denn sie sind mit ihrer Arbeit, sowohl der Regierung als auch den Taliban, ein Dorn im Auge. Trotzdem kämpfen sie weiter für die Opfer, denn beide sind überzeugt: »Wir müssen etwas tun.« Darüber hinaus kümmern sich die Frauen um die Betreuung einzelner Opfer.
Über die beiden Frauen vereinbaren wir ein Treffen mit Augenzeugen und Hinterbliebenen. 17 von ihnen aus verschiedenen Dörfern werden am nächsten Tag in das Hotel Kundus kommen, um uns ihre Geschichte zu erzählen.
Jeder von ihnen hat Verwandte verloren. Einige haben Fotos und Dokumente der Toten mitgebracht. Eine Familie war gerade 10 Tage vorher aus dem Iran gekommen, sie haben uns ihre Flüchtlingsausweise aus dem Iran gezeigt. Mehrere von ihnen sind im Feuerball gestorben.
Wir sprechen mit zwei Augenzeugen des Bombenangriffes. Wazir Gul hat schwere Verbrennungen am Rücken und eine Verletzung am Bauch erlitten. Noor Djan war wenige Tage vor dem Angriff aus dem Iran zurückgekehrt. Seine rechte Hand ist abgerissen, sein rechter Arm nur notdürftig wieder angenäht worden, er hat große Schmerzen. Er sagt: »Jeden Tag wünsche ich mir, ich wäre doch getötet worden.«
Beide sind in der besagten Nacht nach dem Gebet, wie viele junge Männer und Kinder, zu der Menschenmenge geeilt – teils aus Neugier, teils um Benzin abzuzapfen.
Eine alte Frau namens Bulbul fängt an zu weinen. »Wäre ich nicht arm, hätten wir kein Benzin gebraucht«, klagt sie. Sie hat drei Enkelkinder verloren.
Auch Leilas Sohn wollte Benzin holen. Sein Bruder hat ihn begleitet. Sie waren 13 und 15 Jahre alt. Nun sind beide tot. Sie hatten ihrer Mutter, die seit drei Jahren verwitwet ist, viel Arbeit abgenommen. Der eine hat das Feld bestellt, der andere hat sich um die Kuh gekümmert. Diese Arbeit muss Leila jetzt mit erledigen. Sie ist auf Leihgaben ihrer Verwandten angewiesen und kann ihre drei weiteren Söhne und die beiden kleinen Töchter kaum ernähren. »Wenn es mittags Kartoffeln gibt, gibt es abends nur Brot,« erzählt sie.
Auf großen Druck hin hat die Bundeswehr ein Soforthilfeprogramm versprochen. Die Hilfe wird wenige Tage nach unserer Reise endlich ausgeliefert, an insgesamt 1.200 Personen. Grundlage für die Verteilung waren die Listen des Teams von Frau Zaka und Frau Dr. Erfan. Die Bundesregierung besteht darauf, dass diese Hilfe in keinem Zusammenhang mit dem Angriff vom 4. September steht, allerdings wird die Soforthilfe speziell in den sechs betroffenen Dörfern und vor allem – aber nicht nur – an die von Frau Zaka und Frau Dr. Erfan identifizierten betroffenen Familien ausgeliefert.
Die Dorfbewohner können die Hilfen gebrauchen, eine Wiedergutmachung ist das nicht. »Was soll ich mit Decken,« Sagt Abdul Hannan, dessen zwei Söhne getötet wurden, »Ich habe meine Liebsten verloren.«
Zurück im Camp treffen wir uns mit weiteren Funktionsträgern aus der Region Haji Mahd Amin Eimaar, Haji Amanullah Otmanzai, Haji Adul Samad und Haji Mohamad Isar. Es sind vier Dorfälteste, die eng mit der Bundeswehr zusammenarbeiten. Sie betonen, wie sicher es im Norden sei, dass man »nicht traurig« sein solle wegen der Toten des Bombenangriffs. Man solle lieber positiv nach vorne schauen und nicht »aus einer Mücke einen Elefanten machen.« Die größte Sorge der vier ist es, dass die Bundeswehr abziehen könnte. Anders klingt dagegen Abdul Wahed Omarkheil, der Distriktmanager von Char Darah: »Die Bundeswehr soll das PRT abbauen und mit dem Geld 20 Schulen schaffen.«
Zudem sprechen wir mit Oberst Kai Rohrschneider, dem Nachfolger von Oberst Georg Klein. Er ist der militärische Leiter des PRT. Er sieht das größte Problem Afghanistans im Verwaltungsaufbau. Ein Problem dabei sei die Zentralisierung. Provinz-Gouverneure haben keinen eigenen Etat, alles muss in Kabul genehmigt werden. Jetzt soll als Versuch einigen Governeuren ein kleiner Etat gegeben werden. Entscheiden können sie momentan eigentlich nur über die Verteilung der westlichen Hilfen.
Oberst Rohrschneider ist ein offener, wortgewandter Mensch. Ein ganz anderer Typ ist der Leiter der Task Force 47 (TF 47), Herr Tisch, mit dem wir kurz sprechen können. Ein alter Haudegen, der nur widerwillig von seiner Arbeit berichtet:
Die TF 47 wird vom Einsatzführungsstab 6 im Verteidigungsministerium (BMVg) geführt, die »normalen« Bundeswehreinheiten hingegen vom Einsatzführungsstab 3. Über beiden steht General Krause im BMVg im Bendlerblock. Die formale Befehlskette geht jedoch zum ISAF SOF Command (special operation force). Die Existenz von TF 47 oder KSK an sich ist nicht geheim sondern nur spezielle Operationen. Ihre Aufgaben sind das Aufspüren und offensive Operationen gegen Ziele und Zielpersonen. Aber auch Unterstützung von RC North, zum Beispiel bei der Bergung Verwundeter. Truppensteller für TF 47 sind unter anderem das Kommando Spezialkräfte (KSK) sowie die Sondereinsatzkräfte der Marine (Kampfschwimmer), aber auch andere Truppenteile; auch der BND ist mit dabei.
Herr Tisch will keine Angaben zur Größe der TF 47 machen und verweigert uns auch den Zugang zum Gefechtsstand der TF 47, in dem in der Nacht vom 4. September der tödliche Befehl zum Bombenabwurf erteilt wurde.
Kabul: Stadt der Extremen Gegensätze – mehr Soldaten, mehr Probleme
Wir landen auf dem militärischen Teil des Flughafens in Kabul. Im Konvoi mit gepanzerten Wagen der Botschaft geht es in die Stadt. Die ersten Kilometer fahren wir eine Straße längs, die rechts und links mit Mauern abgeschirmt ist, überall Wachposten hinter Sandsäcken, Gewehr im Anschlag.
Die Straße zum Flughafen gilt als anschlagsgefährdet. Unser Ziel ist die deutsche Botschaft. Der Konvoi drängelt sich durch die Straßen und biegt nach einiger Zeit in eine abgesperrte Straße ein. Hier liegen die westlichen Botschaften, die UNAMA (die Afghanistanmission der UNO) und andere. Zugang hat man zu dieser Straße nur mit Diplomatenkennzeichen. Das ganze Zentrum von Kabul scheint hinter provisorischen Betonmauern zu verschwinden, schwer bewaffnete Wachhäuser wechseln sich ab mit großen Betonklötze als Sperren gegen Autobomben.
Botschafter Werner Lauk gibt uns eine kurze Einführung in die politische Situation, dann geht es zum Hotel Serena, das einzige, dass uns als sicher empfohlen wird, ein anderes akzeptieren unsere Personenschützer nicht. Geschützt durch eine hohe Mauer, zwei schwere Tore und viel Sicherheitspersonal. Mehrfach hat es schon Angriffe auf das Nobelhotel gegeben. Wir fühlen uns wie im falschen Film, als unsere gepanzerte Wagenkolonne aus dem staubigen Kabul an den Panzersperren vorbei in den Innenhof von 1001er Nacht einfährt. 281 US$ kostet der günstigste Raum. Das Bruttoinlandsprodukt Afghanistans pro Kopf lag 2009, laut CIA, bei 800 US$.
Auch wenn wir die Stadt nur durch die schusssicheren Scheiben unserer gepanzerten Fahrzeuge sehen: Kabul ist gezeichnet vom Krieg. Viele Gebäude sind zerstört, nur ein Teil der Straßen befestigt. Eine schmutzige Dunstglocke hängt über der Stadt. Eine Schafherde steht in einem Müllhaufen und frißt Müll. Man sieht viele Kriegsverletzte auf den Straßen. Die Menschen sind jedoch erfinderisch. Wir sehen einen Mann, der beide Beine verloren hat und mitten im dichten Verkehr mit einem selbstgebauten Handfahrrad unterwegs ist.
Ziviler Aufbau – nicht vom Acker geschossen
Unser erstes Treffen haben wir mit Vertreterinnen und Vertreter der regierungsamtlichen entwicklungspolitischen Organisationen. Darunter der Deutsche Entwicklungsdienst (ded), der zivile Friedensdienst, die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (gtz), die Kreditanstalt für Wiederaufbau aber auch eine Vertreterin des BMZ.
Alle bemühen sich von erfolgreichen Projekten, in den Bereichen Wasser, Bildung, nachhaltiges Wirtschaften und Energie, zu berichten. Auf die Nachfrage, was es denn für eine konkrete Bilanz nach 8 Jahren gäbe, winkt Ingrid Sobel, Geschäftsführerin des DED, ab. Es werde noch 1-2 Generationen dauern, bis eine nachhaltige Veränderung »in den Köpfen der Menschen« erreicht sei.
Im Zentrum der Erfolgsmeldungen steht die verbesserte Stromversorgung Kabuls über das sog. North East Power System (NEPS). 80% der EinwohnerInnen von Kabul hätten jetzt regelmäßig Strom, ohne Zweifel ein beachtlicher Erfolg – allerdings einer, der bei genauerer Betrachtung relativiert werden muss. Wadir Safir sagt uns später: »Das mag ja sein, aber bei meiner Mutter, die 30 Minuten von Kabul entfernt lebt, ist es weiterhin stockduster.«
Gunnar Wälzholz von der KfW berichtet von dem Problem der Wasser Ver- und Entsorgung. Die Situation in der Millionenstadt Kabul ist dramatisch. Die Bevölkerung hat sich in den letzten zehn Jahren auf 5 Millionen verzehnfacht. Die Stadt hat kein Abwassersystem. Ein im Oktober 2009 veröffentlichter ‚Masterplan‘ für das Stadtgebiet Kabul und die in den nächsten Jahren noch zu erschließenden Gebiete (Neu-Kabul) beinhaltet den Bedarf von 1,55 Milliarden US$ für die Einrichtung von Abwasserkanälen, Kläranlagen und Regenwasserableitung. Um das Wachstum der Stadt irgendwann einzuholen, wäre ein jährlicher Investitionsbedarf von mindestens 50-80 Mio. US$ allein für Abwasser erforderlich. Das beinhaltet noch nicht die notwendigen Millionenbeträge, die nötig wären, um das Abwassersystem zu betreiben und unterhalten.
Bettina Otte von der GTZ betont, dass es in vier Jahren gelungen sein wird, 700.000 Schülerinnen und Schülern eine 9-jährige Grundausbildung zu vermitteln. Problem ist, dass es nur 55 berufsbildende Schulen mit 1000 Lehrerinnen und Lehrer gibt – von denen zudem viele kurz vor der Pensionierung stehen.
Wir wollen wissen, ob es stimmt, dass die neu gebauten Schulen gleich wieder von den Taliban zerstört werden, wenn sie nicht militärisch geschützt werden. Das wird von allen Beteiligten scharf zurückgewiesen. Entscheidend sei, dass schon bei der Planung und beim Bau die Bevölkerung und die traditionellen Strukturen vor Ort mit eingebunden werden müssen. Wer am Bau einer Schule mitarbeite, verteidige sie hinterher auch, anstatt sie zu zerstören.
Carl Taestensen leitet das Risk Management Office der GTZ. Er berichtet von einem Straßenbauprojekt in der schwer umkämpften Provinz Uruzgan. Vorher hätten sie alle gewarnt, da würden sie »vom Acker geschossen«. Aber am Ende konnten sie erfolgreich dort arbeiten, ohne Militär dabei zu haben und ohne gefährdet zu sein. Dafür gab Carl Taestensen zwei zentrale Gründe an:
Zum einen haben sie vorab eine Studie über die Strukturen und Machtverhältnisse in der Provinz in Auftrag gegeben. Wer schießt dort eigentlich auf wen, und warum? Wer muss eingebunden werden in die Planung, damit die Bevölkerung vor Ort das Projekt auch wirklich als eigenes Projekt wahrnimmt? Durchgeführt hat die Studie das »Tribal Liaison Office« der afghanischen Regierung, das sehr gute Kontakte in vielen Provinzen hat und mit lokalen Mitarbeitern arbeitet, um ein umfassendes, realistisches Bild von den Verhältnissen vor Ort zu bekommen.
Außerdem haben sie sich nicht darauf beschränkt, mal schnell einen Brunnen zu bohren, sondern sie haben langfristige Projekte angelegt, die der Region dauerhaft helfen und vor allem auch Arbeitsplätze schaffen. Über die Brunnen hinaus haben sie auch landwirtschaftliche Strukturen – zum Beispiel zum Anbau von Früchten – unterstützt, und dann auch noch die Weiterverarbeitung (Trocknung oder Konservierung). So bleibe die ganze Wertschöpfungskette in der Provinz, es werden Arbeitsplätze und damit eine Perspektive für die jungen Menschen geschaffen.
Am Ende war das Projekt so erfolgreich, gerade weil die Entwicklungshelfer ohne das Militär in die Provinz gegangen sind – ein starker Gegensatz zu den CIMIC-Einheiten der Bundeswehr, die momentan vor lauter Kämpfen praktisch kaum noch dazu kommen, Brunnen zu bohren oder Schulen zu bauen – geschweige denn dauerhafte Arbeitsplätze aufzubauen. Bei einem Empfang in der deutschen Botschaft treffen wir auch den Leiter des Tribal Liaison Office, der uns berichtet, dass die deutsche Regierung ihn jetzt beauftragt habe, eine ähnliche Studie wie in Urusgan jetzt auch in der Provinz Kundus durchzuführen – eine gute Idee, die allerdings acht Jahre zu spät kommt.
Frau Dr. Alima vom Zivilen Friedensdienst arbeitet seit 2004 in Kabul und versucht, durch ein Fernsehprogramm und mobiles Theater lokale Konfliktlösungsmodelle zu verbreiten. Ihrer Einschätzung nach ist die Sicht der Bevölkerung auf das Militär negativ. Sie selbst sieht eine Truppenaufstockung kritisch und fordert dagegen mehr zivilen Aufbau.
Sie sieht die Beschlüsse der Londoner Konferenz zur Reintegration von Taliban sehr kritisch. Es sei nicht einzusehen, dass Ex-Taliban finanzielle Unterstützung bekämen, die anderen Arbeitslosen dagegen nicht. Sie kritisiert zudem scharf das Amnestiegesetz von 2007 und fordert eine Wahrheitskommission zur Aufarbeitung der verschiedenen Kriegsverbrechen in Afghanistan.
All diese Beispiele zeigen, dass Wiederaufbau jenseits militärischen Besatzung und politischer Einflussnahme der westlichen Regierungen möglich wäre.
Unser nächster Termin ist im Headquarter von ISAF. Wir haben einen Termin mit dem Leiter der ISAF »Stability Division«, Hermann Nicolai. Diese Abteilung ist Knotenpunkt für die Kommunikation zwischen ISAF , der afghanischen Regierung und anderen Regierungsorganisationen. Sie ist bereits vor einem Jahr unter McChrystals Vorgänger Mc Kiernan eingeführt worden. Ihre Philosophie ist, dass die Aufstandsbekämpfung eine starke zivile Komponente brauche, entlang der Doktrin von McCHrystal, der zu Beginn seiner Dienstzeit gefordert hat, dass 40 Prozenz der Arbeit von ISAF Wiederaufbau sein müsse. Das bezieht Herr Nicolai vor allem auf die Frage des Staatsaufbaus bzw. auf die Wahrnehmbarkeit des Staates auf der Distriktebene. Er berichtet, dass die Taliban oft de facto Funktionen der Lokalverwaltung oder der Gerichtsbarkeit wahrnehmen , z.B. die Regelung von Streitigkeiten über Landfragen. Das würde ihnen bei der Bevölkerung, die von den regulären Strukturen außer Korruption nichts zu erwarten hätten, Respekt verschaffen.
Die Strategie von ISAF heiße »shape« (Gelände klären, Truppen in Stellung bringen), »clear« ( Taliban bekämpfen und vertreiben), »hold« (halten, Vertrauen aufbauen), »build« (Provinzverwaltung stärken, Polizei rein). Unser persönlicher Eindruck ist, dass ISAF beim shape & clear stecken geblieben ist und. Die Strategic Division der ISAF verdeutlicht das gesamte Dilemma des Afghanistan-Krieges: Für die NATO-Staaten ist das Zivile ausschließlich vom Militärischen her gedacht. Der zivile Aufbau dient ausschließlich der Flankierung der militärischen Operationen.
Bei der UNAMA sprechen wir mit deren Leiter Robert Watkins. Er ist mit den Ergebnissen der Londoner Konferenz zufrieden und sieht sich in der Einschätzung bestätigt, dass der Krieg nicht mit militärischen Mitteln zu gewinnen ist. Er argumentiert für eine verstärkte Ausbildung afghanischer Armee und Polizei und dafür, dem Militär ein stärkeres »Afghanisches Gesicht« zu geben. Seine große Sorge ist die hohe Anzahl an zivilen Toten. Watkins kritisiert, dass die PRTs mit der Regierung um den Wiederaufbau konkurrieren. Einige Länder wie Kanada geben jetzt weniger Geld über PRTs und mehr direkt über die Regierung (sie haben den Anteil, der über die PRTs läuft, von 75 auf 50 Prozent reduziert).
Im Parlamentsgebäude treffen wir mit dem Vizepräsidenten der Wolesi Jirga, dem Unterhaus, zusammen. Amanullah Paiman führt das Gespräch. Er ist offensichtlich unzufrieden darüber, dass Karsai und die internationale Gemeinschaft kein Vertrauen in das Parlament setzen. So hat Karsai sein Vorgehen bei der Londoner Afghanistankonferenz nicht mit dem Parlament vordiskutiert.
Unzufrieden ist er auch mit der Bilanz des Wiederaufbaus acht Jahre nach Beginn des Krieges. Er stellt auch fest: »Da wo die PRTs sind, ist weniger für den Aufbau getan worden«
Sein Kollege Al Satar Khawasi betont die Kluft zwischen den ausländischen Truppen und den Afghanen. So gäbe die US-Armee Millionen von Dollar im Jahr für Mineralwasser für ihre Soldaten aus, sie hingegen müssten das dreckige Wasser trinken. Auch könne man für das Geld, dass ein US-Soldat kostet, 100 Afghanen bezahlen.
Grundsätzlich stimmt Paiman mit den Beschlüssen der Londoner Afghanistankonferenz überein. Aber er meint auch: mit mehr Soldaten wird der Westen nicht als Gewinner dastehen. Er sagt: »Mehr Soldaten – Mehr Probleme.«
Hoffnungsträger – no justice, no peace
Mit Ramazan Bashardost treffen wir uns in seinem kleinen Abgeordnetenbüro. Bashardost steht genauso wie Malalai Joya für das andere, das neue, das fortschrittliche Afghanistan. Er war bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Herbst der Drittplatzierte. Er konnte 11 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Das Besondere: Er wurde in allen Provinzen und von allen Bevölkerungsgruppen gewählt.
Als Angehöriger der traditionell diskriminierten Volksgruppe der Hazara bekam er quer durch die Bevölkerung starke Unterstützung. Sein Wahlergebnis liegt in allen Provinzen zwischen 5 und 20%. Bashardost ist das Gegenbild zu dem korrupten, elitären pro-westlichen Politikertypus, der in Afghanistan das Sagen hat. Er fährt mit seinem kleinen Auto durchs Land, wohnt im Zelt und lehnt den Schutz durch Bodyguards ab.
Bashardost kritisiert, dass der Wiederaufbau nicht vorangeht. In der Provinz Tahar gibt es eine Brücke, die überschwemmt und all die Jahre nicht aufgebaut wurde. Nur 20 Prozent des landwirtschaftlich nutzbaren Landes würden bebaut. 85 Prozent der Bevölkerung seien Bauern, aber 70 Prozent von ihnen hätten keine Arbeit. Man bräuchte 2-3 große Staudämme, aber keine würden gebaut.
Er kritisiert scharf die ausländischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Sie würden einen Löwenanteil des Geldes, dass deutsche und andere Steuerzahler für den Wiederaufbau zahlen, selbst einstreichen und für sich und ihre Mitarbeiter ausgeben. Ob wir auch 80.000 US$ teure Autos fahren würden, möchte er von uns wissen. Wir schütteln den Kopf, denn wir fahren alle nur Fahrrad.
Die Regierung Karsai hält Bashardost für korrupt und kriminell. Er fragt uns ob wir in Afghanistan seien um Verbrecher zu unterstützen oder um zu helfen? Die Gründe, die Merkel, Karsai und andere für den Krieg geben, seien falsch. Sie haben die früheren Mörder an die Macht gebracht. »Der erste Schritt in Richtung Frieden ist, dass diese Mörder wegkommen,« sagt Bashardost. »Alle, die an den Kriegsverbrechen der vergangenen 30 Jahre beteiligt waren, dürfen nicht mehr in die Politik. Denn wenn die Mudjaheddin an der Regierung sind, kämpfen die Taliban in den Bergen und umgekehrt.« Dabei setzt er große Hoffnung auf die junge Generation, die heranwächst.
Bashardost ist sicher, dass die Menschen in Afghanistan Minister haben wollen, die helfen. »Wir sind durstig nach Frieden und Freiheit. Gebt das Geld den Menschen und nicht für Militär. Dann braucht ihr kein Militär mehr. Wenn ihr weitermacht wie bisher, könnt ihr noch 100 Jahre Soldaten schicken.«
Uns gelingt es ein Treffen mit Malalai Joya zu vereinbaren. Malalai lebt seit der Suspendierung vom Parlament vor drei Jahren unter ständiger Bedrohung und muss regelmäßig ihren Aufenthaltsort wechseln.Sie hatte das Parlament öffentlich kritisiert.
Wir sind erstaunt, wie bekannt Malalai ist. Unser afghanischer Fahrer von der deutschen Botschaft kennt Malalai genauso wie Ramazan Bashardost. Auch die Frau an der Sicherheitskontrolle des Hotels kennt die kleine Person mit der Burka. »Sind sie nicht Malalai Joya. Ich wußte gar nicht, dass Sie in Kabul sind. Passen sie auf sich auf!«
Malalai Joya geht hart mit der Regierung Karsai und der NATO ins Gericht. Von ihr erfahren wir auch etwas über die Stimmung im Land: »Eine der wenigen positiven Sachen, die uns dieser Krieg beschert ist, dass die Menschen heute politisch viel wissender sind als zuvor. Sie kennen die Feinde des Landes, sie wissen, wer ihr Land zerstört hat, wie schwach das Karsai-Regime in Wirklichkeit ist. Täglich kommt es zu immer mehr Demonstrationen, über die niemand berichtet.«
Zum Abschluss treffen wir uns mit Wadir Safi. Er ist Professor für Völkerrecht an der Universität Kabul und leitet den Aufbau des Gerichtswesen in Afghanistan. Er berichtet, dass es eine Menschenrechtskommission gegeben hat, die 2002 bis 2004 arbeitete und 2005 ihre Ergebnisse vorgestellt hat. Darin heißt es, dass 96 Prozent der Afghanen Opfer derjenigen sind, die jetzt an der Macht sind. 46 Prozent der afghanischen Bevölkerung hätten sich dafür ausgesprochen, dass die Täter zwar nicht bestraft werden, aber von der Macht entfernt werden müssen.
Es müsse einen Übergangsprozess geben, in dem Gerechtigkeit hergestellt wird. »Ohne Gerechtigkeit wird es keinen Frieden geben – No Justice, No Peace.«
Zusammenfassung
Ob arm oder reich, ob Kabul oder Provinz: Praktisch alle AfghanInnen, mit denen wir gesprochen haben, lehnen die Regierung Karsai ab, verachten sie gar.
Das ist darauf zurückzuführen, dass es einen hohen Grad an Korruption und einen erheblichen Mangel an Demokratie gibt. Die Lage der Bevölkerung hat sich seit Kriegsbeginn kaum zum Positiven gewendet, und in der Regierung sitzen Minister, die selbst an Kriegsverbrechen, Drogengeschäften und Korruption beteiligt sind.
Das erklärt vielleicht auch, warum immer mehr Gruppen gegen die ausländischen Truppen kämpfen und die Taliban in vielen Gebieten eine doch erhebliche Unterstützung bei der Bevölkerung genießen.
Die Bundesregierung und die NATO sagen, sie wollen zivile Opfer vermeiden. Aber die Aufständischen, die sie bekämpfen, sind eng mit der Bevölkerung verbunden. Viele Aufständische sind auch Zivilisten – ein Zivilist erscheint den Soldaten als potentieller Aufständischer. Das heißt: Militärische Aufstandsbekämpfung und Schutz der Bevölkerung sind unvereinbar.
Die Haltung mit der die Bundeswehrsoldaten der Bevölkerung gegenüber ist dementsprechend von Angst geprägt, keine Grundlage, um zu einer Zusammenarbeit zu kommen, die sich an den Bedürfnissen der Menschen in Afghanistan orientiert.
Es ist absolut irreführend von »Ausbildungs- und Schutztruppen« zu sprechen. Die Schutztruppen sind die Kampfsoldaten, die die anderen in die gefährlichen Gebiete begleiten. Insofern heißen 850 Ausbildungs- und Schutztruppen, die der Bundestag im Februar 2010 beschlossen hat, vor allem Kampftruppen und nichts anderes. Polizei in Afghanistan ist militärisch – d.h. der Polizeiaufbau ist Teil des militärischen Besatzungskonzepts.
Einige Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner unterstützten unsere Forderung nach einem sofortigen und bedingungslosen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan, andere erhoffen sich Schutz von ihr. Für uns hat sich die Einschätzung bestätigt, dass die Präsenz der Bundeswehr und der NATO immer wieder zur Eskalation führt.
Die von der Bundesregierung hochgehaltene Zivilmilitärische Kooperation, CIMIC, hat mit Entwicklungshilfe nichts zu tun, sondern dient dazu, den Militäreinsatz zu flankieren. Langfristige Projekte sind überall in Afghanistan, auch in Taliban-Hochburgen und in stark umkämpften Gebieten möglich, wenn sie unabhängig vom Militär sind. Das berichteten uns Vertreter der deutschen Entwicklungshilfe. Notwendig sei es die Situation vor Ort sorgfältig zu analysieren und die Menschen von Beginn an einzubinden.
»No justice, no peace« – ohne Gerechtigkeit keinen Frieden. Das ist die klare Botschaft vieler unserer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner. Sie fordern nicht nur die Verbrechen der Taliban zu ahnden, sondern auch die der vorherigen Bürgerkriegsparteien, von denen viele Vertreter in der jetzigen Regierung sitzen. Das ist wichtig in Hinblick auf den Versöhungsprozess (Reconciliation).
Die Bombardierung vom 4. September hat mehrere Duzend Kinder und Jugendliche das Leben gekostet, viele Zivilisten wurden getötet. Für uns ist eine zentrale Frage. Warum wusste die Bundeswehr das nicht vor dem Angriff, welcher Fehlinformation sind sie hier aufgesessen oder warum haben sie trotzdem bombardiert.
Wir wollen Gerechtigkeit für die Opfer. Die Soforthilfe wurde verteilt, aber es muss auch dauerhaft für die Witwen und Waisen und die verletzten Überlebenden gesorgt werden.
Zu den Personen:
Christine Buchholz und Jan van Aken sind Friedensaktivisten und Bundestagsabgeordnete der LINKEN. Beide bereisten vom 29. Januar bis zum 3. Februar Afghanistan. Sie sind die ersten Abgeordneten, die sich mit Opfern des deutschen Luftangriffs in Kundus getroffen haben. Beide gehören dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss an, in dem die Bombardierung in Kundus untersucht wird.
Bild: Joseph Scanlan / Wikimedia
Schlagwörter: Afghanistan