Griechenlands Wirtschaftsdaten sind nicht viel schlechter als die anderer Staaten. Thomas Walter erklärt, warum das Land trotzdem im Zentrum der Krise steht
Die seit 2007 anhaltende Finanzkrise führt zu heftigen Auseinandersetzungen darüber, wer die Folgen zu tragen hat. Die britische Wirtschaftszeitung Economist erklärte, dass stets folgendes Muster zu beobachten sei: Auf der einen Seite kämpften die Gewerkschaften dafür, die Reichen zu besteuern. Auf der anderen Seite wollen die Reichen, die laut der Zeitung »oft das Ohr der Politiker haben«, dass der Staat »spart«. Er soll die Ausgaben für den Sozialstaat und den Öffentlichen Dienst kürzen. Dieser Kampf ist nun in Griechenland voll entbrannt.
Zu Krisen kommt es im Kapitalismus, wenn sich Investitionen als nicht profitabel erweisen. Die Investoren können dann ihre Kredite an die Banken nicht zurückzahlen. Banken wiederum müssen dann den Sparern mitteilen, dass deren Einlagen verloren sind. So sind Krisen der produzierenden Wirtschaft und der Finanzwirtschaft wechselseitig miteinander verbunden.
Auch Staaten bleiben nicht verschont. Ihnen brechen die Steuereinnahmen und die Beiträge zur Sozialversicherung weg. Dementsprechend stehen sie unter Druck, ihre Ausgaben den sinkenden Einnahmen anzupassen. Aufgrund der Tatsache, dass der Staat immer auch im Interesse des Kapitals handelt, greifen Regierungen zu der vermeintlichen »Lösung«, im Öffentlichen Dienst und bei sozialen Leistungen zu kürzen.
Doch solche Maßnahmen verstärken die Krise nur, so geschehen während der letzten großen Depression 1929. Dieses Mal haben die Staaten – wenigstens zunächst – anders reagiert. Wenn in der Krise die Privaten, also Unternehmen einschließlich der Banken und Haushalte, ihre Kreditwürdigkeit verloren haben, bleibt noch der Staat kreditwürdig. Er kann Kredite aufnehmen und so mit seinen Ausgaben die Gesamtnachfrage stützen. Dies beseitigt nicht die Ursachen der Krise, kann aber eine Abwärtsspirale verhindern. Vorerst ist damit die private Wirtschaft gestützt, aber die Staatsverschuldung steigt an. Die deutschen Staatsschulden lagen in den letzten Jahren etwa bei 66 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die griechischen bei rund 100 Prozent. Die deutschen Schulden steuern derzeit auf das bisherige griechische Niveau zu, für Griechenland wird ein Anstieg auf über 120 Prozent erwartet. Inzwischen hat die EU-Kommission gegen 24 der 27 EU-Staaten, darunter auch Deutschland und Griechenland, so genannte Defizitverfahren eingeleitet, weil diese sich stärker verschuldet haben, als es der Vertrag von Maastricht erlaubt.
Im internationalen Vergleich steht Griechenland also nicht viel schlechter als andere Staaten da. Dementsprechend wundert sich der Ökonom Carsten Hefeker: »Bei aller Aufregung über die griechische Situation stellt sich die Frage, warum gerade Griechenland herausgesucht wird. Die Situation des Landes ist keineswegs außergewöhnlich. Die Gesamtschuld steht bei 110 Prozent – das ist nicht viel mehr als die USA haben, gut die Hälfte dessen, was Japan hat und auch nicht wesentlich mehr, als Italien aufweist. Und das [Staats-]Defizit von über 12 Prozent im Jahre 2009 ist vergleichbar mit dem Irlands und Großbritanniens. Das ist nicht wenig, aber eben auch nicht einzigartig in der jetzigen Situation.« Bei Griechenland und einigen anderen EU-Staaten kommt aber zur Staatsverschuldung auch noch eine hohe Auslandsverschuldung der Wirtschaft des Landes hinzu. Die griechische Volkswirtschaft war 2008 mit rund 76 Prozent des BIP per Saldo gegenüber dem Ausland verschuldet, während die deutsche Wirtschaft ein Auslandsvermögen in Höhe von 35 Prozent vorweisen kann. Deutschland konnte als »Exportweltmeister« sein Auslandsvermögen anhäufen. Diese Überschüsse sind das Gegenstück zu den Defiziten von Ländern wie Griechenland. Das deutsche Kapital drückte besonders stark die Löhne und Sozialausgaben und stärkte so seine internationale Konkurrenzfähigkeit. Deutschland erzielte jährlich einen Exportüberschuss von rund 5 Prozent des BIP, während Griechenland 10 bis 15 Prozent mehr importiert als exportiert hat.
So genannte außenwirtschaftliche Ungleichgewichte sieht die Deutsche Bundesbank als den »makroökonomischen Nährboden« der Finanzkrise an. Die EU rechnet zwar aus, dass eine Volkswirtschaft keine staatliche Neuverschuldung von über 3 Prozent des BIP und keine staatlichen Gesamtschulden von über 60 Prozent des BIP dauerhaft verkraften kann (Maastricht-Kriterien), übersieht aber, dass logischerweise dies auch für die Volkswirtschaften gegenüber dem Ausland gelten müsste. Auch Importüberschüsse müssten, folgt man der EU-Logik, durch Kriterien ähnlich den Maastrichtkriterien reguliert werden.
Die doppelte Verschuldung des griechischen Staates gegenüber den Privaten einerseits und der griechischen Wirtschaft gegenüber dem Ausland andererseits schadet der Kreditwürdigkeit des Landes. Es reicht vielleicht schon aus, wenn ein großes Finanzinstitut sich gegen den Ausfall von griechischen Staatspapieren versichert. Dann ist niemand mehr bereit, dem griechischen Staat ohne hohe Risikoaufschläge Geld zu leihen. Ein Teufelskreis: Die hohen Zinsen erhöhen die Staatsverschuldung erst recht. Die Staatspleite rückt näher, wenn es keine Hilfe gibt.
Doch die europäischen Eliten stecken in einem Dilemma. Sie haben selbst eine steigende Staatsverschuldung. Außerdem warten andere Mitgliedsländer, insbesondere die so genannten PIGS- oder PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien) auch auf Hilfe. Unter dem Stichwort »moral hazard« (»moralische Gefährdung«) diskutieren die Eliten das Problem, dass staatliche Hilfen die »Eigenverantwortung« unterlaufen, weil Staaten und Unternehmen Profite privat einheimsen, Verluste aber über Staatshilfen sozialisieren.
Doch was passiert, wenn nicht geholfen wird? Der Ökonom Max Otte schreibt: »Zwar macht die griechische Wirtschaft nur 2,7 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung aus (zusammen mit Portugal, Spanien und Irland 17,9 Prozent), aber wie bei der Bankenkrise geht es auch um Dominoeffekte: Nach Griechenland könnten andere Problemländer zahlungsunfähig werden. Die deutschen Banken sind mit 522 Milliarden Euro in den PIIGS-Staaten engagiert (davon mit 31,8 Milliarden Euro in Griechenland), das sind Forderungen in Höhe von 20 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Sollte ein Teil dieser Forderungen ausfallen, stehen auch etliche deutsche Banken wieder vor der Insolvenz und müssten erneut gerettet werden. Die Weltwirtschaft stünde dann wahrscheinlich – ähnlich wie schon im Herbst 2008 – vor dem Kollaps.«
Deutschland bremst bei Hilfen für Griechenland und will am bisherigen Weg des Lohndumpings und der »Exportorientierung« festhalten. Um den Druck auf die Löhne und den Sozialstaat noch einmal zu verstärken, hat die letzte schwarz-rote Koalition eine »Schuldenbremse« in die Verfassung schreiben lassen, die noch strenger ist als der Vertrag von Maastricht. Der Staatshaushalt soll für den Bund ab 2016, für die Länder ab 2020 ausgeglichen sein. Gleichzeitig will die derzeitige schwarz-gelbe Koalition Steuern senken. Damit soll vorgegeben werden, dass der Staat trotz anhaltender Krise seine Ausgaben, gemeint sind die Sozialausgaben, senken muss.
Wenn aber die anderen EU-Länder und die USA überschuldet sind: Welche Regionen kommen dann noch als Absatzmärkte für die deutschen Exporte in Frage? Das vorgebrachte Argument, Deutschland müsse Exportüberschüsse erzielen, um so für seine Altersvorsorge Kapital anzusparen, alarmiert. Die Beiträge der Arbeitnehmer zur kapitalgedeckten Altersvorsorge, die gegen die bisherige umlagefinanzierte Altersvorsorge von den Regierungen vorangetrieben wird, sollen also als Kredit im Ausland angelegt werden und so die Exporte finanzieren. Eine Finanzkrise macht diese Anlagen womöglich zunichte. Den Arbeitnehmern sollen so die Risiken der Weltwirtschaft aufgebürdet werden.
Die griechische Regierung will der Bevölkerung einen Sparkurs aufzwingen, zu dem es angeblich aufgrund der Zwänge des Weltmarktes und des Auslands keine Alternative gibt. Doch schon juristisch ist die Lage nicht eindeutig. Zwar verbietet der Vertrag von Maastricht, dass die EU-Länder sich gegenseitig bei Staatsverschuldung zu Hilfe kommen, doch der Artikel 122 des Vertrages von Lissabon lässt dies bei »außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle [des Staates] entziehen«, zu. Das Kräfteverhältnis entscheidet, welche Lasten die drei Parteien (die griechische Bevölkerung, das griechische und schließlich das ausländische Kapital) übernehmen müssen. Entsprechendes gilt für Europa insgesamt.
Griechenlands Krise legt die Uneinigkeit der Herrschenden offen. Die Eliten der europäischen Zentralbanken beispielsweise sind wütend darüber, dass der Internationale Währungsfonds hinzugezogen wird. Im Falle Griechenlands befürchten sie, dass die USA als Konkurrent der EU auf ein mildes Vorgehen hinwirken, zumal die USA in Griechenland Militärbasen haben. Streitereien in den Führungsetagen helfen, sich gegen die sozialen Angriffe zu wehren. Doch wofür sollen wir kämpfen?
Zum »Sparen« gibt es Alternativen, wie viele linke Ökonomen schon lange betonen. Die gegenwärtige Krise hängt mit einer ganzen Reihe von Fehlentwicklungen zusammen. Die Löhne halten mit der Gesamtwirtschaft nicht Schritt. Hinzu kommt, dass die Kapitalisten immer weniger und die Arbeiter immer mehr besteuert werden. Konsum wird aber in erster Linie aus den Lohneinkommen finanziert. Die Gewinneinkommen sollen laut ökonomischer Theorie Investitionen finanzieren. Doch wer investiert, wenn die Konsumnachfrage immer weiter zurückfällt? Der Export bietet keine Lösung. Die Krise hat ja gezeigt, dass die Importeure sich nicht unbegrenzt verschulden können.
Löhne und soziale Leistungen, die mit der Wirtschaft Schritt halten, könnten Konsum und Nachfrage insgesamt stützen. Deutschland wäre weniger vom Export abhängig. Die Nachfrage der deutschen Bevölkerung käme den Exporten anderer Länder zugute. Dies würde außenwirtschaftliche Ungleichgewichte abbauen. Letztendlich werden aber auch höhere Löhne und mehr Sozialstaat die kapitalistische Wirtschaft nicht stabilisieren. Auch wenn die Nachfrage ausreichte, um die Produktionskapazitäten auszulasten, würde dies die Unternehmer nicht daran hindern, Arbeitsplätze wegzurationalisieren. Auch wird der Konkurrenzkampf der Konzerne gegeneinander weiter zur Zentralisation des Kapitals führen, sodass immer weniger Konzerne die Weltwirtschaft beherrschen. Gerade dies trägt zur Stagnation der Weltwirtschaft bei.
Die momentane Gegenwehr in Griechenland und Europa ist also nicht nur ein vorübergehender Abwehrkampf, sondern hat längerfristige und weitergehende Ziele. Es geht darum, die kapitalistische Logik in Frage zu stellen.
Zum Autor:
Thomas Walter ist Ökonom und Mitglied der LINKEN.
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