Ein muslimischer Bürgermeister steht Arm in Arm mit transsexuellen Aktivistinnen auf einer Bühne: In Großbritannien kämpft eine neue Gruppe dafür, gesellschaftliche Vorurteile zu überwinden. Wir sprachen mit einem der Gründer.
marx21: Geoff, du gehörst der Gruppe »LGBT gegen Islamophobie« (LGBTAI, »LGBT« steht im Englischen für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender, Anm. d. Red.) an. Wann und unter welchen Bedingungen habt ihr euch gegründet?
Geoff Dexter: Wir haben uns von der Gruppe »Lesbians and Gays Support the Miners« (Lesben und Schwule unterstützen die Bergarbeiter) inspirieren lassen, die anlässlich des dreißigsten Jubiläums des großen Bergarbeiterstreiks neugegründet wurde …
… jene Gruppe, deren Geschichte der wunderbare Film »Pride« erzählt …
Genau. Der Film zeigt auf, wie Menschen ihre Ideen im Kampf verändern und wie Vorurteile sogar in den Reihen der unwahrscheinlichsten Verbündeten dahinschmelzen.
LGBTAI ist entstanden inmitten einer Periode, in der Islamophobie die Speerspitze des Rassismus darstellt – nicht nur um imperialistische Kriege zu rechtfertigen, sondern auch um unseren Widerstand gegen die Austerität zu spalten.
Genau wie die Bergarbeiter vor 30 Jahren die Hauptlast von Thatchers Offensive tragen mussten, befinden sich die Muslime heute unter Beschuss.
Die Gründung unserer Gruppe ist eigentlich nichts Neues. Revolutionäre Sozialisten haben bereits andere inspirierende Initiativen ergriffen. Im Osten Londons klebten beispielsweise vor einigen Jahren ein paar Muslime – die keineswegs die muslimische Gemeinschaft vertreten – Sticker, auf denen stand, dieser Teil der Hauptstadt sei eine No-go-Area für Gays. Die faschistische English Defence League (EDL), aber auch die Mainstreampresse, die Behörden und tragischer Weise sogar manche aus der Linken und dem liberalen Spektrum stürzten sich darauf und behaupteten, Muslime seien per se homophob und dass der Osten Londons tatsächlich ein Gebiet sei, in dem sich Schwule und Lesben besser nicht aufhalten sollten. Der liberale Journalist Johann Hari behauptete gar, es gebe unter Muslimen keinerlei Unterstützung für LGBT.
Doch das hat mit der Realität nichts zu tun. Die Kampagnengruppe »Stonewall« führte eine Untersuchung unter der Überschrift »Liebe deinen Nachbarn« durch. Deren Ergebnisse verdeutlichten, dass es keinen Zusammenhang zwischen Glauben und Homophobie gibt. Ohnehin haben diese Verallgemeinerungen keinen Bestand gegen die Alltagserfahrungen im multikulturellen London.
Trotzdem haben die Nazis versucht, den Fall auszuschlachten?
Ja, die EDL wollte eine »East London Pride« durchführen, um die »Straßen von den Muslimen zurückzuerobern«.
Aber es gelang uns, den geplanten Marsch zu verhindern. Und nicht nur das: Wir brachten Gewerkschaften, Studierende, verschiedene Initiativen und nicht zuletzt die Moscheen zusammen, um gemeinsam ein massive East London Pride unter dem Slogan »Nein zu Islamophobie, Nein zu Homophobie!« auf die Beine zu stellen. Einer der schönsten Momente war, als der muslimische Bürgermeister des Bezirks Tower Hamlets Arm in Arm mit Trans- und Gay-Aktivistinnen und -Aktivisten auf der Bühne stand.
Wie haben sich die Dinge seitdem entwickelt?
Leider hat sich die Islamophobie in der britischen Gesellschaft noch verstärkt. Das ist wenig überraschend, denn wir haben es mit einem konzertierten Angriff der Medien, der Mainstreamparteien und der staatlichen Behörden zu tun.
Am perversesten und scheinheiligsten ist, dass diese Institutionen vermeintlich »britische Werte« hochhalten. In diesem Zusammenhang versucht die Regierung, die LGBT-Bewegung in Stellung gegen Muslime zu bringen.
Wir dürfen aber nicht vergessen: Es waren die jetzt regierenden Torys, die in den 1980er Jahren die sogenannte Section 28 einführten. Dieses Gesetz verbot Gemeinden, Schulen und Kommunalbehörden die »Förderung von Homosexualität«, was zur Konsequenz hatte, dass in allen Bereichen des öffentlichen Lebens nur noch negativ über Homosexualität berichtet werden durfte – etwa im Zusammenhang mit Tod und Krankheit. Section 28 ist zwar mittlerweile beseitigt und es haben auch einige andere positive Gesetzesänderungen stattgefunden. Doch die mussten wir alle von unten erkämpfen.
Gegenwärtig führt die konservative Regierung eine neue, mit Section 28 vergleichbare Regelung ein: das »Model Free School Agreement«. Diese Vereinbarung über die systematische Privatisierung von staatlichen Schulen und ihre Umwandlung in »Akademien« beinhaltet den Unterpunkt 28, wonach sicherzustellen ist, »dass Kinder an den Akademien von ungebührlichen Übungsmaterialien geschützt werden und sie das Wesen der Ehe und ihre Bedeutung für das Familienleben und die Kinderaufzucht lernen.« So viel zu den »britischen Werten«.
Der Versuch, uns in Stellung gegen die vermeintlich rückständigen Muslime zu bringen, ist das, was wir als »Pink washing« bezeichnen. Damit ist die Vereinnahmung von LGBT für ganz andere Zwecke gemeint. Es gibt hier deutliche Parallelen zu Israels Selbstdarstellung als einzig sicheren Ort für LGBT im ganzen Nahen Osten. Überall werden unsere Rechte als Instrument missbraucht, um Islamophobie zu schüren.
Aber das findet doch schon länger statt. Warum habt ihr LGBTAI gerade jetzt gegründet?
Weil sich die gesellschaftlichen Debatte immer weiter verschärft. Wir ziehen es vor, proaktiv zu sein, anstatt bloß zu reagieren. Es ist wichtig, die Initiative zu ergreifen und es nicht zuzulassen, dass Nazis, die extreme Rechte oder Neokonservative die Agenda diktieren.
Seit der Gründung von LGBTAI im Februar dieses Jahres sind wir mit unserem Banner auf möglichst jede Pride-Demonstration in Großbritannien gegangen und haben unterschiedliche Gruppen dazu bewegt, es so sichtbar wie möglich zu tragen. Wir haben auch eine Druckvorlage erstellt, so dass Gruppen sich ein eigenes Exemplar zum erschwinglichen Preis drucken lassen können.
Auch wenn ich mich selbst als revolutionären Sozialisten bezeichne, ist unsere Gruppe offen für alle LGBT, die sich engagieren wollen. Überall, wo wir hingehen, erfahren wir große Unterstützung.
Was sind eure Hauptziele?
Wir möchten den Muslimen zeigen, dass sie nicht allein sind. Wir wollen, dass LGBT, die ja überall mehrheitlich gegen Rassismus und Islamophobie sind, sichtbar werden und zugleich ihr politisches Bewusstsein schärfen.
Wir wissen: Wenn heute die Muslime dran sind, können wir es schon morgen sein. Es hilft LBGT ihr Selbstbewusstsein zu heben, wenn sie nicht nur für ihre eigenen Rechte eintreten und die errungenen sexuellen Freiheiten feiern, sondern auch anderen unterdrückten Gruppierungen helfen. Wir wollen unsere Unterstützung auf den Straßen sichtbar machen.
Außerdem möchten wir Barrieren niederreißen und durch unsere Aktionen Mythen hinterfragen, die uns spalten. Eine Aktion sagt mehr als Worte. Durch die Interaktion mit Muslimen gewinnen LGBT einen besseren Einblick in deren Leben und umgekehrt. Wenn Menschen massive Angriffe erfahren, braucht es Zeit, um Vertrauen zu gewinnen. Das ist der Grund, warum wir keine Bedingungen für unsere Solidarität stellen. Wir sagen nicht: »Wir werden euch nur unterstützen, wenn ihr uns unterstützt.« Aber wenn irgendwann Vertrauen aufgebaut ist und wir gleichberechtig Seit‘ an Seit‘ stehen, dann ist vieles möglich.
Wie sehen eure Verbindungen zu den großen antifaschistischen und antirassistischen Bewegungen aus?
Wir haben uns nicht separat von »Stand Up to Racism« (Aufstehen gegen Rassismus) oder »Unite Against Fascism« (Vereint gegen Faschismus) gegründet. Das sind die großen landesweiten Bündnisse. Es ist lebenswichtig, dass alle Gruppierungen und Organisationen ihre Aktionen koordinieren und sich vereinen, um Faschismus und Rassismus zu bekämpfen. Es geht darum, die Hauptspaltungslinie anzugehen, die die herrschende Klasse einsetzt, um uns auseinander zu dividieren.
Wie kann man in Deutschland mehr über euch erfahren?
Zum Beispiel über unsere Präsenz auf Facebook. Obwohl sie noch nicht so lange besteht, haben wir schon einige Freunde. Aber wir sind natürlich dankbar, wenn ihr sie weiter bekannt macht.
Interview und Übersetzung: David Paenson
Zur Person: Geoff Dexter ist einer der Initiatoren von »LGBT+ Against Islamophobia«
Schlagwörter: Großbritannien, Islamophobie, LGBT, London, Pride