Die Linke diskutiert zu wenig über das Individuum. Das meint der Historiker Christoph Jünke. Im Interview erklärt er, warum eine marxistische Anthropologie notwendig ist – und was Sozialismus mit Würstchen zu tun hat.
marx21: Der Mensch als solches – darüber haben Linke Anfang der 1980er Jahre noch diskutiert. Ein Autor wie Erich Fromm war mit seinem Humanismus sehr beliebt. Heute werden Debatten über marxistische Anthropologie kaum noch geführt. Warum?
Christoph Jünke: Das hat natürlich vor allem damit zu tun, dass die sozialistische, marxistische Linke seit den achtziger Jahren weitgehend zerrüttet, geschrumpft und marginalisiert ist. Mit dem historischen Moment, als die sozialistische Linke Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre weitgehend zerfällt, hört auch die Diskussion über Menschenbilder wieder auf und wird von rechts besetzt, vor allem von den damals aufkommenden Neoliberalen und Postmodernisten. Die Diskussion um den sozialistischen Humanismus und eine marxistische Anthropologie war aber auch damals schon nicht sehr hegemonial auf der Linken.
Womit hängt das deiner Meinung nach zusammen?
Ich denke, dass wir es hier mit einem Bündel von Ursachen zu tun haben – zum einen historische: Im bürgerlichen Denken gibt es eine sehr starke Tradition, mit dem Menschen als solchem zu argumentieren, und zwar in abschreckender Weise. Mit dem Biologismus und Rassismus der bürgerlichen Denktradition, bis hin zum Faschismus, hatten Linke schon immer mächtige Probleme. Sie wollten nicht ins Fahrwasser dieses Denkens geraten.
Es gibt aber auch theoretische, innermarxistische Gründe. Angetreten ist das marxistische Denken ja, sich auf die historisch-konkreten Zeitumstände einzulassen und das in der Geschichte Veränderliche mit der Maßgabe zu betonen, es in eine andere Richtung zu verändern. Der Marxismus besitzt daher eine starke Tradition, sich eben nicht auf die vermeintlich abstrakte menschliche Wesensschau einzulassen, sondern sich um das zu kümmern, was konkret zu verändern ist – im Gegensatz zur Anthropologie, die immer Wesensschau ist, das Betrachten des Unveränderlichen.
Diese Nicht-Thematisierung hat eine lange Tradition. Schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert hat man sich zwar allgemein als Erbe des klassischen bürgerlichen Humanismus betrachtet, aber eigentlich war das kein besonderes Thema für sich. Und dass Marxisten im 20. Jahrhundert begonnen haben, sich expliziter mit Fragen der Anthropologie zu beschäftigen, liegt natürlich vor allem an den Erfahrungen mit dem Faschismus und dem Stalinismus, aber auch mit der zunehmenden Integration der sozialdemokratischen Bewegung in den sozialstaatlichen Kapitalismus. Gerade das Scheitern linker Emanzipationsbewegungen spielt hier eine zentrale Rolle. Denn mit der Frage, in welcher Form und mit welchem Inhalt man diese nun nicht mehr emanzipativen Bewegungen kritisieren kann und soll, ist man schnell bei der Frage nach dem sozialistischen Menschenbild: Kann man an der sozialistischen Idee festhalten? Sind die Menschen zum Guten zu erziehen oder müssen sie sich selbst erziehen? Können sie das überhaupt und wenn ja, wie?
Es war also die Erfahrung eines historischen Scheiterns, die viele Sozialisten und Marxisten vor allem in den 1950er und 1960er Jahren sich mit Menschenbildern auseinandersetzen ließ. Erich Fromm ist sicherlich einer der bekanntesten und wichtigsten dieser Vordenker, aber man findet vergleichbares auch bei Ernst Bloch oder Jean-Paul Sartre, bei Herbert Marcuse oder Henri Lefèbvre, bei Che Guevara oder Isaac Deutscher, bei den osteuropäischen Reformkommunisten oder den Lukács-Schülern Agnes Heller und György Márkus.
Du selbst hast dich am Beispiel des deutschen Marxisten Leo Kofler mit dieser Problematik beschäftigt.
Ja, und ich halte Koflers Werk für einen der systematischsten und überzeugendsten Versuche einer solchen Neubearbeitung des anthropologischen Themas. Kofler hat bereits in den 1950er Jahren systematisch angesetzt und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass es eine spezifisch marxistische Anthropologie gibt – was andere, die sich damit beschäftigt haben, oft verneint haben.
Kofler hat die Anthropologie als, so wörtlich, Wissenschaft von den unveränderlichen Voraussetzungen menschlicher Veränderungen zu fassen versucht. Auch er betont in marxistischer Tradition, dass es vor allem die Arbeit als ganze, also die menschliche Tätigkeit ist, die den Menschen zum Menschen macht. Doch stärker als die meisten anderen Marxisten betont Kofler, dass man diese Arbeit nicht vom Bewusstsein des Menschen trennen könne. Er betont außerdem, dass Menschen danach streben, ihre Tätigkeit so spielerisch wie möglich anzulegen, weil letztlich auch die Arbeit der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dient. Diese Bedürfnisse erschöpfen sich nicht im rein Materiellen, sondern haben immer auch einen im weitesteten Sinne des Wortes erotischen Zweck. Der Mensch ist nicht nur Ratio, er ist auch ein irrationales Triebwesen, das mittels der Ratio versucht, seine letztlich irrationalen menschlichen Triebe zu verwirklichen.
Für Kofler ist jedoch, und das wurde selten verstanden, die marxistische Anthropologie keine direkte Anleitung zum Handeln, wohl aber unabdingbar bei der Kritik des Bestehenden und bei der Diskussion notwendiger und möglicher Alternativen. Kofler sieht den Menschen als ganzheitliches Wesen und plädiert für eine volle Entfaltung der Persönlichkeit dieses Menschen als eines Gattungswesens. Hierin steckt eine Kritik der kapitalistischen Klassengesellschaft, die dem menschlichen Wesen eben nicht gerecht wird und die beispielsweise immer auch auf einer repressiven, asketischen Arbeitsdisziplin gegründet ist.
Gegen diese Sichtweise argumentierten Marxisten traditionell, dass es im Kampf für Befreiung doch vielmehr um Fragen der Ökonomie gehe, um die materiellen Interessen der Menschen, um Klasseninteressen und Klassenkämpfe.
Auch das ist nicht verkehrt, wohl aber einseitig. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gibt es eine lange Tradition marxistischen Denkens, die man als dogmatisch und mechanistisch bezeichnen muss und die alles auf Fragen der Ökonomie reduziert. Das war zwar aus einer gewissen historischen Situation heraus geboren, nichtsdestotrotz in seiner Einseitigkeit falsch. Trotz aller Heterogenität waren sich die späteren Denker eines antidogmatischen Marxismus einig, dass das eine falsche Marx-Interpretation ist. Der Mensch ist ein aktives, ein tätiges Wesen und es geht ihm um mehr als nur um die Ökonomie, nämlich um menschliche Beziehungen und Selbstverwirklichung. Wie Brecht sagte: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein und hat auch dies nicht ohne Kultur.
Kofler selbst sprach immer davon, dass man sich klar darüber werden muss, was man will, was man unter Sozialismus eigentlich versteht. Ist es Sozialismus, wenn wir zwei oder drei Würstchen mehr auf dem Teller haben? Oder ist Sozialismus nicht etwas, das den Menschen von der Entfremdung befreit, in die er sich historisch hineinmanövriert hat? Ist er etwas, das den individuellen Menschen als integralen Teil des menschlichen Gattungswesens versteht, ohne dass sich das Individuum in seiner Einzigartigkeit aufgeben muss? Eine solche Sichtweise hat nur bedingt mit Ökonomie zu tun.
Warum hat gerade Kofler dies so betont?
Das ist natürlich auf seine praktischen Erfahrungen mit dem DDR-Sozialismus zurückzuführen – er lebte und wirkte von 1947 bis Ende 1950 in Ostdeutschland. Dort wurde ihm klar, dass man diese realsozialistischen Verhältnisse nicht angemessen kritisieren kann, wenn man keinen Begriff davon hat, wozu der Sozialismus eigentlich da sein soll, was das Ziel der menschlichen Emanzipation ist. Einen solchen Emanzipationsbegriff kann man aber nicht bekommen, wenn man nicht auch einen Begriff vom Wesen des Menschen hat: Wozu ist der Mensch da und wozu nicht, was kann und darf er machen und was nicht? Man kann die Menschen nicht mit bürokratischen Mitteln und nicht mit Gewalt zum Sozialismus erziehen; dieser stalinistische Technokratismus hat sich nicht nur historisch-praktisch als falsch und verheerend erwiesen.
Dieser Technokratismus hat interessante Ähnlichkeiten mit dem heutigen postmodernen Denken. Nichts ist unmöglich, heißt es. Alles sei veränderlich, auch der Mensch selbst.
In der philosophischen Tradition gibt es zwei große Stränge. Die sogenannten Naturalisten führen alles auf die Natur der Welt zurück, während die Kulturalisten in allem die Kultur erkennen. Der Postmodernismus, das kann man trotz seiner umfangreichen Heterogenität sagen, steht eindeutig in der Tradition des Kulturalismus. Der Mensch ist ihm, pointiert gesagt, ausschließlich Kultur. Das hat natürlich einen wahren Kern, ist aber eben auch nicht wirklich richtig. Das Spannende bei einem Denker wie Kofler scheint mir zu sein, dass er diese Dichotomie von Naturalismus und Kulturalismus tendenziell überwindet.
Auch die heutige Diskussion geht wieder in diese Richtung. Vor allem im angelsächsischen Marxismus, der ja seit den 1980er Jahren die Vorreiterrolle im internationalen Marxismus spielt, gibt es eine neue Beschäftigung mit Fragen der Anthropologie. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre spielte hier vor allem Norman Geras eine Pionierrolle. Im Übergang zu den 1990ern schärfte dann die Kritik des postmodernen Denkens den Blick für Fragen der Anthropologie, etwa bei Alex Callinicos oder Terry Eagleton. Vor allem Eagleton ist mit seinen zahlreichen Arbeiten einer marxistischen Anthropologie auf der Spur. Obwohl er ja aus einer ganz anderen Tradition kommt, aus dem Flirt mit dem antihumanistischen Strukturalismus eines Louis Althusser, betont er heute nicht nur, dass es ein menschliches Wesen gibt, sondern dass die Linke auch daran krankt, dass sie sich diesem Thema nicht stärker zuwendet. Wir Menschen sind, so Eagleton griffig, kulturelle Wesen aufgrund unserer Natur, aufgrund der Beschaffenheit unserer Körper und der Welt, zu der diese Körper gehören.
Das scheint mir der zentrale marxistische Gedanke zu sein, der sowohl den einseitig zugespitzten Kulturalismus wie den einseitig zugespitzten Naturalismus überwindet. Der Mensch ist beides: Naturwesen ebenso wie Kulturwesen. Nichts anderes sagt Leo Kofler bereits fünfzig Jahre vorher. Ja, unsere Natur ist, dass wir kulturelle Wesen sind. Doch wir können uns nur bis zu einem bestimmten Punkt verändern, ohne aufzuhören, Menschen zu sein.
Könnte der vorherrschende Neoliberalismus diese Sichtweise schärfen?
Wo der Mensch dem Menschen ein Wolf ist; wo er als Ich-AG verstanden wird, als vereinzelter Einzelner, der seine individuellen Ressourcen in den Wettlauf der Warenförmigkeit zu werfen hat – dort sind linke, emanzipative Überlegungen zu einem anderen Menschenbild mehr als angebracht.
Die marxistische Tradition steht und fällt damit, dass man trotz aller Individualität berücksichtigt, dass der Mensch Teil eines Kollektivs, dass er ein Gattungswesen ist – und eben nicht jener vereinzelte Einzelne, als der er heute gilt. Der Mensch, so Kofler, kann sich nur in der Gemeinschaft vereinzeln. Und was uns fehlt, ist ein Bewusstsein dieses Kollektiven, des Solidarischen. Was darf der Mensch, was darf er nicht?
Kann man beispielsweise über das Klonen oder die Eugenik diskutieren, ohne sich über das eigene Menschenbild zu verständigen? Dass sich so wenig Marxisten einer solchen Diskussion stellen, zeigt, wie viel in den letzten drei Jahrzehnten verlorengegangen ist. Natürlich gab und gibt es Ausnahmen. Terry Eagleton hab ich ja schon erwähnt. Weitere Beispiele sind Pierre Bourdieu und Naomi Klein, die Ende der 90er Jahre ausgesprochen populär wurden, weil sie auf überzeugende Weise das neoliberale Menschenbild in Frage stellten.
Doch wie kommt man einem solchen Humanismus praktisch näher? Erich Fromm beispielsweise spricht zwar viel vom Menschen, geht aber kaum auf kollektiven Protest oder auf Streikbewegungen ein. Wir haben es bei diesem Menschen in der Regel mit einem abstrakten Individuum zu tun. Und auch bei Leo Kofler wird die Humanität vor allem durch Bewusstsein und Bildung gebildet.
Es sind ja zwei große Quellen, aus denen sich die klassische sozialistische Bewegung speiste. Auf der einen Seite die radikale Tradition der Aufklärung, die vor allem auf Bildung und Erziehung setzt. Auf der anderen Seite haben wir den Emanzipationskampf der arbeitenden Klassen. Beide Elemente haben sich in der klassischen sozialistischen Bewegung tendenziell vereinigt, haben aber, für sich genommen, wenig miteinander zu tun. Gerade mit dem Ende dieser klassischen sozialistischen Bewegungen in der Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich diese tendenzielle Einheit von Theorie und Praxis wieder gelockert. Davon ist natürlich auch das Werk eines Fromm, Marcuse oder Kofler betroffen.
Ich denke, dass die Zeiten vorbei sind, wo man glauben durfte, dass die Menschen durch Erziehung zu Sozialisten werden. Die Erfahrung mit der alten Arbeiterbewegung zeigt sehr deutlich die Grenzen einer reinen Bildungsarbeit. Wenn es politisch auf sie ankam, haben diese Organisationen versagt, weil sie nicht verstanden haben, in welcher Form und in welchem Ausmaß das Bewusstsein breiter Teile der Bevölkerung über gesellschaftliche Praxis, über Demonstrationen, Aktionen und Streikbewegungen, über alltägliche Klassen- und Massenkämpfe geschaffen und geschärft wird.
Das soll nicht heißen, dass die praktische Bewegung alles ist. Doch ohne praktische Bewegung kann die Theorie nicht nur nicht fruchten, sondern noch nicht einmal richtig erarbeitet werden. Man wird zum Sozialisten, indem man praktische Erfahrungen macht und diese Erfahrungen theoretisch verarbeitet. Beides kann aber nicht zusammenkommen, wenn man keine oder nur kleine soziale Bewegungen hat. Man muss wieder einen Weg finden, im Alltag Bewusstseinsarbeit, Theoriearbeit, Bildungsarbeit zu verbinden mit Oppositionskämpfen im weiteren Sinne und mit Arbeiterkämpfen im engeren Sinne. Das scheint mir die Aufgabe, vor der heutige Marxisten stehen.
Ist es in diesem Zusammenhang ein Vorteil für dich, dass die heutige Arbeiterklasse in der Regel besser ausgebildet und gebildet als früher ist?
Man sollte meinen, dass dies ein Vorteil ist. Der heutige durchschnittliche Lohnarbeiter ist nicht nur weiblicher und ethnisch vielfältiger, er scheint auch aufgeklärter und gebildeter zu sein als vor 50 oder 100 Jahren. Auf der anderen Seite hat man es heute mit Phänomenen zu tun, die dieses aufgeklärte Bewusstsein partiell auflösen können. Es ist ja kein Zufall, dass sich Linke und Sozialisten seit Jahrzehnten so stark mit der Kulturindustrie und mit Medienpolitik auseinandersetzen. Im Bildungssystem oder Fernsehen bekommt man eine Aufklärung, die nicht praktisch ist.
Gymnasialschüler müssen etwa Feinheiten der Mathematik pauken, von denen man kaum noch sagen kann, wozu sie diese Kenntnisse später einmal brauchen. Dementsprechend fehlt den meisten das Interesse, sich entsprechende Kenntnisse anzueignen. In der Schule kann man heute lernen, wie ein Computer aufgebaut ist, aber nicht, wie man verantwortlich mit ihm umzugehen hat.
So ist der durchschnittliche europäische Mensch heute sicherlich aufgeklärter, geht aber deswegen nicht unbedingt für seine Bedürfnisse und Forderungen auf die Straße. Da sollte man sich nichts vormachen. Trotzdem kann man die Hoffnung haben, dass der Bewusstwerdungsprozess sehr viel schneller vonstatten gehen wird, wenn die Leute einmal aktiv werden und sich zu wehren beginnen.
Zur Person: Christoph Jünke ist Vorsitzender der Leo Kofler-Gesellschaft e.V. und Autor von »Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler – Leben und Werk (1907-1995)« (VSA 2007) sowie »Der lange Schatten des Stalinismus. Sozialismus und Demokratie gestern und heute« (Neuer ISP-Verlag 2007). Kürzlich erschien sein Buch »Leo Koflers Philosophie der Praxis« (Laika 2015).
Zum Interview: Dieser Text erschien erstmals in marx21, Nr. 24 (Februar/März 2012). Eine ausführlichere Fassung ist, allerdings auf Niederländisch, in der Zeitschrift Grenzenloos (Nr. 115, Dezember 2011) veröffentlicht worden. Die Fragen stellte Arthur Bruls.
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Schlagwörter: Marxismus