Mit Tobias ten Brinks Buch »Geopolitik« erreicht die wissenschaftliche Debatte, die im englischsprachigen Raum in den letzten Jahren zur Herausbildung der so genannten »Neuen Imperialismustheorie« geführt hat, endlich auch Deutschland. Von Max Steininger
Der Frankfurter Politologe gliedert seine Arbeit in drei große Abschnitte. Im ersten Teil stellt er die verschiedenen Theorien über internationale Beziehungen kritisch vor. Die klassischen Imperialismustheorien basieren seiner Ansicht nach auf einigen Annahmen, die für die heutige Situation nicht mehr verallgemeinert werden können:
(1) Die Überbetonung des Kapitalexports als Triebfeder kolonialer Eroberung, (2) die Überbetonung des »Monopols« in der kapitalistischen Wirtschaft,
(3) eine oftmals einseitige Krisentheorie, die entweder nur als Folge der Marktanarchie, von inneren Widersprüchen der Produktionssphäre oder der ungleichen Verteilung zwischen den Klassen erklärt wird,
(4) die Überbetonung der expansiven Rolle des »Finanzkapitals« sowie die Trennung zwischen »Finanzkapital« und »Industriekapital« und zuletzt (5) eine instrumentelle Staatstheorie, die den Staat zum Werkzeug des inneren »Monopolkapitals« verklärt.
Ten Brink schlägt daher im zweiten Teil des Buches vor, den Kapitalismus als ein System zu beschreiben, das auf vier Strukturmerkmalen basiert. Diese bilden allesamt eine eigenständige konflikthafte Dynamik aus, sind aber miteinander verbunden: Erstens »die vertikale Achse« zwischen Kapital und Arbeit, die sich vor allem in der Ausbeutung durch Lohnarbeit manifestiert und Klassenkonflikte zwischen Oben und Unten hervorbringt.
Zweitens die »horizontale Achse« der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Kapitalien auf dem freien Markt. Diese ist Triebfeder für die Entwicklung von Produktivkräften und für die Kapitalakkumulation, aber sie bringt ebenso Konflikte zwischen den einzelnen Kapitalfraktionen hervor.
Drittens ist für die Herstellung des kapitalistischen Marktes notwendig, dass Geld als Wertstandard durch eine allen Kapitalisten äußere, also eine politische Instanz, definiert werden muss. Geldpolitik stellt sich dabei als konflikthafter Prozess einerseits zwischen Kapital und Staat, andererseits zwischen den Staaten heraus, die um Kapital konkurrieren.
Das vierte Strukturmerkmal des Kapitalismus ist, dass das Bestehen des Staates notwendige Voraussetzung für den freien Markt ist. Neben dem Geld verspricht er unter anderem Vertragssicherheit, Infrastruktur und Krisenabmilderung. Allerdings tritt der Staat im Kapitalismus niemals alleine auf. Der kapitalistische Einzelstaat kann ten Brink zufolge »nur als Teil eines internationalen Staatensystems angemessen verstanden werden.« Kapitalistische Staaten müssten sich »daher gewissermaßen als ›Wettbewerbsstaaten‹ konstituieren«.
Da der Kapitalismus aber kein Rechenspiel, sondern eine von Menschen gemachte und sich historisch verändernde Realität ist, plädiert ten Brink dafür, die internationale politökonomische Dynamik mithilfe eines von Leo Trotzki entwickelten Ansatzes zu beschreiben: der Theorie der ungleichen und kombinierten Entwicklung. Demnach sind die verschiedenen Regionen zwar insofern über den Weltmarkt »kombiniert«, dass sich neue Erfindungen über den Erdball verbreiten, dies passiert allerdings nicht harmonisch, sondern anarchichisch und »ungleich«. Es bilden sich in der Globalisierung konkurrierende Produktionszentren und Produktionsräume heraus und nicht, wie von vielen Globalisierungsoptimisten angenommen, ein harmonischer und glatter Raum.
Der Autor definiert drei historische Phasen, die der Imperialismus der letzten 140 Jahre durchlaufen hat: zuerst der »klassische Imperialismus« zwischen 1870 und 1945, dann der »kalte Krieg« zwischen 1945 und 1989 und drittens den gegenwärtigen »marktliberalen Etatismus« nach 1989.
Mit dem letztgenannten Begriff verbindet der Autor im dritten Teil des Buches eine inspirierende Antwort auf die Frage, inwiefern der Neoliberalismus mit dem Wiederaufkommen der zwischenstaatlichen Konkurrenz zu Beginn des neuen Jahrtausends zusammenhängt. Der »marktliberale Etatismus« ist für ten Brink ein politisches Projekt, das die Durchsetzung eines Staatensystems mit liberaler Grundordnung zum Ziel hat. Die Staaten konkurrieren um die besten Akkumulationsbedingungen und setzen dementsprechend den neoliberalen »freien Markt« aus ihrem Eigeninteresse heraus durch.
Außenpolitisch kann eine liberale Ordnung sowohl mithilfe von »weicher« (IWF, Weltbank, WTO) als auch von »harter Geopolitik« (NATO, US-Armee, Bundeswehr) etabliert werden. Obwohl »weiche« Maßnahmen von den Regierungen bevorzugt werden, nehmen die konkurrierenden Staatsapparate die globale Konkurrenz letztlich als »äußeren Zwang« wahr. Aus ihrer Sicht wird die Anwendung von Gewalt zum notwendigen Übel.
Ten Brinks Doktorarbeit ist eine umfangreiche Theorie kapitalistischer Geopolitik. Der Autor versucht dabei, eine wissenschaftliche Tradition, die von Autoren wie David Harvey, Justin Rosenberg und Alex Callinicos in den letzten Jahren weiterentwickelt wurde, in den deutschsprachigen Raum einzuführen. Daher muss er oftmals auf wenigen Seiten hochkomplexe Zusammenhänge erklären. Als Leser sollte man sich deshalb die Zeit nehmen, zwischen den Kapiteln über das Gelesene nachzudenken oder – noch besser – zu diskutieren. Das 300-seitige Wissenschaftswerk liest sich sicher nicht einfach. Es gehört aber zum Anregendsten und Kreativsten, was die marxistische Imperialismustheorie hierzulande zu bieten hat.
Das Buch:
- Tobias ten Brink: »Geopolitik: Geschichte und Gegenwart kapitalistischer Staatenkonkurrenz«, Westfälisches Dampfboot, Münster 2008, 307 Seiten, 27,90 Euro