Bernd Riexinger hat als Geschäftsführer von ver.di Stuttgart lange selbst Streiks organisiert. Was er vom aktuellen Arbeitskampf an der Charité und in anderen Bereichen hält, erzählt der Vorsitzende der LINKEN im marx21-Gespräch.
marx21: Die Beschäftigten der Berliner Charité-Krankenhäuser streiken seit 22. Juni für mehr Personal. Welche Bedeutung hat dieser Kampf?
Bernd Riexinger: Es geht um Arbeitsbedingungen, die möglich machen, Patientinnen und Patienten zu pflegen und nicht nur abzufertigen. Es ist daher ein Streik, der direkt gegen das Kaputtsparen des Gesundheitssystems und die neoliberale Politik der letzten Jahre geht, die bei der Gesundheitsversorgung kürzt, Krankenhäuser privatisiert und wie Fabriken organisieren will. Diese Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung führt zu Pflegenotstand und Dauerüberlastung der Beschäftigten. Ein Krankenhaus kann man nicht organisieren wie eine Fabrik. Pflege im Minutentakt zerstört die Gesundheit von Beschäftigten und Patientinnen und Patienten.
Die Geschäftsführung der Charité sagt, sie sei der falsche Adressat für die Forderung, weil es eine deutschlandweite gesetzliche Lösung für das Problem brauche. Ist es richtig, in einem einzelnen Krankenhaus zu streiken?
Ja, es ist richtig, dass diese Auseinandersetzung mit einem entschlossenen Tarifkampf geführt wird. Die Geschäftsführung kann jammern, aber das zeigt, dass der Streik trifft. Und: Dass er eine Signalwirkung für andere Krankenhäuser hat, ist positiv. Denn es ist ein gesellschaftliches Problem: Es fehlen Milliarden an Investitionen in den Krankenhäusern, mit dem DRG-System wird Pflege wie Fabrikarbeit getaktet. Hoffentlich werden wir erleben, dass Beschäftigte in anderen Krankenhäusern nachziehen, um diese Verhältnisse zu ändern.
Um gute Arbeitsbedingungen in der Pflege und eine gute Gesundheitsversorgung für alle Menschen durchzusetzen, braucht es eine Wechselwirkung von Widerstand im Betrieb, Streiks und einer politischen Kampagne, die die Öffentlichkeit erreicht und Druck auf die Politik macht. Dafür können dann auch politische Initiativen der LINKEN im Bundestag hilfreich sein. Wenn Gewerkschaften und Bündnispartner gemeinsam handeln, könnte eine bundesweite Kampagne für gesetzliche Personalbemessung entstehen, die wirkt. Als LINKE machen wir aber auch mit unserer Kampagne »Das muss drin sein« Druck gegen prekäre Arbeit, Dauerstress und Existenzangst. Die Forderung nach mehr Personal in den Krankenhäusern und nach einer gesetzlichen Personalbemessung ist dabei eine zentrale Forderung.
Ein weiteres Argument der Arbeitgeber ist, der Streik gefährde die Patienten. Die Streikenden weisen das zurück. Wie ist der Kampf um die öffentliche Meinung in so einer Auseinandersetzung zu gewinnen?
Am wichtigsten ist, die gesellschaftliche Bedeutung des Streiks immer wieder zu betonen: Hier wird nicht für mehr Geld gestreikt, sondern für eine bessere Versorgung im Krankenhaus: Mehr von euch ist besser für alle. Das trifft es auf den Punkt. Diese Botschaft muss überall in der Stadt präsent sein. Es hilft, wenn Beschäftigte sich solidarisch erklären und sagen: Ich unterstütze den Streik, weil es auch um meine Gesundheitsversorgung geht. Gemeinsam mit Unterstützerinnen und Unterstützern können Veranstaltungen im öffentlichen Raum organisiert werden, können Arztpraxen, andere Krankenhäuser und Betriebe besucht werden, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen, um den Streik dadurch auch zu einem gemeinsamen machen.
Das besondere an der Tarifbewegung an der Charité ist, dass sie sich gegen die ständige Arbeitsverdichtung und Überlastung der Beschäftigten richtet. Glaubst du, dass wir solche Auseinandersetzungen in unserer »Burnout-Gesellschaft« künftig öfter erleben werden?
Ja, Burnout, Dauerstress, aber auch Existenzangst sind als Folge der neoliberalen Politik, die alles den Profiten der Unternehmen und der „Wettbewerbsfähigkeit“ unterordnet, tatsächlich zur Volkskrankheit geworden. Auch bei den Erzieherinnen und Erziehern, auch beim Streik der Deutschen Post spielt das indirekt eine große Rolle: Die Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen sind durch die Arbeit mit Menschen wie Beschäftigte in der Pflege ebenfalls stark belastet. Oft fehlt es an Personal, viele werden krank und schaffen es nicht bis zur Rente. Bei der Post leiden auch viele Brief- und Paketzustellerinnen und Zusteller unter Dauerstress infolge von jahrelangem Personalabbau.
Was könnte man dagegen tun?
Es ist doch gesellschaftlicher Wahnsinn, wenn einerseits Millionen Menschen dauerhaft ohne Arbeit sind oder sich als Teilzeitbeschäftigte und Mini-Jobberinnen wünschen, mehr zu arbeiten und andererseits immer mehr Beschäftigte unter Überlastung und Dauerstress leiden. Als LINKE legen wir mit der Kampagne „Das muss drin sein“ den Finger in die Wunde: Wir machen Druck für mehr Personal, für Vetorechte der Beschäftigten gegen Überlastung, für eine Ausweitung der Mitbestimmung auf Fragen des Personaleinsatzes und der Personalbemessung. Aber auch für eine Verkürzung und Umverteilung der Arbeit: Wenn alle 30 bis 32 Stunden pro Woche arbeiten würden, gäbe es keine Arbeitslosigkeit mehr und es wäre für alle Menschen einfacher, Beruf, Familie und Zeit für sich zu vereinbaren.
Ist das wirklich realistisch?
Eine solche Arbeitszeitverkürzung muss natürlich von einer gesellschaftlichen Bewegung gegen die Unternehmen durchgesetzt werden und mit existenzsichernden Löhnen und mehr Mitbestimmung in der Personalbemessung und Gestaltung der Arbeit zusammengehen. Das ist ein weiter Weg, aber wahrscheinlich der einzige, der aus einer Gesellschaft herausführt, in der immer mehr Menschen von Arbeit ausgeschlossen werden, während Millionen sich krank arbeiten.
Bahn, Kitas, Post: 2015 ist bislang ein Streikjahr, wie wir es in Deutschland lange nicht mehr hatten. Siehst du darin einen allgemeinen Trend?
Wir erleben tatsächlich die größte Streikbewegung seit Jahrzehnten. Briefträgerinnen und Lokführer, Schaffnerinnen, Krankenpflegerinnen und Erzieherinnen: Sie alle wehren sich endlich! Das macht Mut, denn es zeigt: Es ist eben nicht das Geld das arbeitet, sondern Menschen, ohne die wir alle aufgeschmissen sind. Es geht darum, dass die Bosse der Konzerne und die Politiker vielleicht doch kurz ins Grübeln kommen.
Als Pflegerin fällt es ja auch schwer, Patientinnen nicht zu behandeln, wie es den Erzieherinnen schwer fällt, Kinder vor verschlossenen Kita-Türen stehen zu lassen! Aber ohne diese Streiks wird sich nichts ändern an niedrigen Löhnen, unsicheren Arbeitsverhältnissen, permanenter Überlastung und Druck.
25 Jahre und länger habe ich solche Streiks mitorganisiert. Ich kann nur sagen: Super, was ihr macht! Die Streikenden kämpfen zunächst für sich, für ein besseres Leben, aber gleichzeitig kämpfen sie auch für das, was in einem reichen Land selbstverständlich sein sollte: Bei Amazon für einen Tarifvertrag, der vor Willkür, Rechtlosigkeit und permanenter Unsicherheit schützt! Auch bei der Post kämpfen die Beschäftigten für ihren Tarifvertrag und gegen die Erpressung durch Tarifflucht.
Auffallend ist, dass viele Konflikte in typischen Frauenberufen stattfinden, in denen vor 20 Jahren noch kaum gestreikt wurde. Was sind die Gründe dafür?
Seit Jahren wird von der Politik gekürzt. Personal in öffentlichen Einrichtungen wird eingespart auf Kosten derjenigen, die auf gute Kitas und Schulen, Gesundheitsversorgung und Pflege angewiesen sind. Und auf Kosten der Beschäftigten, die doppelt und dreifach arbeiten müssen.
Weil die öffentlichen Kassen leer sind.
Das ist ein Märchen. Geld verschwindet nicht, es wechselt nur die Besitzer. Das reichste 1 Prozent besitzt in diesem Land 35 Prozent des gesamten Vermögens. Ihre Macht und ihren Luxus verdanken die Superreichen vielfach der Vererbung hoher Vermögen. Der Reichtum wird ihnen in die Wiege gelegt. Das ist wirklich keine Leistung. Die Reichen und Konzerne wurden in den letzten Jahren systematisch durch sinkende Steuern entlastet, die Große Koalition weigert sich bis heute eine vernünftige Besteuerung der superreichen Erben anzugehen.
Das Geld fehlt aber in den Krankenhäusern, Pflegeheimen, Schulen und Kitas oder beim Bau von bezahlbaren Wohnungen. Die selbst verordnete Schuldenbremse, die die Kommunen dazu verdonnert, keine neuen Schulden aufzunehmen, verschärft die Misere. Dass es jetzt zu Streiks in der öffentlichen Daseinsfürsorge kommt, macht Mut: Man kann eine Gesellschaft nicht dauerhaft kaputt sparen. Wir brauchen dringend eine bessere Finanzierung von Gesundheitsversorgung, Bildung und Pflege. Das schafft Arbeitsplätze und ermöglicht gute Arbeit statt Profitdruck in diesen Bereichen.
Bei Streiks in Krankenhäusern, in der Pflege, bei den Erzieherinnen und Sozialarbeiterinnen geht es aber auch um eine wirkliche Anerkennung und Aufwertung gesellschaftlich immens wichtiger Arbeit. Es ist einfach unerträglich, wie mies die Arbeit am Menschen in unserer reichen Gesellschaft bezahlt wird. Und es ist unerträglich, dass die Arbeit von Frauen immer noch ein Viertel schlechter bezahlt wird, als die von Männern.
Sind die Streiks auch ein Widerstand gegen die Benachteiligung von Frauen?
Ja. Das wollen sich immer mehr Frauen nicht gefallen lassen. Das ist ein gesellschaftlicher Wandel, den ich auch bei den Streiks im Einzelhandel gesehen und bei ver.di mitorganisiert habe: Manche Verkäufer/innen bei H&M hatten nach Beendigung des jüngsten Tarifkonfliktes 50, 60 oder mehr Streiktage auf dem Buckel. Früher waren mehr als ein oder zwei Streiktage fast undenkbar. Es entsteht in Berufen, wo viele Frauen arbeiten, die Löhne nicht gerade hoch und die Arbeitsbedingungen oft prekär sind, eine neue Streikkultur, die auch von starken und selbstbewussten Frauen getragen wird. Die Streiks werden auch zunehmend phantasievoller und unter Beteiligung aller gemeinsam organisiert.
Wie beteiligt sich die LINKE an diesen Kämpfen?
Bei der Charité sind ja viele Aktive der LINKEN seit Monaten dabei und haben beim Arbeitskampf schon vor dem Streik praktisch mitgeholfen, indem sie Veranstaltungen organisiert haben, ein Unterstützungsbündnis mit ins Leben gerufen haben und über die Stationen gezogen sind, um Flyer an Patientinnen und Angehörige zu verteilen. Im Rahmen unserer Kampagne „Das muss drin sein“ finden bundesweit Aktionen statt, an vielen Orten werden dabei die Streiks der Erzieherinnen, bei der Post, bei Amazon oder Proteste gegen die Privatisierung von Krankenhäusern unterstützt.
Für uns als LINKE sind diese Kämpfe so wichtig, weil sie die Grundlage dafür sind, dass wir in dieser Gesellschaft etwas verändern können hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit und Demokratie. Als LINKE gehen wir mit unserer Kampagne auch für eine Partei ungewöhnliche Wege: Über mehrere Jahre hinweg wollen wir gemeinsam mit vielen Menschen, die nicht in der Partei sind, Druck aufbauen, für das was selbstverständlich sein sollte in einem reichen Land: für eine existenzsichernde Mindestsicherung statt menschenunwürdiger Sanktionen für Erwerbslose, für eine planbare Zukunft statt Befristungen und prekärer Arbeit, für bezahlbare Wohnungen und mehr Personal, für gute Bildung, Gesundheitsversorgung und Pflege für alle. Nur wenn sich viele Menschen und ganz unterschiedliche Gruppen von Beschäftigten zusammenschließen, können prekäre Arbeitsverhältnisse zurückgedrängt, gute Arbeitsbedingungen und ein selbstbestimmtes Leben statt Dauerstress und Existenzangst verwirklicht werden.
Du hast als langjähriger Vorsitzender von ver.di Stuttgart wesentlichen Anteil an der konfliktorientierten und aktivistischen Ausrichtung des Bezirks. Welche Erfahrungen würdest du gerne an die Streikenden der Charité weitergeben?
Die Streikenden müssen der zentrale Akteur sein. Es ist wichtig, immer wieder mit den Leuten zu diskutieren, Maßnahmen auszuwerten, Aktionen gemeinsam zu planen. Die Streikenden müssen das Gefühl haben, dass sie das Heft des Handelns in der Hand haben, Verantwortung haben für den Streik, das Ergebnis. Ebenso wichtig ist bei einer Auseinandersetzung wie wir sie bei der Charité erleben, einen langen Atem zu haben. Das heißt: streiken bis ein Ergebnis da ist.
Das erreicht man am besten, wenn die Streikenden unberechenbar bleiben, überraschendes einstreuen. Und von großer Bedeutung ist die öffentliche Wahrnehmung. Ein Streik kann nicht gegen die Öffentlichkeit gewonnen werden. Deshalb ist es beim Charité-Streik so wichtig, den Patientinnen und Patienten aufzuzeigen, dass die Beschäftigten mit ihnen in einem Boot sitzen, gemeinsame Interessen haben.
Ich habe das Gefühl, die Kolleginnen und Kollegen haben dafür ein hohes Bewusstsein. DIE LINKE und ich persönlich stehen weiter felsenfest an ihrer Seite und unterstützen sie, wo wir können.
Bernd, ich danke dir für das Gespräch.
Die Fragen stellte Martin Haller.
Foto: dielinkebw
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