In der Strategiedebatte der neuen Linksparteien in Europa spielen die Ideen von Nicos Poulantzas ein wichtige Rolle. Colin Barker über die politischen Stärken und Schwächen des marxistischen Staatstheoretikers
Hier haben wir den alten Verfassungsunsinn. Die Voraussetzung für eine »freie Regierung« ist nicht die Trennung, sondern die Einheit der Gewalten. Die Regierungsmaschinerie kann gar nicht einfach genug sein. Es ist immer die Kunst der Spitzbuben, sie kompliziert und geheimnisvoll zu machen. 1
Die marxistische Debatte über den Staat erfährt seit einigen Jahren eine willkommene Neubelebung. Dabei wird vor allem auf zwei Autoren Bezug genommen: Ralph Miliband und Nicos Poulantzas.2
Die Arbeit beider war Gegenstand ausgiebiger Kritik. Den einfühlsameren ihrer Kritiker3 war nicht entgangen, dass ihre jeweiligen Werke eine reformistische Interpretation zulassen. Aus ihren Schriften konnten revolutionäre Sozialisten durchaus Nutzen ziehen, aber ihre Argumentationslinie schloss reformistische Lehren nicht aus. Nicht etwa, weil Reformisten, wie wir wissen, alles gern nach Belieben in ihrem Sinne umdeuten. Vielmehr war die methodische Annäherung beider Autoren an den Staat und die kapitalistische Gesellschaft an sich ambivalent.
Die Kernproblematik zeigt sich etwas schematisch in einem von Poulantzas' Beiträgen für die Zeitschrift New Left Review, in dem er Miliband das Fehlen jeglicher »theoretischen Problematik« vorwarf. Er irrte sich allerdings, denn Milibands »Der Staat in der kapitalistischen Gesellschaft« enthält sehr wohl eine ausgeprägte »theoretische Problematik« oder »Gesellschaftstheorie«. Sie unterscheidet sich allerdings ganz erheblich von der Marx'schen Theorie. Poulantzas übersah das, weil er einfach denselben Fehler beging – wenn auch mit anderen Prämissen.
Was war der Fehler? Im Kern war es sein Unverständnis für Marx' großen Durchbruch gegenüber den klassischen Politökonomen, deren Kritik er einen Großteil seines theoretischen Lebens widmete. Marx' Errungenschaft auf diesem Gebiet lag vor allem in seiner Fähigkeit, die Kategorien der politischen Ökonomie – Wert, Kapital, Eigentum, Grundrente, Staat, Klasse usw. – zu hinterfragen und aufzuzeigen, dass diese Ausdruck historisch geschaffener Gesellschaftsbeziehungen waren. Vor allem wies Marx darauf hin, dass »Produktion« nur als gesellschaftlicher Prozess, durch den die Menschen ihre eigene Welt schaffen und erneuern, richtig verstanden werden könne. Sie sei weit mehr als eine einfache technische Beziehung zwischen Menschen und Natur, sie sei in erster Linie eine gesellschaftliche Tätigkeit, durch die die Menschen ihre eigene Geschichte und Gesellschaft erschaffen.
Um die Produktion zu verstehen, müsse man ihre unterschiedlichen gesellschaftlichen Formen begreifen. Zu Beginn seines Werks »Das Kapital« analysiert Marx daher die Ware als Ausdruck eines doppelten Produktionsprozesses: Sie ist zum einen ein für Menschen nützlicher Gebrauchswert, zum anderen stellt sie als Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Beziehungen zwischen den Produzenten Wert dar. Mit Waren stellen wir nicht nur nützliche Dinge, sondern zugleich eine bestimmte Gesellschaftsstruktur auf Grundlage entfremdeter gesellschaftlicher Beziehungen her.
Die Sprache der Politökonomie muss insgesamt neu entworfen werden, um diesen aktiven, gesellschaftlich kreativen Prozess aufzudecken. Arbeiter in kapitalistischen Fabriken stellen Autos, Stahl, Chemikalien, Zahnbürsten usw. her. In eben diesem Schaffensakt produzieren sie aber zugleich Mehrwert. Ihre Arbeitsaktivität nimmt eine Form an, in der sie ihre Bosse »reproduzieren«, indem sie die Mittel zur Fortsetzung ihrer eigenen Ausbeutung und Unterdrückung herstellen. Die gesamte Gesellschaftsordnung – die Familie, der Staat, die Wissenschaft, das Bildungssystem – wird stets von wirklichen und aktiven Individuen in ihren gesellschaftlichen Wechselbeziehungen zueinander produziert und reproduziert. Es ist nicht so, dass nur ein Teil der Gesellschaft die Gesellschaftsstrukturen und die Umwelt schafft, während sich der andere Teil passiv in diese Strukturen einfügt. Die gesamte Menschheitsgeschichte ist Ergebnis der Aktivitäten aller ihr angehörenden Individuen.
Revolutionäre sozialistische Politik setzt daher in Marx' Augen geschichtliches Bewusstsein voraus. Überhaupt beruht die politische Perspektive einer sozialistischen Gesellschaft, in der die gesamte Bevölkerung ihr Zusammenleben bewusst und nach einem demokratisch beschlossenen Plan gestaltet, auf einer Analyse des Kapitalismus und anderer Klassengesellschaften. Denn das, was die Menschen, Männer und Frauen, einmal geschaffen und neu gestaltet haben, können sie erneut entsprechend ihren selbstentwickelten Bedürfnissen und Auffassungen ummodeln. Die sozialistische Revolution mag einen noch so tiefen Bruch mit der Vergangenheit darstellen, sie führt kein vollkommen neues Prinzip der Selbstaktivität der Menschen in die Geschichte ein. Ohne diese Selbstaktivität wäre die gesamte vergangene Geschichte unbegreiflich.
Die »philosophischeren« unter Marx' Schriften bilden daher eine Einheit mit seiner revolutionären Politik. Seine Kritik Hegels und des mechanischen Materialismus zusammen mit seiner Kritik der politischen Ökonomie und der verschiedenen Spielarten des »Sozialismus von oben« sind aus einem Guss. Aus dieser Sicht bestimmt die jeweilige Form der gesellschaftlichen Beziehungen die verschiedenen »Produktionsweisen«. Die kapitalistische und andere Klassengesellschaften können nur im Licht des lebendigen Kampfes zwischen den Klassen begriffen werden. Vor allem sind die Aktionsformen und sozialen Beziehungen der unterdrückten Mehrheit unter sich wesentlich für ein Verständnis der Lebenserhaltungsmechanismen einer Gesellschaft und wie diese durch revolutionäre Praxis umgewälzt werden kann.
Nun sind die Analysen von Miliband und Poulantzas nicht deckungsgleich, aber beiden Werken fehlt ganz offensichtlich ein Verständnis von Klassenkampf, insbesondere der konkreten Aktionsformen der ausgebeuteten Klassen als zentrales und bestimmendes Element. Zwischen ihren Analysen und denen von Marx liegt eine erhebliche Distanz.
Wie Isaac Balbus4, einer der spitzfindigeren Kritiker Milibands, vermerkte, stützt sich Milibands »Der Staat in der kapitalistischen Gesellschaft« auf eine Gesellschaftstheorie, die Elite- und Hierarchiebildungstheorien miteinander verbindet. Seine gesamte Studie ist um dieses Thema herum aufgebaut: Es geht nicht um Klassenkampf, sondern um Klassenherrschaft, nur die herrschende Klasse erscheint als handelndes Subjekt. Die verschiedenen Einrichtungen, die er analysiert, scheinen weitgehend frei von Klassenkonflikten zu sein. Angesichts der Tatsache, dass sein Buch im Jahr 1969 veröffentlicht wurde, ist es doch bemerkenswert, dass er in seiner Untersuchung der Bildungspolitik an Schulen und Universitäten die Studentenrevolten nicht einmal erwähnt. Seine Analyse setzt daher sehr eindimensionale Akzente. Dort wo er auf die Existenzgrundlage der herrschenden Klassen zu sprechen kommt, hebt er nicht ihre Rolle in der Produktion hervor, sondern den Nutzen, den sie aus der Verteilung ziehen. Die herrschenden Klassen definiert er in erster Linie als passive Besitzer von Reichtümern und nicht als aktiv handelnde Kapitalisten. Die Arbeiterklasse wird ihrerseits als die Klasse definiert, die »am härtesten schuftet und am wenigsten bekommt«, und nicht als Klasse, deren Kämpfe und Organisationsformen die Gesellschaft prägen. Die Arbeiterklasse als aktive, kreative und kämpfende Klasse hat keinen Platz in seiner Erzählung, sie taucht lediglich als leidende Klasse auf. Wenn sie dann auf der letzten Buchseite überraschend doch als jene Kraft auftaucht, die eines Tages den Kapitalismus abschaffen wird, wirkt diese Idee eher wie ein dekorativer Schnörkel und nicht wie die Schlussfolgerung aus einer durchdachten Argumentation.
Was den Staat betrifft, lässt Miliband wenig Platz für eine Diskussion der verschiedenen institutionellen Mittel, mit deren Hilfe dieser heute die Arbeiterklasse von der Macht ausschließt. Vielmehr beleuchtet er seinen Klassencharakter mit Methoden der orthodoxen Soziologie: Nicht die Staatsstruktur ist maßgeblich, sondern die soziale »Herkunft« seiner leitenden Funktionäre und deren Anpassung an die Einstellungen der Reichen. Wie John Lea5 bemerkt, beantwortet er nicht die Frage, ob die »Staatsmaschinerie« von den Arbeiterparteien erobert und zum Wohl der Arbeiterklasse und zur Überwindung des Kapitalismus eingesetzt werden kann. Die staatlichen Strukturen, ihre charakteristische Bürokratie, die »Scheindemokratie«, die Form des Nationalstaats – das alles unterzieht er keiner Analyse und auch keiner Kritik.
Die Arbeit von Poulantzas wiederum beruht auf der »Althusser-Schule«, einem Denksystem, das bereits Gegenstand wichtiger Kritiken war.6 Das Althusser'sche System war in gewisser Hinsicht eine Reaktion auf die in seinen Augen »ökonomistische« Interpretation des Marxismus, wonach der historische Prozess Ergebnis veränderter »Produktivkräfte« ist, also eine Reaktion gegen den deterministischen Ansatz. Charakteristisch für den »Ökonomismus« (was Colletti den »Marxismus der Zweiten Internationale« nannte7) war die Behandlung der Produktion als technischer, und nicht gleichzeitig als gesellschaftlicher Prozess. Aber wie Simon Clarke feststellte, bedeutet der Versuch, der Falle des Ökonomismus zu entgehen, keineswegs, automatisch auf dem Boden des Marxismus zu landen. Es gibt noch andere Fallen als die des Ökonomismus. Althusser springt vom Regen in die Traufe, wo er sogar Marx' Werke im großen Stil umschreiben und neu interpretieren muss, um sie von ihren unzähligen Mängeln zu befreien.
An die Stelle des Ökonomismus setzt Althusser die Vorstellung von Gesellschaften als komplexe Systeme voneinander abhängiger Ebenen – der ökonomischen, der politischen und der ideologischen -, die sich gegenseitig durchdringen, wobei die ökonomische »in letzter Instanz« ausschlaggebend ist – diese »letzte Instanz« aber niemals eintreten wird, so Althussers Versprechen an seine Leser. Unzählige Kritiker haben darauf hingewiesen, dass Althussers System dem »strukturellen Funktionalismus« des konservativen amerikanischen Soziologen Talcott Parsons nahe kommt. Jedenfalls lässt es, wie Parsons System auch, Prinzipien der geschichtlichen Veränderung vermissen. So ist Geschichte als »Prozess ohne Subjekt« nichts anderes als eine Aneinanderreihung von Produktionsweisen, die jede für sich, frei von jeglichem inneren Keim der Zerstörung, »Ewigkeit« besitzt. Jede andere Vorstellung hieße, in die Falle des »Ökonomismus« oder »Historizismus« zu tappen. Althussers System ist in den Schlussfolgerungen extrem elitär: Er unterscheidet zwischen »Wissenschaft« und »Ideologie«. Letztere sei essenziell für jede Gesellschaftsform, weshalb auch der Sozialismus ein System sein wird, das letztlich nur von seinen wenigen »wissenschaftlich geschulten« Mitgliedern durchdrungen werden kann.
Poulantzas übernahm dieses System. Seine Darstellung des Staats ist in funktionalistischen Begriffen formuliert: Der Staat ist »der globale Faktor des gesellschaftlichen Zusammenhalts«. Der Staat als repressiver und zugleich ideologischer Apparat hält das ganze System zusammen. Nicht nur das, er gestaltet und strukturiert die Produktionsverhältnisse, indem er isolierte Individuen und somit die für die kapitalistische Gesellschaftsform typischen Konkurrenzverhältnisse erzeugt. Es ist keinesfalls so, dass der Staat aus den gesellschaftlichen Verhältnissen der kapitalistischen Produktion und des Tauschs »entsteht« oder »Ausdruck« dieser ist, er schafft selbst diese Verhältnisse. Bei der Übernahme des Althusser'schen Systems fügte Poulantzas jedoch ein Element hinzu, das für Althusser bloß Beiwerk war, nämlich Klassen. Aber seine Klassen entstehen auf der »relativ autonomen« »politisch-rechtlichen Ebene«, nicht im Schoß der Produktionsverhältnisse. Auf der »ökonomischen Ebene« entwickelt sich ein Produktionsprozess, die Produktion von Gütern, gestützt auf rein technisch begriffene »Produktionsverhältnisse« bestehend aus einer Kombination von Arbeitern, Maschinerie und Produktionsobjekten, und aus Nichtarbeitern. Nirgendwo in Poulantzas' Analyse stoßen wir auf eine Darstellung des Klassenkampfs als Aggregation gesellschaftlicher Verhältnisse, über die die Menschen die kapitalistische Gesellschaft herstellen. Gesellschaftliche Beziehungen sind für Poulantzas politisch verfasst, in der »relativen Autonomie« der politisch-rechtlichen Sphäre.
Trotz aller Unterschiede zwischen Miliband und Poulantzas (nicht zuletzt, was die Verständlichkeit ihrer Texte betrifft) haben sie einen gemeinsamen Ausgangspunkt. Beide begreifen die Produktionsverhältnisse als technische, denen sie dann gesellschaftliche (Klassen-)Verhältnisse von Verteilung, Eigentum und Aneignung aufpfropfen. Deshalb haben beide Schwierigkeiten, im Rahmen ihrer Analyse Veränderungen zu erklären. In ihren Abhandlungen über den Faschismus beispielsweise (ein kurzer Abschnitt bei Miliband, ein ganzes Buch bei Poulantzas) stellen sie keinen Bezug zur Krise des Weltkapitalismus zwischen den beiden Weltkriegen her, keiner untersuchte die Formen des Klassenkampfs unter Hitler und Mussolini. Trotz heftiger Dispute in Einzelfragen greifen beide auf ähnliche Analysen von Ideologie und »ideologischen Apparaten« zurück, die sie als in sich stimmig und widerspruchsfrei darstellen und keinesfalls als Ideen, die im Auf und Ab von Klassenkämpfen herausgebildet und umgebildet werden.
Um mit Althusser zu sprechen, gibt es eine merkliche »Leerstelle« bei beiden Autoren. Es fehlt bei ihnen eine Schilderung des Klassenkampfs mit seinen Wurzeln in den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen des Kapitalismus als das entscheidende organisierende und desorganisierende Moment in den gesellschaftlichen Beziehungen einer kapitalistischen Gesellschaft. Der praktische Kampf von Arbeitern spielt bei ihnen kaum eine Rolle. In dieser ganz entscheidenden Hinsicht bot der analytische Bezugsrahmen beider Autoren schon immer Spielraum für eine reformistische politische Interpretation.
Ein endgültiges Urteil war lange nicht möglich. Aber nun haben beide Autoren mit neuen Büchern mit explizit reformistischer Programmatik den politischen Absprung gewagt. Miliband beschließt sein jüngstes Werk »Marxismus und Politik« mit Betrachtungen über das chilenische Debakel. Die Lehre, die er aus dem Sturz des Allende-Regimes zieht, lautet im Kern, wir sollten dieselbe Erfahrung wiederholen, nur dass es beim nächsten Mal eine Gruppierung von Sozialisten geben wird, die der sozialistischen Regierung die Notwendigkeit der Vertiefung des gesellschaftlichen Transformationsprozesses zu ihrem eigenen Schutz aufzeigen wird. So wird es zu einer gesellschaftlichen Revolution kommen – aber ohne den ganzen Sturm und Drang einer wirklichen Revolution.8
Und jetzt liegt auch Nicos Poulantzas' Buch »Staatstheorie – Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus«9 vor, das in allen wesentlichen Aspekten das Ende der berühmten »Miliband/Poulantzas-Debatte« verkündet. Denn beide sind sich in zentralen politischen Fragen einig. Beide ordnen sich dem »linken Flügel« – ein zweifelhafter Begriff – der heutigen »eurokommunistischen« Tendenz zu. Beide haben ganz unmissverständlich mit jenem Marxismus gebrochen, der, wie Marx selbst, darauf beharrt, dass »die Befreiung der Arbeiterklasse die Tat der Arbeiter selbst sein [muss]«.10
Poulantzas' Vorschläge
Poulantzas schlägt vor, dass der Übergang zum Sozialismus auf zwei Ebenen erfolgen muss. Zum einen muss das parlamentarische System von der Linken benutzt und zugleich als integraler Bestandteil sozialistischer Politik verteidigt werden. Zum anderen müssen parallel dazu Arbeiterräte, beziehungsweise »Selbstverwaltungsorgane« entstehen, die nach dem Prinzip der direkten Demokratie organisiert sind.
Das Grundproblem eines demokratischen Wegs zum Sozialismus und eines demokratischen Sozialismus ist die Frage, wie man eine radikale Transformation des Staats in Gang setzen kann, wenn man die Ausweitung und Vertiefung der Freiheiten und Institutionen der repräsentativen Demokratie (die auch eine Errungenschaft der Volksmassen waren) mit der Entfaltung von Formen der direkten Demokratie und von Selbstverwaltungszentren verbindet?11
Das »Grundproblem« besteht in »einer Verbindung der transformierten repräsentativen Demokratie mit der direkten Basisdemokratie«12; »den Sozialismus gibt es nur als demokratischen Sozialismus«.13 Auf nationaler Ebene soll sich die Regierung auf parlamentarischer Grundlage organisieren. Und sie soll, wie er in einem Interview mit Henri Weber deutlich macht, durch allgemeine und geheime Wahlen zustande kommen, ohne »imperatives Mandat« für die Parlamentsvertreter, ohne Recht auf Abberufung14, und unter Wahrung freier politischer Betätigung für bürgerliche Parteien.15. Dieses nationale System soll auf lokaler Ebene durch Körperschaften der »direkten Demokratie« mit dem Recht auf Abberufung von Delegierten und dem Prinzip des imperativen Mandats ergänzt werden. Die parlamentarische, repräsentative Demokratie auf nationaler Ebene und Arbeiterräte in Fabriken usw., diese beiden Formen sollen nebeneinander existieren und auf eine Weise ineinandergreifen, die selbst Poulantzas, wie er einräumt, zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur ungenau umreißen kann:
Denn die Antwort auf diese Fragen gibt es noch nicht. Und auch nicht als theoretisch gesichertes Modell in den heiligen Texten irgendwelcher Klassiker.16
Er erklärt weiter, dass diese Idee endgültig mit der Vorstellung bricht, den bestehenden Staatsapparat zu zerschlagen und durch einen neuen zu ersetzen, wie ihn Marx am Beispiel der Pariser Kommune feierte:
Die radikale Transformation des Staatsapparats in einem demokratischen Weg zum Sozialismus impliziert, dass es nun nicht mehr um das gehen kann, was man traditionellerweise als Zerschlagung oder Zerstören dieses Apparats bezeichnet. Der Terminus »zerschlagen«, der bei Marx ebenfalls ein indikativer Terminus war, hat schließlich historisch etwas sehr Bestimmtes bezeichnet: Die Ausrottung jeder Form der repräsentativen Demokratie und der sogenannten formalen Freiheiten. Man muss sich damit abfinden: […] man kann die Termini »zerstören« und »zerschlagen« nur noch benutzen, wenn man mit den Worten leichtsinnig umgeht. Denn dieser Übergang wird in allen Transformationen der repräsentativen Demokratie durch eine bestimmte Permanenz und Kontinuität ihrer Institutionen gekennzeichnet. Diese Kontinuität ist kein bedauerliches Überbleibsel, das man erduldet, weil man es nicht ändern kann, sondern eine notwendige Bedingung des demokratischen Sozialismus.17
Es kann auch keine Rede mehr sein von einer »Diktatur des Proletariats«, die
für Marx ein strategischer Begriff in praktischem Zustand war, der höchstens als Wegweiser fungierte. Er deutete auf die Klassennatur des Staates hin und auf die Notwendigkeit, ihn im Hinblick auf den Übergang zum Sozialismus und den Prozess des Absterbens des Staates zu transformieren.18
Die ständige Verwendung des Begriffs »Diktatur des Proletariats« würde Poulantzas' Programm nur entstellen, weshalb er die Entscheidung der französischen kommunistischen Partei (KPF), ihn fallen zu lassen, ausdrücklich begrüßte. Er kritisierte Parteimitglieder wie Etienne Balibar, die den Begriff im Parteiprogramm beibehalten wollten. Solche Menschen, meinte er, neigten dazu, »dogmatische Banalitäten« von sich zu geben, wie: »Jeder Staat ist ein Klassenstaat; jede politische Herrschaft ist eine Art von Klassendiktatur; der kapitalistische Staat ist ein Staat der Bourgeoisie.«19 Ohne Zweifel wurden solche »dogmatischen Banalitäten« gelegentlich ohne nähere Betrachtung, ohne weitere Vertiefung oder Kritik geäußert. Verlieren sie aber deshalb ihre Gültigkeit? (Poulantzas selbst hat schließlich den Großteil seiner Arbeiten der Erhellung ihres Wahrheitsgehalts gewidmet.) In der Diskussion dieser »Banalitäten« kommt Poulantzas zu dem Schluss, dass »eine solche Analyse die Untersuchung keinen einzigen Schritt weiterbringen kann«, und nichts dazu beiträgt, »konkrete Situationen zu verstehen, da sie die unterschiedlichen Formen und historischen Transformationen des kapitalistischen Staats nicht berücksichtigen kann«.20 Diese Art der Vereinfachung habe in die Katastrophe des Stalinismus angesichts des Faschismus geführt.
Dabei muss angemerkt werden, dass er nur eine »Katastrophe angesichts des Faschismus« benennt: die »Sozialfaschismus«-Analyse, nach der sich die verheerende Taktik der Kommunistischen Partei Deutschlands angesichts des Aufstiegs Hitlers richtete. Aber sind die oben erwähnten »Banalitäten« für die Doktrin des »Sozialfaschismus« ursächlich? Nicht, wenn man das Gesamtbild berücksichtigt. Trotzki beispielsweise hat diese »dogmatischen Banalitäten« nie angezweifelt, und trotzdem sind seine Analyse des Aufstiegs Hitlers und seine Vorschläge für eine Einheitsfront, um die Nazis zu schlagen, unübertroffen. Es war gerade das »Vergessen« dieser »dogmatischen Banalitäten«, das die Komintern zur Volksfrontperiode verleitete, als sie sich der Blum-Regierung in Frankreich anbiederte und in Spanien eine Strategie verfolgte, die General Franco voll in die Hände spielte. Aber dazu hat er nur wenig zu sagen. Er kann die Volksfront auch schlecht kritisieren, da seine Vorschläge auf eine Wiederholung dieser Erfahrung hinauslaufen.
Würden Poulantzas' Vorschläge befolgt, führten sie in die Katastrophe, so meine Behauptung. Die Arbeiterklasse würde den vielen Niederlagen dieses Jahrhunderts nur weitere hinzufügen. Mit seinen programmatischen Äußerungen verkündet Poulantzas unmissverständlich seinen Bruch mit dem Marxismus. Und die Begründungen, die er heranführt, sind äußerst schwach.
Führt Arbeitermacht zu Stalinismus?
Poulantzas behauptet, die klassische marxistische Vorstellung von der sozialistischen Revolution – die Zerschlagung des Staatsapparats und seine Ersetzung mit direkter Arbeiterdemokratie – führe unmittelbar zu »Dirigismus«, sprich Stalinismus. Die Schrecken des Stalinismus, die die kommunistischen Parteien jetzt langsam wahrnehmen, wurzelten in der Art der Durchführung der Russischen Revolution. Diese Behauptung findet natürlich ungeteilte Zustimmung unter der Schar von Liberalen und anderen Sozialistengegnern, weshalb Poulantzas lieber Rosa Luxemburg als scheinbar unanfechtbare Autorität anführt. Diese große deutsche Revolutionärin hatte nämlich 1918 eine Broschüre verfasst, in der sie die Bolschewiki unter anderem wegen der Auflösung der Verfassunggebenden Versammlung kritisierte.
Poulantzas hält sich dabei nicht mit Details auf. Ein paar Fragen müssen dennoch angesprochen werden: War Luxemburgs Kritik an den Bolschewiki berechtigt? Warum haben die Bolschewiki, lange Zeit glühende Verfechter der Verfassunggebenden Versammlung, sie dann mit Gewalt aufgelöst? War das ein Fehler?
Hinsichtlich Rosa Luxemburgs Kritik vergisst Poulantzas, einige nicht unwichtige Dinge zu erwähnen. Laut einigen Historikern hat sie diesen Vorwurf an die Bolschewiki später selbst ohnehin zurückgenommen.21 Sodann stand Rosa Luxemburg selbst schon ein Jahr nach der Russischen Revolution vor eben dieser Frage in Deutschland, als Kautsky von der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) genau dasselbe wie Poulantzas heute vorschlug, nämlich eine Nationalversammlung plus Arbeiterräte. Rosa Luxemburg trat absolut kompromisslos gegen diesen Vorschlag auf. Poulantzas verzichtet verständlicherweise darauf, Rosa Luxemburg zu dieser Frage zu zitieren.
Wer heute zur Nationalversammlung greift, schraubt die Revolution bewusst oder unbewusst auf das historische Stadium bürgerlicher Revolutionen zurück; er ist ein verkappter Agent der Bourgeoisie oder ein unbewusster Ideologe des Kleinbürgertums.22
Und weiter:
Aus dem Ziel der Revolution ergibt sich klar ihr Weg, aus der Aufgabe ergibt sich die Methode. Die ganze Macht in die Hände der arbeitenden Masse, in die Hände der Arbeiter- und Soldatenräte […]: dies ist die Richtlinie für alle Maßnahmen der revolutionären Regierung.23
Die Nationalversammlung war keineswegs ein Garant des »demokratischen Sozialismus«, sondern »eine gegenrevolutionäre Festung, die gegen das revolutionäre Proletariat aufgerichtet wird«.24 In ihrer eigenen Praxis glaubte Rosa Luxemburg also nicht an die Aufrechterhaltung parlamentarischer Institutionen. Hatte sie binnen eines Jahres ihr Engagement für die Demokratie aufgegeben? Ganz im Gegenteil: Ihre Haltung war direkter Ausfluss ihres bedingungslosen Einsatzes für Demokratie, ihrer Auffassung, dass nichts zwischen der Arbeiterklasse und der direkten Macht stehen sollte.
Nun, wir können uns gegenseitig Zitate weiterer »Autoritäten« an den Kopf werfen – Rosa Luxemburg jedenfalls ist für Poulantzas eine schlechte Zeugin. Aber warum haben die Bolschewiki die Verfassunggebende Versammlung aufgelöst? Sie hatten tatsächlich noch im Jahr 1917 für ihre Einberufung gekämpft. Sie hatten sogar argumentiert, dass nur ein mächtiges Sowjetsystem eine solche Verfassunggebende Versammlung garantieren könne. Es scheint ihnen vor Oktober 1917 nicht in den Sinn gekommen zu sein, dass es zu einem Konflikt zwischen den Sowjets und der Versammlung kommen könnte. Das sollte nicht überraschen, denn die Bolschewiki waren dabei, die marxistische Theorie in der Aktion zu erproben. Als sie sich in die Revolution warfen, glaubten sie noch, es handele sich um eine bürgerliche Revolution. Vor Februar 1917 gab es nur den isolierten, nicht den Bolschewiki angehörenden Leo Trotzki, der mit seiner Theorie der permanenten Revolution eine andere Meinung vertrat.
Der Oktoberaufstand stellte alles auf den Kopf. Lenin begriff das sehr früh und trat für eine Verschiebung der Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung und die Herabsetzung des Wahlalters auf 18 Jahre ein. Wie so oft fand er dafür keine Mehrheit und die Wahlen fanden statt. Die Sozialrevolutionäre erzielten eine klare Mehrheit, wobei ihr Stimmenanteil umso höher war, je weiter die Wähler von den Zentren der Revolution entfernt lebten. Die demokratische Legitimation der Sozialrevolutionäre war bestenfalls fragwürdig. Während des Aufstands hatten sie sich gespalten: Der linke Flügel unterstützte den Aufstand, der rechte Flügel stellte sich dagegen, auf den Wahllisten waren sie jedoch als »vereinte« Partei verzeichnet gewesen. Deshalb war es nicht klar, wofür ihre Wählerschaft tatsächlich gestimmt hatte.25
Am Tag des Zusammentretens der Nationalversammlung forderten die Bolschewiki die Ratifizierung der sowjetischen Machtergreifung, des Erlasses über die Landverteilung, über Frieden, über Arbeiterkontrolle, über die Produktion usw. Das wurde mit 237 zu 136 Stimmen abgelehnt. Die Versammlung wurde noch am selben Tag aufgelöst. Sie war zum Sammelpunkt der Konterrevolution geworden und ihre Überbleibsel blieben es auch während des Bürgerkriegs, der wenige Monate später ausbrach. Die Nationalversammlung nicht aufzulösen, wäre einem Verbrechen gegen die Revolution gleichgekommen. Die »Doppelherrschaft« mit zwei Zentren der politischen Macht, mit gegensätzlichen Zielen und Methoden wäre wieder auferstanden.
Poulantzas' Unterstellung, dieses Ereignis habe dem Stalinismus den Weg bereitet (er tischte auch den alten Hut wieder auf, Lenins Was Tun? sei ein Vorgriff auf den Stalinismus gewesen26), ist historisch nicht haltbar und schierer Formalismus. Die Tragödie der Degeneration der Russischen Revolution war in erster Linie den Umständen geschuldet: Die Isolation der Revolution, die Entbehrungen infolge des Bürgerkriegs, die Entstädterung, die Hungersnot, der Zusammenbruch der Industrieproduktion hatten die Arbeiterklasse ihrer Fähigkeit zur Herrschaft beraubt. Das Herz der Revolution, die Sowjets, hörte mit dem Dahinsterben der russischen Arbeiter zu schlagen auf. Nicht – das kann nicht oft genug gesagt werden – wegen bürokratischer Manöver einer antidemokratischen Partei oder Führung, sondern unter dem schrecklichen Druck der Umstände.27
»Repräsentative Demokratie«
In seinem zweiten Argumentationsstrang betont Poulantzas, dass die »repräsentative Demokratie«, sprich der Parlamentarismus, der wichtigste Garant für die Aufrechterhaltung politischer Freiheiten sei. Sie sei die strategische Verteidigungslinie gegen staatlichen Autoritarismus. In seinem Interview beruft er sich auf den italienischen Sozialdemokraten Norberto Bobbio:
[Bobbio] hat einen wichtigen Hinweis geliefert, als er sagte: »Die Freiheiten, der Meinungspluralismus usw., die wir beibehalten wollen, waren, soweit ich das überblicke, schon immer mit irgendeiner Form von Parlament verbunden.« Sicherlich benutzt er eine sozialdemokratische Sprache. Dennoch stelle ich mir die Frage, ob nicht ein Kern Wahrheit darin steckt, ob die Aufrechterhaltung politischer Freiheiten nicht die Aufrechterhaltung der institutionellen Machtstrukturen der repräsentativen Demokratie erfordert. Natürlich müssten diese verändert werden. Es geht nicht darum, das bürgerliche Parlament einfach so zu belassen, wie es ist, usw.28
Poulantzas liefert nur wenige Argumente für die »repräsentative Demokratie« außer der Beobachtung, dass diese Regierungsform zusammen mit anderen politischen Freiheiten »Errungenschaften der Massen« darstellen. Historisch betrachtet haben wir vielleicht ein Problem mit dieser vereinfachenden Darstellung, wie Arbeiter bürgerliche und politische Rechte im Kapitalismus erstritten haben, aber prinzipiell können wir dem zustimmen. Und Marxisten haben diese Errungenschaften schon immer gegen Angriffe von rechts verteidigt. Aber wir idealisieren nicht das Ausmaß und das Wesen dieser Rechte und Freiheiten. Vor allem müssen wir uns im Klaren sein über den sehr zweifelhaften und begrenzten Charakter der »Errungenschaft« einer repräsentativen Demokratie. (Interessanterweise bietet Poulantzas in seinem früheren Werk »Politische Macht und gesellschaftliche Klassen« und sogar in seinem jüngsten Buch eine Menge interessanter Einsichten in diese Frage und viele Argumente, die die parlamentarische Regierungsform als Scheindemokratie entlarven.) Lasst uns einige der wichtigsten Beschränkungen des korrekt als »bürgerliche Demokratie« bezeichneten Systems auflisten:
Arbeiter in kapitalistischen Demokratien haben das Recht, sich an Parlaments- und Kommunalwahlen zu beteiligen. Dieses Recht üben sie durch geheime Stimmabgabe aus.29 Jeder Wähler und jede Wählerin übt daher ihre oder seine »Macht« isoliert von jeder Gemeinschaft aus, als Individuum in einem vereinzelten Verhältnis zum Staat. Dieses Vereinzelungsverhältnis zwischen »Bürger« und Staat war eine Hauptkritik von Marx am kapitalistischen Staat bereits in seinen Frühschriften aus den 1840er Jahren und wird von Poulantzas in seinen eigenen Schriften fortgesetzt.30 Die Einzelstimmabgabe ist keine Angelegenheit öffentlicher Debatte oder Versammlungen. Sie ist ein vollkommen individualisierter Akt. Revolutionäre haben schon immer argumentiert, dass Massenversammlungen demokratischer als Geheimabstimmungen sind, weil sie umfassendere politische Abwägungen ermöglichen. Auf einer Massenversammlung können Fragen diskutiert und Argumente widerlegt, kann der allgemeine Grad der Unterstützung für bestimmte Aktionsvorschläge abgeschätzt werden, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass diese Aktion mit Erfolg gekrönt wird. Das alles schließt eine geheime Abstimmung aus.
Zweitens haben die Wähler bekanntlich keine reale Kontrolle über ihre gewählten »Vertreter«. Es fehlt das Recht auf Abberufung, die Wähler können ihre Abgeordneten auf keinen Auftrag verpflichten usw. Isoliert voneinander wählen sie sie ins Parlament und haben danach keine Kontrolle über sie. Abgeordnete werden vor dem Zugriff durch ihre Wählerbasis durch eine ganze Palette von »Privilegien« geschützt, sobald sie ihren Sitz eingenommen haben. Ab diesem Zeitpunkt vertreten sie niemand mehr. Der konservative Staatspolitiker Edmund Burke fasste im ausgehenden 18. Jahrhundert die wahre Beziehung zwischen Abgeordneten und ihren Wählern treffend zusammen, als er die Wählerschaft der Stadt Bristol darauf hinwies, dass er bei seiner Wahl ins Parlament nicht sie »vor der Nation«, sondern umgekehrt vor ihnen die Nation vertreten werde. In jüngerer Vergangenheit soll der sozialdemokratische britische Ministerpräsident Harold Wilson die Demokratie ähnlich charakterisiert haben, als »Regierung des Volks, für das Volk und ausgehend vom Volk – mit Betonung auf Regierung«. In einem parlamentarischen System reduziert sich die politische Freiheit und Macht auf jene wenigen Sekunden alle paar Jahre, die der Wähler braucht, um gleich einem Analphabeten ein Kreuz neben den Namen seines parlamentarischen Missvertreters zu setzen.
Drittens wird von der anonymen und machtlosen Wählerschaft lediglich die Legislative gewählt. Über die anderen Teile der Staatsmaschinerie üben wir überhaupt keine Kontrolle aus, und wenn wir dort gelegentlich doch Einfluss gewinnen, dann nicht auf dem legalen, verfassungsgemäßen Weg, sondern durch ganz andere Mittel, die von Straßenunruhen bis zur Bestechung reichen. Wir wählen nicht unsere Armee, unsere Justiz, unsere Polizei oder »Bediensteten« auf den Ämtern. Und wir haben kein brauchbares Instrument zu ihrer Kontrolle. Sie verfügen in der Regel über eigene interne Mechanismen zur Bestimmung der Richter und Geschworenen, wenn es um Beschwerden gegen sie geht. Sogar das Parlament selbst, die Legislative, übt nur in Ausnahmefällen reale Kontrolle über die Behörden aus. Der nichtgewählte Teil des Staatsapparats – jene riesige Maschinerie, die wir mit unseren Steuern und anderen Abgaben am Leben erhalten und die unser tägliches Leben auf vielfältigste Weise bis ins kleinste Detail bestimmt – wird vor dem Zugriff durch die Allgemeinheit durch eine ganze Palette institutioneller Mittel abgeschirmt, darunter das Verbot der »Missachtung« des Gerichts (wobei es wohlgemerkt keine Möglichkeit gibt, das Gericht wegen »Missachtung des Volks« zu belangen), das Staatsgeheimnisgesetz (das sich bis auf die internen Regelungen für die Bemessung von Sozialleistungen erstreckt), die bürokratische Ämterbesetzung usw. Selbst den Parlamentariern wird die Überprüfung eines Großteils des Personals und der Tätigkeit der Bürokratie verwehrt.
Viertens ist die Legislative in erster Linie mit der Formulierung von Gesetzen und allgemeinen Regeln befasst, nicht mit Einzelfällen. Aber das Geschäft moderner Staaten dreht sich zunehmend nicht um Richtlinien und allgemein anwendbare Gesetzgebungen, sondern um ganz spezifische Fragen, um die vertraglichen Details von Abmachungen zwischen Ministerien und Konzernen, um administrative Verfügungen usw. Parlamente haben weder die Befugnis noch die Kompetenz, solche Fragen zu behandeln. Das gesamte Gefüge des »legalen Staats« wird so zunehmend durch die Tendenz zur Konzentration von Kapital und Macht untergraben.31 Die orthodoxe Politikwissenschaft hat diese Entwicklung sehr wohl registriert und einen wachsenden Berg an Literatur über »Pressure-Group-Theorien«, den »Niedergang des Parlaments« usw. veröffentlicht. Das Parlament, das niemals wirklich jemanden repräsentiert hat, ist heute weniger denn je in der Lage, irgendwelche gesellschaftlichen Kräfte zu vertreten oder sich an realen Entscheidungsprozessen zu beteiligen.
Kurzum, die »Errungenschaft« des Wahlrechts hat sich in der Praxis als ziemlich gehaltlos erwiesen. Die Verteidigung des bestehenden Wahlrechts lässt sich schwerlich als zentrale Planke bei der Verteidigung des demokratischen Prinzips darstellen. Poulantzas möchte allerdings eine »transformierte« repräsentative Demokratie verteidigen, wobei er eine genaue Antwort schuldig bleibt, wie diese zu »transformieren« ist. Was jedenfalls nicht transformiert werden soll, da ist Poulantzas eindeutig, sind die geheimen Wahlen und die Unmöglichkeit der Abberufung oder Beauftragung von Parlamentariern usw.32 Wo auch immer wir bei Poulantzas nach »Transformation« suchen, finden wir nichts in Richtung einer Erweiterung der Demokratie.
Aber Poulantzas hat Größeres im Sinn. Es geht nach ihm um »die Globalperspektive des Absterbens des Staates«.33
Die Idee vom »Absterben des Staates« ist eine durchaus noble Idee, die zuerst von Marx und Engels entwickelt wurde, zusammen mit anderen Ideen von der Zerschlagung des bestehenden Staats, der Diktatur des Proletariats und weiteren Dingen, die Poulantzas auf den Müll werfen will. Diese Idee bezieht sich bei Marx und Engels nämlich auf die Situation nach der Machtergreifung durch die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft, das Proletariat, wenn dieses einen neuen Staatsapparat unter seiner direkten Kontrolle geschaffen hat und erst dadurch befähigt wird, ein neues Muster gesellschaftlicher Beziehungen und der Kontrolle über die Lebensbedingungen zu entwickeln, sodass es immer weniger auf organisierte Gewalt zurückgreifen muss, um die gesellschaftlichen Angelegenheiten zu regeln. Mit dem Absterben des Staats tritt Überzeugung an die Stelle von Zwang als Hauptorganisationsprinzip. Die Aufrechterhaltung einer parlamentarischen Körperschaft, die der Gesellschaft nicht einmal direkt unterstellt ist, ist nicht einmal ansatzweise ein Mittel für die Schaffung der Bedingungen zur Umsetzung dieser Bestrebungen. Als Regierungsform außerhalb der Kontrolle durch die Bevölkerung, steht sie im Weg, sie behindert ein demokratisches Leben. Poulantzas' Vorschlag weist uns in Wirklichkeit keinen Weg zum »Absterben des Staates«. Das zu behaupten, ist, mit seinen eigenen Worten, ein »verbaler Trick«. Zusammengefasst hängt Poulantzas' »demokratischer Weg zum Sozialismus« von der Aufrechterhaltung einer undemokratischen Regierungsform ab.34
Angriffe auf die Arbeiterselbstregierung
Poulantzas argumentiert auch gegen die direkte Demokratie und lehnt Arbeiterräte als Regierungsform ab. Auch hier sind seine Begründungen schwach. Sein erstes Argument ist genau betrachtet keins: Bisherige Arbeiterbewegungen mit dem Ziel einer proletarischen Diktatur seien allesamt gescheitert. Das stimmt. Nirgendwo auf der Welt herrscht Sozialismus. Jede revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse wurde bisher auf die eine oder andere Weise geschlagen. Spricht das dagegen, aus den historischen Erfahrungen dieser Niederlagen zu lernen, damit wir das nächste Mal erfolgreich sind? Wir verzichten doch nicht aufs Schwimmenlernen, nur weil Menschen immer wieder mal ertrinken.
Zweitens erklärt er, dass der Staat zu mächtig sei, um die Entstehung eines rivalisierenden Machtzentrums in einer Situation der »Doppelherrschaft« als Auftakt zur sozialistischen Revolution zu dulden:
Wenn du das Wesen des Staatsapparats zum Beispiel in Frankreich und dazu die Formen der Zentralisierung der Volksmacht betrachtest […], dann ist doch klar, dass sie [die Arbeiterbewegung] zerschlagen sein wird, ehe sie auch nur drei Flohhüpfer gemacht hat. Du glaubst doch nicht ernsthaft daran, dass sie uns in der gegenwärtigen Lage erlauben werden, eine zentrale Parallelmacht mit dem Ziel der Gegenmacht aufzubauen. Die Angelegenheit wäre erledigt, noch bevor auch nur der Hauch eines Verdachts einer solchen Organisation entstehen könnte.35
Hier führt Poulantzas eine ganz neue Dimension in die Dialektik ein, die Methode des Selbstwiderspruchs: Wenn er sein eigenes Argument stützen will, dann beschreibt er den Staat als sehr schwach,36 zu schwach, um den »demokratischen Weg« zu verhindern; wenn es um seine sozialistischen Gegenspieler geht, dann ist der Staat zu stark!
So oder so ist sein Argument lächerlich. Wer glaubt denn, dass die Arbeiter »in der gegenwärtigen Situation« in Frankreich (oder sonst wo) versuchen werden, die Macht ihrer Arbeiterräte zu zentralisieren? Die Vorbedingung für eine solche Entwicklung ist doch, dass die »gegenwärtige Lage« zu einer anderen geworden ist. Die Idee einer Revolution in einer nicht revolutionären Situation ist absurd. In jeder revolutionären Situation kommt es zur Spaltung im bestehenden Staatsapparat und in der herrschenden Klasse. Eine revolutionäre Situation beinhaltet eine Krise des Staats und damit eine Schwächung seiner Handlungsfähigkeit. Ohne eine solche Krise kann es keine Revolution geben. Das ist Teil des marxistischen Abc. Gerade die Staatskrise ermöglicht die Entstehung einer Situation der »Doppelherrschaft« und eröffnet die Perspektive der Machtergreifung durch eine neue Staatsform.
Wie alle Reformisten versucht auch Poulantzas einen Übergang zum Sozialismus aus der »gegenwärtigen Situation« zu konstruieren. Er meint, dass der heutige kapitalistische Staat am ehesten als Staat in der Krise, als Krisenzustand aufgefasst werden kann:
Diese Staatskrise eröffnet auch der Linken objektive neue Möglichkeiten für den demokratischen Weg zum Sozialismus. Es gibt mehrere Arten der politischen Krise. Die gegenwärtige Krise verweist die Linke im Zusammenhang mit diesem möglichen Übergang auf ein genau umrissenes Feld. Es handelt sich weder um eine Krise der Doppelherrschaft noch um eine, die von einem Faschisierungsprozess herrührt.37
Hier fallen zwei Dinge auf: erstens die unbestreitbare, aber ziemlich banale Beobachtung, dass allgemeine Krisentendenzen nicht per se revolutionäre Krisen sind; zweitens die absurde Idee, dass es einen Übergang zum Sozialismus ohne revolutionäre Krise geben kann. Mit revolutionärer Krise meine ich nicht einen einfachen Konjunktureinbruch, sondern jene Krise in den Klassenbeziehungen, die Lenin in seinem Buch über den »linken Radikalismus« anspricht: eine erhitzte Situation, in der »die Ausbeuter nicht mehr in der alten Weise leben und regieren können« und »die ausgebeuteten und unterdrückten Massen […] nicht mehr wollen«.38 Poulantzas sieht das an manchen Stellen auch. Er sagt, dass die Wahl einer »linken« Regierung im Ergebnis nur ein »sozialdemokratisches Experiment« sein kann, wenn es nicht zeitgleich zu einer Mobilisierung der »Volksmassen« kommt. Dass eine solche Entwicklung die »gegenwärtige Lage« für die Arbeiterklasse, den Staat und alle Formen des politischen Lebens fundamental ändern würde, scheint ihm jedoch entgangen zu sein.
Drittens meint Poulantzas – entsprechend seinem Argument über Russland -, dass direkte Arbeiterdemokratie zum Stalinismus führen muss, zur Unterdrückung aller politischen Freiheiten und jeglicher Opposition:
Die direkte Demokratie, womit ich ausschließlich die direkte Demokratie im sowjetischen Sinn meine, war immer und überall von der Unterdrückung der Pluralität der Parteien und dann der Unterdrückung politischer und formaler Freiheiten begleitet.39
Dieses Thema greift er auch in »Staatstheorie« auf: Wenn man sich »allein auf die direkte Basisdemokratie und die Selbstverwaltung« verlässt, führt das »über kurz und lang unvermeidlich zum etatistischen Despotismus oder einer Diktatur der Experten«.40 Und wenn Arbeiterräte ihre eigene Staatsmacht aufbauen, dann wird »die Eliminierung der repräsentativen Demokratie nicht zum Absterben des Staates und zum Triumph der direkten Demokratie führen, sondern über kurz oder lang zu einer autoritären Diktatur neuen Typs«.41 Dabei muss festgehalten werden, dass Poulantzas statt Argumente zur Unterstützung seiner elitären Ansichten nur plumpe Behauptungen bietet, warum eine Selbstregierung der Arbeiterklasse unmöglich sein soll. Aber wir können zwei Dinge festhalten:
Erstens hat Poulantzas einfach Unrecht. Die Entstehung von Arbeiterräten war nie begleitet vom Verschwinden der »Parteienvielfalt« – China, Kuba, Kambodscha usw. sind keine Gegenbeispiele, denn es hat dort nie Arbeiterräte gegeben. In der Pariser Kommune gab es eine Vielfalt von Parteien, ebenso in der Zeit der spanischen Arbeiterräte von 1936-37. Eine Kernforderung der ungarischen Arbeiterräte 1956 war die nach Parteienpluralität.
Zweitens tritt Poulantzas in Wirklichkeit für die Pluralität bürgerlicher Parteien ein. Diese sind für ihn Garanten der »politischen Freiheiten«. Es stimmt zwar, dass es innerhalb der Arbeiterräte nur wenig Raum für bürgerliche Parteien gab – allerdings nicht, weil sie von den Arbeiterräten etwa verboten worden wären, sondern weil bürgerliche Parteien in revolutionären Zeiten keine demokratischen Rechte in Arbeiterräten beanspruchen, sondern diese vielmehr zerschlagen wollen! Die Verfassunggebende Versammlung war es schließlich, die sich weigerte, die Rätemacht anzuerkennen. Angesichts eines Kongresses der Arbeiterräte Englands wird Margaret Thatchers Hauptanliegen kaum die Gewinnung eines Delegiertenmandats als Vertreterin der Ostlondoner Arbeiterklasse sein.
Es sollte auch vermerkt werden, dass Poulantzas offenbar nicht einmal die Idee der sozialistischen Revolution begreift. An mehreren Stellen verwendet er die Analogie einer Burg oder Festung, um sie dann der revolutionären Linken zuzuschreiben: »Man muss zuerst die Staatsmacht ergreifen, um dann, wenn die Erstürmung des Schlosses erst einmal abgeschlossen ist, en bloc den gesamten Staatsapparat dem Boden gleichzumachen und ihn durch eine zweite Macht (Sowjets) zu ersetzen […]«.42 Oder: »[…] zuerst ergreift man die Staatsmacht, sodann stellt man eine andere Macht an ihre Stelle. Diese Sichtweise kann nicht länger akzeptiert werden.«43 Aber wer hat denn eine solche Sichtweise »akzeptiert«? Es handelt sich hier um eine reformistische Fantasie. Die Idee, dass eine sozialistische Revolution sich zunächst an die Spitze des bürgerlichen Staatsapparats stellt, um ihn danach zu zerschlagen, ergibt keinen Sinn. Der bestehende Staatsapparat ist Ziel der Zerstörung, nicht der »Eroberung«.
Aber will Poulantzas den Sozialismus überhaupt?
Es ist überhaupt nicht klar, ob Poulantzas, wenn man ihn beim Wort nimmt, den Sozialismus überhaupt anstrebt. In seinem Interview vertritt er zwei Thesen hintereinander. Zuerst und ausnahmslos
bin ich mit Ihnen im Einklang: Der gesamte gegenwärtige Staat mit all seinen Apparaten – die Sozialversicherung, das Gesundheitswesen, die Bildung, die Verwaltung usw. – widerspiegelt in seinen Strukturen die Macht der Bourgeoisie. Ich glaube nicht, dass die Massen Stellungen autonomer Macht – nicht einmal untergeordnete Stellungen – innerhalb des kapitalistischen Staates halten können. Sie dienen als Mittel des Widerstands, als Elemente der Zersetzung, die die internen Widersprüche im Staat akzentuieren.
Und dann folgende bemerkenswerte Stellungnahme:
[Es ist notwendig, innerhalb des Staates zu kämpfen,] nicht nur im Sinne eines Kampfs in den physischen Grenzen eines Staates, sondern eines Kampfes, der dennoch auf dem ureigenen strategischen Terrain des Staats ausgetragen wird. Es geht mit anderen Worten nicht um einen Kampf um die Ersetzung des bürgerlichen Staats durch einen Arbeiterstaat im Zuge von Einzelreformen, die darauf abzielen, einen bürgerlichen Apparat nach dem anderen zu übernehmen und so schließlich die Macht zu erobern. Es geht vielmehr um einen Kampf, wenn Sie so wollen, um einen Widerstandskampf, einen Kampf zur Schärfung der inneren Widersprüche des Staats, zur tiefgreifenden Transformation des Staats.44
Kurzum: Keine Übernahme der Macht! In seinem Buch tritt er dafür ein, den staatlichen Wirtschaftsapparat nicht zu zerschlagen.
Zu keinem Zeitpunkt sollte diese Transformation zu einem effektiven Abbau des ökonomischen Apparats führen, der ihn paralysiert. Die Chancen für einen Boykott vonseiten der Bourgeoisie würden damit steigen.45
Wie schlimm, wir könnten womöglich das Wirtschafts- oder das Finanzministerium lahmlegen! All das äußert Poulantzas, obwohl er nur wenige Absätze davor feststellt, dass der »ökonomische Staatsapparat« (jawohl, derselbe) »in seiner Einheit ein entscheidender Faktor der Kapitalreproduktion« bleibt. Bemerkenswert ist auch seine Annahme, dass die Bourgeoisie nach wie vor die Macht zum Boykott besitzt. Könnte dieses Risiko nicht gemindert sein, nachdem die örtlichen Arbeiterräte die Fabriken, Banken usw. übernommen haben? Nein, auch das schließt er aus:
Der demokratische Weg zum Sozialismus ist jedoch ein langer Prozess, dessen erste Phase zwar die Infragestellung der Hegemonie des Monopolkapitals beinhaltet, jedoch nicht die abrupte Subversion des Kerns der Produktionsverhältnisse.46
Auf die mögliche Frage eines naiven Lesers, warum denn nicht, hat er folgende Antwort parat:
[…] diese Transformation kann während dieser Phase bestimmte Grenzen nicht überschreiten, oder aber man nimmt das Risiko eines Zusammenbruchs der Wirtschaft auf sich.47
Der Übergang zum Sozialismus soll also aus der »gegenwärtigen Situation« heraus und ohne »wirtschaftlichen Zusammenbruch« erfolgen. Aber die Utopisten, das sind in Poulantzas' Augen die Revolutionäre! Wir müssen Poulantzas entgegenhalten: Einen Übergang zum Sozialismus, zur vollständigen Reorganisierung der Gesellschaft durch die Arbeiterklasse, kann es ohne »wirtschaftlichen Zusammenbruch« nicht geben. Eine sozialistische Revolution beinhaltet den »wirtschaftlichen Zusammenbruch«. Die Aufgabe besteht darin, sie konsequent durchzuführen, damit eine wirtschaftliche Erholung auf neuer Grundlage ohne Verzögerung angegangen werden kann.48 Das ist aber nicht Poulantzas' Sicht:
Über die Brüche hinaus, die die antimonopolistische Phase mit sich bringen wird, sollte der Staat immer noch den Fortbestand der Wirtschaft gewährleisten, einer Wirtschaft, die in einem gewissen Maße noch lange Zeit kapitalistisch bleiben wird.49
Lehren der Geschichte
Parlamentarische Demokratie und Arbeiterräte schließen sich gegenseitig aus, so meine These. Poulantzas dagegen argumentiert, dass beide ein Gespann bilden sollen. Wie, weiß er allerdings nicht. »Die Geschichte […] hat uns negative Beispiele gezeigt, die man vermeiden, und Irrtümer, über die man nachdenken muss. Und auch das ist nicht unwichtig.«50 Lasst uns also über ein klassisches »Negativbeispiel« und die »Irrtümer« nachdenken, die sich aus einer »Verbindung« von parlamentarischer Demokratie mit Arbeiterräten ergeben: Spanien 1936-1937.
Francos Aufstand gegen die spanische Republik begann im Juli 1936. Anfänglich wurde sie in großen Teilen Spaniens niedergeschlagen, oft durch eine Volksbewegung, die Waffen von der republikanischen Regierung forderte (oder sich einfach aneignete). Dem Aufstand der Generale war die Wahl einer Volksfrontregierung im Februar 1936 vorausgegangen, die das Signal für den Ausbruch schwerer Massenkämpfe in ganz Spanien war. Es war zu einer Welle von Generalstreiks und Landbesetzungen gekommen, Arbeiter- und Bauernräte gründeten sich.
Nach dem Juli verzehnfachte sich die Bewegung. In weiten Teilen Spaniens, allen voran Katalonien, Aragon und Kastilien, organisierten Arbeiter- und Bauernräte die Produktion und die Verteilung, sie kontrollierten Städte und Dörfer, gründeten ihre eigenen Milizen usw. Währenddessen regierte im Zentrum des republikanischen Spaniens eine enorm geschwächte bürgerlich-parlamentarische Regierung. Nach dem Juli 1936 war Spanien das klassische Beispiel für »Doppelherrschaft«.
Die wichtigste Quelle für Militärhilfe im Kampf gegen Franco war Stalin. Stalin, aus Gründen der innenpolitischen Stabilität seiner Herrschaft ohnehin unversöhnlicher Gegner jeglicher sozialistischen Revolution, befürchtete, dass ein solcher Ausgang die herrschenden Klassen Frankreichs und Großbritanniens, mit denen er ein Militärbündnis gegen Hitler anstrebte, verprellen könnte. Als Gegenleistung für seine – teuer erkaufte – Unterstützung für die Republik verlangte er daher, dass sich die Revolution in bürgerlich-demokratischen Bahnen bewegen müsse.
Die Zeit bis Mitte 1937 war von einem ständigen Kampf zwischen der republikanischen Zentralregierung und den Arbeiterräten und -milizen gekennzeichnet, wobei Moskau die Waffen und die Organisation stellte. Die bürgerlich-demokratische Regierung vertrug sich ganz offensichtlich nicht mit den Kämpfen und Organisationen der Arbeiter und Bauern und ihren Forderungen nach Vergesellschaftung des Eigentums, nach Landverteilung und Arbeiterkontrolle über die Produktion usw. Das Ergebnis dieses Zermürbungskriegs war, dass die Kräfte an der Basis der spanischen Gesellschaft zunächst begrenzt und eingedämmt, und anschließend die Arbeiterräte in Straßenschlachten und durch Polizeiaktionen zerschlagen wurden. So geschehen in Barcelona Anfang Mai 1937 und wenig später in Aragon.
Die ganze Tragödie beweist, dass die Aufrechterhaltung einer bürgerlich-parlamentarischen Regierung unvereinbar war selbst mit nur lokalen Arbeiterräten, gar nur lokalen unabhängigen Arbeiteraktionen, die die engen, von der Zentralregierung festgelegten Grenzen überschritten. Die Tragödie Spaniens hat ihre Wurzeln darin, dass die Anführer der Arbeiterräte – in erster Linie die Anarchisten – jegliche Zentralisierung ihrer Räte ablehnten, so dass ein Vakuum entstand, das die konterrevolutionären Liberalen und die Kommunistische Partei mit ihren eigenen Organisationen füllten, um gegen die Arbeiterklasse vorzugehen. Aus diesem Kampf ging General Franco als einziger Sieger hervor.
Die parlamentarische Demokratie erwies sich jedes Mal als unvereinbar mit Formen von Arbeiterräten. Wenn eine Organisationsstruktur überleben soll, muss die andere zerschlagen werden. Um die Volksfrontregierung in Frankreich 1936 zu retten, sagte die Kommunistische Partei einen Massenstreik ab. Zum Ende des Kriegs retteten die Kommunistischen Parteien Italiens und Frankreichs das parlamentarische System, indem sie die Résistance entwaffneten. Die Fortsetzung von Salvador Allendes Volksfrontregierung in Chile wurde mit direkten Angriffen auf die Arbeiterbewegung und ihrer Bürokratisierung und Beschränkung erkauft. Die Ergebnisse sind überall die bekannten Katastrophen.
Poulantzas schlägt keine »neue« Strategie vor, sondern das alte, erprobte und überall bewährte Rezept für die Niederlage der Arbeiterbewegung. Es ist die Aufgabe von Marxisten hervorzuheben, dass eine Arbeitermassenbewegung ihren eigenen Sturz vorbereitet, wenn sie die sozialistische Revolution nicht vollendet. Sie muss ihre Macht in neuen Institutionen zentralisieren und alle Hindernisse, die der Zentralisation ihrer Macht in Arbeiterräten im Wege stehen, beseitigen. Es ist unerlässlich, Ideen zur Beschränkung der Arbeitermacht, wie sie Poulantzas vertritt, energisch entgegenzutreten.
Und wenn nicht Poulantzas, dann werden es womöglich andere sein, mit denen wir uns werden auseinandersetzen müssen. Er beendet sein Buch mit einem bedrückenden Tagtraum über die »Risiken« des »demokratischen Wegs«:
[…] dass wir auf dem Weg zu Lagern und Massakern sind, deren designierte Opfer wir sind. Ich möchte hierauf antworten, dass dies jedenfalls das kleinere Übel ist gegenüber der Gefahr, andere zu massakrieren, und dabei noch selber unter dem Fallbeil eines Wohlfahrtsausschusses oder irgendeiner Diktatur des Proletariats zu enden.
Diese Risiken des demokratischen Sozialismus kann man mit Sicherheit nur auf eine einzige Weise vermeiden: indem man sich still verhält und unter den Auspizien und der Knute der fortgeschrittenen liberalen Demokratie mitmarschiert. Aber das gehört nicht mehr hierhin …51
Das ist die charakteristische Zweideutigkeit Poulantzas'. Wird dies das Thema seiner nächsten Abhandlung sein, fragen wir uns? Das würde passen, denn er hat deutlich gezeigt, dass er selbst bereits unter der Knute der liberalen Demokratie steht – ob wir sie fortgeschritten nennen oder nicht.
Fußnoten:
1Karl Marx, »Die Konstitution der Französischen Republik«, in: Karl Marx/Friedrich Engels Werke (MEW), Bd. 7, S. 498 (http://www.mlwerke.de/me/me07/me07_494.htm).
2Ralph Miliband, Der Staat in der kapitalistischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1975; Nicos Poulantzas, Politische Macht und gesellschaftliche Klassen, Frankfurt am Main 1974; Faschismus und Diktatur, München 1973; Klassen im Kapitalismus – heute, Hamburg 1975; Die Krise der Diktaturen, Frankfurt am Main 1977. Miliband and Poulantzas haben in der New Left Review wiederholt miteinander debattiert.
3John Lea, »The State of Society«, in: International Socialism, alte Serie, Nr. 41, London, Dezember/Januar 1969; Simon Clarke, »Marxism, Sociology and Poulantzas' Theory of the State«, in: Capital and Class Nr. 2, London, Sommer 1977.
4Isaac Balbus, »Modem capitalism and the state«, in: Monthly Review, New York, Mai 1971.
5John Lea, »The State of Society«.
6Siehe beispielsweise Simon Clarke (Hg.), »One-dimensional Marxism: Althusser and the Politics of Culture«, London und New York 1980; ferner E. P. Thompson, »Das Elend der Theorie. Zur Produktion geschichtlicher Erfahrung«, Frankfurt am Main 1980.
7Lucio Colletti, »From Rousseau to Lenin«, London 1972.
8Siehe Colin Barker, »Muscular Reformism«, in: International Socialism, alte Serie, Nr. 102, London, Oktober 1977.
9Nicos Poulantzas, »Staatstheorie«, Hamburg 2002. Henri Weber von der französischen Sektion der Vierten Internationale führte auch ein sehr interessantes Interview mit Poulantzas, das zunächst in Critique Communiste Nr. 16, Paris, Juni 1977, erschien, später dann in englischer Übersetzung in International, und als Nachdruck in der US-amerikanischen Zeitschrift Socialist Review Nr. 38 (März/April 1978), die mir hier als Quelle dient (im Folgenden »Interview«).
10Karl Marx, »Kritik des Gothaer Programms«, in: MEW Bd. 19, Berlin 1987, S. 22 (http://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1875/kritik/randglos.htm).
11Staatsteorie, S. 283.
12Ebenda, S. 284.
13Ebenda, S. 285.
14Interview, S. 20.
15Na ja, beinahe. Zwischen Poulantzas und Weber entwickelt sich folgender Austausch, der keinen der beiden in einem besonders günstigen Licht erscheinen lässt: Poulantzas: Glauben Sie an Pluralismus? Weber: Selbstverständlich. Wir glauben daran und praktizieren ihn auch. Poulantzas: Aber auch Ihren Gegnern gegenüber? Weber: Ganz gewiss. Sogar den bürgerlichen Parteien gegenüber, das geben wir Ihnen gern schriftlich. Poulantzas: Aha. Sogar den bürgerlichen Parteien gegenüber. Nun, wir dürfen nicht zu naiv sein, es gibt Dinge, die man aussprechen muss, denn wir fürchten auch für uns selbst. Weber: Das verstehe ich. Poulantzas: Das lässt sich so leicht sagen, aber ich würde gerne wissen, welche institutionellen Garantien es geben würde – diese werden gewiss immer zweitrangig sein, aber sie sind dennoch wichtig […] (Interview, S. 23).
16Staatstheorie, S. 294.
17Ebenda, S. 289.
18Ebenda, S. 284.
19Ebenda, S. 155-6.
20Ebenda, S. 156.
21Siehe beispielsweise Norman Geras, »Rosa Luxemburg: Vorkämpferin für einen emanzipatorischen Sozialismus«, Köln 1996. Andere in ihren Schriften geäußerte Kritiken an den Bolschewiki waren zudem völlig unangebracht. Siehe dazu Tony Cliff, »Studie über Rosa Luxemburg«, Frankfurt am Main 2000 (http://www.marxists.org/deutsch/archiv/cliff/1959/rosalux/).
22Tony Cliff, Studie, S. 67; Rosa Luxemburg, »Die Nationalversammlung«, in: Gesammelte Werke (GW), Bd. 4, Berlin 1974, S. 409.
23Geras, op.cit. und Rosa Luxemburg, »Der Anfang«, in: GW 4, S. 397-98.
24Geras, op.cit. und Rosa Luxemburg, »Die Wahlen zur Nationalversammlung«, GW 4, S. 472.
25Eine viel ausführlichere Darstellung dieser Umstände findet sich in Tony Cliff, »Lenin. 1917-1923«, Bd. 3 London 1978.
26Staatstheorie, S. 281, und Interview S. 21.
27Im Verlauf des Interviews schlägt Henri Weber genau diese Erklärung vor, lässt aber Poulantzas' Antwort unwidersprochen stehen. Poulantzas sperrt sich gegen die historische Sichtweise von einer inneren Niederlage der Russischen Revolution und zieht als weitere Beispiele für den Mangel an Demokratie die Revolutionen Chinas, Kubas und Kambodschas heran. Weber erwähnt nicht, dass die Arbeiterklasse bei diesen Revolutionen keine unabhängige Rolle spielte.
28Interview, S. 21.
29Poulantzas verteidigt die geheime Abstimmung, und überraschenderweise tut es Henri Weber auch (Interview, S. 25).
30Beispielsweise: »Der Staat sanktioniert und institutionalisiert diese Individualisierung durch die Transformation der gesellschaftlich-ökonomischen Monaden in juristisch-politische Individuen-Personen-Subjekte.« (Staatstheorie, S. 92)
31Siehe beispielsweise Franz Neumann, »Demokratischer und autoritärer Staat«, Frankfurt am Main 1997; Poulantzas selbst geht darauf ein in: Staatstheorie, S. 196ff.
32Interview, S. 20.
33Staatstheorie, S. 291; Hervorhebung im Original.
34Poulantzas verwirft mit seiner Argumentationslinie Marx' Ansichten seit Entstehung der Pariser Kommune, wonach die Arbeiterklasse sich der bestehenden Staatsmaschinerie nicht einfach bemächtigen und diese für ihre eigenen Ziele einsetzen kann. Poulantzas behandelt die »repräsentative Demokratie«, als sei sie klassenneutral und von ewiger Gültigkeit. Allerdings widerspricht er sich selbst: »Die politische Herrschaft schreibt sich selbst noch in die institutionelle Materialität des Staates ein […] Die Macht des Staates (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) hat in dieser Materialität ihre Spuren hinterlassen.« (Staatstheorie, S. 42) Er weist darauf hin, dass der kapitalistische Staat die Trennung von Hand- und Kopfarbeit verkörpert, bleibt aber schwammig in seiner Übertragung dieses Argument auf das Parlament: »Es ist klar, dass eine Reihe von Institutionen der sogenannten indirekten, repräsentativen Demokratie (politische Parteien, Parlament etc.), kurz, der Beziehung Staat/Massen auf demselben Mechanismus beruhen.« (Staatstheorie, S. 83) Womit er die Möglichkeit offen lässt, dass es auch Institutionen gibt, die irgendwie anders sind, allerdings ohne sie näher zu benennen oder zu beschreiben.
35Interview, S. 31.
36Beispielsweise in seinem Kapitel »Die Schwächung des Staates«, in: Staatstheorie, S. 271.
37Ebenda, S. 235.
38W. I. Lenin, »Der ‚linke Radikalismus‛ , die Kinderkrankheit im Kommunismus«, in: Werke, Berlin 1983, Bd 31, S. 71. ( http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1920/linksrad/kap09.html).
39Interview, S. 20.
40Staatstheorie, S. 283.
41Ebenda, S. 293.
42Ebenda, S. 282.
43Ebenda, S. 289. (Der zweite Teil dieses Zitats fehlt in der deutschen Ausgabe und musste daher aus dem Englischen übernommen werden, weil sonst ein Riss in der nachfolgenden Argumentation entstanden wäre – d.Ü.)
44Interview, S. 13-14.
45Staatstheorie, S. 230.
46Ebenda, S. 229.
47Ebenda, S. 229.
48Siehe beispielsweise Nikolai Bucharins »Die Ökonomik der Transformationsperiode« (1920), Berlin 1990.
49Staatstheorie, S. 229.
50Ebenda, S. 294.
51Ebenda, S. 294.
Zum Text:
Dieser Aufsatz von Colin Barker erschien zuerst in der Zeitschrift International Socialism Nr. 4, London, Frühjahr 1979. Heute, im Kontext antikapitalistischer Bewegungen und der Herausbildung neuer linker Parteien, kehren viele der alten Ideen im neuen Gewand zurück. Poulantzas wird erneut in Debatten über linke Strategien zitiert, und die Kritik von Colin Barker hat nichts an Aktualität eingebüßt. Das englische Original wurde von David Paenson und Rosemarie Nünning ins Deutsche übersetzt.
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