Im Juli 1995 ermordete die Armee der »Republika Srpska« über 8000 Bosnier in der damaligen »Uno-Schutzzone« Srebrenica. Wahrscheinlich wäre das nie passiert, hätten die Regierungen der USA und EU-Staaten den Bosnienkrieg nicht in Kauf genommen. Von Hans Krause
Der Jahrestag des Massakers war in Srebrenica eigentlich als Zeichen der Versöhnung geplant. Doch der Hass der Bosnier sitzt noch immer tief.
Aleksandar Vucic legte am 11. Juli 2015 als erster serbischer Ministerpräsident Blumen an der Gedenkstätte für die Opfer ab. Doch kurz darauf flogen aus der Menge der Trauernden Steine und Flaschen auf ihn. Vucic‘ Brille ging kaputt und er musste von seinen Leibwächtern eilig in Sicherheit gebracht werden. Zum Zeitpunkt des Massakers war Vucic in Serbien Generalsekretär der rechtsradikalen Partei SRS, die den Krieg der serbischen Truppen unterstützte.
Massaker von Srebrenica
Das Massaker von Srebrenica vom 11. bis 22. Juli 1995 halten viele Geschichtswissenschaftler für das größte Verbrechen in Europa nach 1945. Die Armee der »Republika Srpska« in Bosnien-Herzegowina eroberte damals während des Bosnienkriegs die Stadt im Osten der Region. Die Uno hatte Srebrenica 1993 als »Schutzzone« für Bosnier eingerichtet, die von serbischen Truppen bedroht waren.
Die Armee tötete in drei Tagen mehr als 8000 bosnische Zivilisten, überwiegend Männer und Jungen über 16 Jahre. Das Ziel war, Bosnier im wehrfähigen Alter davon »abzuhalten«, in der bosnischen Armee zu kämpfen. Hunderte andere wurden verwundet und vergewaltigt.
Die niederländischen UNO-Truppen in der angeblichen »Schutzzone« hatten keinen Befehl, den Massenmord zu verhindern. Der Überlebende Zumra Sehomerovic sagte später aus: »Die Serben begannen, Mädchen und junge Frauen aus der Masse der Flüchtlinge rauszuholen. Sie wurden vergewaltigt. Die Vergewaltigungen fanden oft vor den Augen anderer statt und manchmal sogar vor den Augen der Kinder der Opfer.
Ein niederländischer Soldat stand daneben, schaute sich um und trug Ohrhörer, auf denen Musik lief. Er reagierte überhaupt nicht auf das, was passierte.«
Trauernde bei Särgen von Opfern des Massakers von Srebrenica. Bis heute werden neue Massengräber entdeckt. Wie viele Menschen genau ermordet wurden, wird wohl niemals festzustellen sein.
Wie konnte dieser Horror am Ende des 20. Jahrhunderts mitten in Europa geschehen? Medien und Geschichtsbücher nennen heute als Ursache des Massakers meist die nationalistischen serbischen Politiker, die nach der Auflösung Jugoslawiens 1992 möglichst große Teile Bosnien-Herzegowinas erobern und an Serbien angliedern wollten.
Im Unterschied zu den allermeisten Kriegen wurden einige der Hauptverantwortlichen später in Serbien verhaftet und vor ein Uno-Gericht in Den Haag gestellt: Radovan Karadzic, der damalige Präsident der »Republika Srpska«, sitzt seit 2008 im Gefängnis, der damals oberkommandierende General Ratko Mladic seit 2011. Der damalige Präsident des Staates Serbien Slobodan Milosevic wurde bereits im Jahr 2001 verhaftet und ist 2006 im Gefängnis gestorben. Doch diese Männer hätten niemals die Chance gehabt, das Massaker von Srebrenica anzuordnen, wenn die Regierungen der EU-Staaten und der USA die Bürgerkriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina nicht in Kauf genommen hätten, um ihre Macht auszuweiten.
Der Zerfall Jugoslawiens
Jugoslawien wurde bis 1990 von einer stalinistischen Ein-Parteien-Diktatur regiert, die sich ähnlich wie in der Sowjetunion »sozialistsich« nannte. Auch in Jugoslawien gab es in den 1980er Jahren immer mehr Widerstand dagegen, der auch zu wachsenden Unabhängigkeitsbewegungen in den Teilrepubliken führte.
Bei den ersten Wahlen in Kroatien 1990 gewann die nationalistische HDZ die absolute Mehrheit. Der neue Präsident Franjo Tudjman bereitete die schnelle Gründung eines unabhängigen Staates vor, ohne zu klären, was mit der serbischen Minderheit im Land geschehen solle. Diese erklärte daraufhin ihr Hauptsiedlungsgebiet von Kroatien unabhängig, gründete Milizen und bekam Waffen aus Serbien geliefert. Der kroatische Bürgerkrieg begann im März 1991, die Staatsgründung Kroatien folgte im Juni.
Obwohl die Unabhängigkeit Kroatiens zu einem Krieg geführt hatte und jeder dasselbe in Bosnien-Herzegowina befürchtete, entschied die EU Ende 1991 auf Drängen der deutschen Regierung von Helmut Kohl, dass Kroatien und Bosnien-Herzegowina als unabhängige Staaten in den Grenzen der bisherigen Teilrepubliken von Jugoslawien anerkannt werden.
Was auf den ersten Blick logisch erscheinen mag, ebnete den Weg zu zwei jahrelang andauernden Bürgerkriegen mit etwa 120.000 Toten und Millionen Flüchtlingen. Denn beide neue Staaten wurden von Nationalisten regiert, von denen die serbische Minderheit keine Gleichberechtigung erwarten konnte.
Auf Vorschlag der EU-Kommission hielt die bosnische Regierung im Februar 1992 eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit des Landes ab. 98 Prozent stimmten dafür. Allerdings hatten serbische Politiker zum Boykott aufgerufen und erklärten die serbisch bewohnten Gebiete für unabhängig von Bosnien-Herzegowina.
Krieg trotz Friedensabkommen
Doch noch immer hätte der Ausbruch des Bosnienkriegs verhindert werden können. Von den seit knapp einem Jahr andauernden Kämpfen in Kroatien abgeschreckt, begannen Politiker aus Bosnien-Herzegowina im März 1992 mit Verhandlungen über ein Friedensabkommen.
Das Ergebnis war der nach den vermittelnden Diplomaten benannte »Carrington-Cutileiro-Plan«. Er sah die Teilung der Macht zwischen bosnischen, kroatischen und serbischen Politikern und eine Dezentralisierung der Regierung vor.
Noch wichtiger als der Inhalt war aber, dass dieser Friedensplan am 18. März 1992 vom bosnischen Präsidenten Alija Izetbegovic, dem Präsidenten der »Republika Srpska« Radovan Karadzic und von Mate Boban, dem Präsidenten der »Kroatischen Republik« in Bosnien-Herzegowina, unterschrieben wurde. Karadzic, der später die Ermordung tausender Menschen anordnete, nannte die Unterzeichnung damals »einen großartigen Tag für Bosnien-Herzegowina«.
Trotzdem wurde der »Carrington-Cutileiro-Plan« niemals umgesetzt. Am 28. März traf der damalige US-Botschafter in Jugoslawien Warren Zimmermann den bosnischen Präsidenten Izetbegovic und sagte diesem Anerkennung und Unterstützung der USA zu, wenn Izetbegovic die Kontrolle über ganz Bosnien-Herzegowina erlangen wolle. Voraussetzung sei aber, dass er ein Verbündeter der USA und der Nato werde.
Izetbegovic zog seine Zustimmung zum Friedensplan noch am selben Tag zurück und beanspruchte öffentlich, einziger Präsident des gesamten Landes zu sein. Am 6. April erkannten die USA, Deutschland und andere EU-Mitglieder Bosnien-Herzegowina formell als Staat an. Am selben Tag begann der Bosnienkrieg. Er dauerte bis Dezember 1995.
Das bosnische Parlamentsgebäude in Sarajevo 1992, nachdem die Armee der »Republika Srpska« es mit Panzern in Brand geschossen hat. Allein während der Belagerung von Sarajevo wurden etwa 14.000 Menschen ermordet.
Die Interessen von USA und EU
Die Regierungen der USA und der EU-Staaten arbeiteten gegen eine mögliche friedliche Lösung der Konflikte in Kroatien und Bosnien-Herzegowina, weil die neuen nationalistischen Regierungen Verbündete für die Ostausdehnung von Nato und EU waren. Ein weiterhin vereintes Jugoslawien oder ein Mitspracherecht der serbischen Minderheiten haben diese Ostausdehnung hingegen gefährdet. Auch deshalb, weil der damalige Präsident Serbiens Milosevic ein wirtschaftliches und militärisches Bündnis mit Russland anstrebte. US-Botschafter Zimmermann sagte später: »Unsere Hoffnung war, dass die Serben aufgeben würden, wenn klar ist, dass Bosnien die Anerkennung der westlichen Länder hat. Das stellte sich als falsch heraus.«
Im Verlauf des Krieges schmuggelten Geheimdienste der USA, Deutschlands und anderer EU-Staaten trotz eines Uno-Embargos gegen alle Kriegsparteien Waffen an die bosnische und kroatische Armee. Nach dem Massaker von Srebrenica begann die Nato ihre stärksten Luftangriffe des Krieges. Im August und September 1995 warf sie über tausend Bomben auf Soldaten und Zivilisten der »Republika Srpska« ab, um die bosnische Armee am Boden zu unterstützen. Der Krieg endete im Dezember mit dem »Abkommen von Dayton«, das sich nach mehr als dreieinhalb Jahren Krieg nur wenig vom »Carrington-Cutileiro-Plan« von 1992 unterschied.
Doch auch das Dayton-Abkommen bedeutete noch keinen Frieden für die Menschen im ehemaligen Jugoslawien. Nur drei Jahre später begann der Krieg um die Unabhängigkeit des Kosovo, wieder mit schweren Bombardierungen der Nato in Serbien und im Kosovo und wieder mit tausenden von Toten.
Zwar hatte am Ende des Bosnienkriegs noch keine der Kriegsparteien ihre Ziele erreicht. Doch es gelang den USA und den EU-Regierungen in den folgenden Jahren, mehrere Staaten des ehemaligen Jugoslawien wirtschaftlich und militärisch unter ihre Kontrolle zu bringen: Slowenien trat 2004 der Nato und der EU bei und führte 2007 den Euro ein. Kroatien schloss sich 2009 der Nato und 2013 der EU an. Bosnien-Herzegowina, Serbien, Mazedonien und Montenegro haben Antrag auf Mitgliedschaft in der EU gestellt.
Massengrab in Srebrenica. Auf manchen Wiesen am Stadtrand wurden hunderte Leichen gefunden, die mit Erdbaumaschinen vergraben wurden.
Das Massaker von Srebrenica zeigt uns, dass der Horror des Völkermords auch heute in Europa jederzeit wiederkehren kann. Zugleich sollten wir daran erinnern, dass es die Regierungen der USA und EU unter Führung Deutschlands waren, die den Tod von Zehntausenden in Kauf nahmen, um weitere Länder ihrem wirtschaftlichen und militärischen Machtbereich hinzuzufügen. Vielleicht kann diese Erinnerung dazu beitragen, dass wir nächstes Mal eine große Antikriegsbewegung auf die Beine stellen, wenn Nato-Waffen und -Soldaten wieder einmal in einen angeblich gerechten Krieg geschickt werden sollen.
Foto: Adam Jones, Ph.D. – Global Photo Archive
Schlagwörter: Jugoslawien