Der Autor Dietmar Dath im Gespräch mit marx21 über Luxemburg, Lenin und die Linke als Erbin der Aufklärung
marx21: Du hast dir in deinem letzten Buch mit Rosa Luxemburg eine ausgewiesene Revolutionärin vorgenommen. Warum?
Dietmar Dath: Weil der Ist-Zustand der Welt eine Beleidigung der menschlichen Existenz und Intelligenz ist. Ein sehr viel interessanteres Leben als dieser Schwachsinn, den wir heute haben, wäre möglich. Ich interessiere mich dafür, was geht, was man machen kann. Und ich behaupte einfach mal, man könnte all diese Dinge machen, die ich mir wünsche und die sich Rosa Luxemburg gewünscht hat und Marx und Lenin und viele andere.
Behaupten kann man vieles, der Beweis steht jedoch aus.
Ein Bild: Zwei Fußballteams treten gegeneinander an. Das eine hat eine Superstrategie, kommt aber aus der »Dritten Welt« und ist total unterernährt. Dieser Mannschaft werden dann noch die Knie zertrümmert, während der Schiedsrichter woanders hinguckt. Die Mannschaft verliert, klar. Damit ist aber ihre Strategie noch nicht widerlegt.
Wenn sozialistische Pläne scheitern, weil sozialistisch denkende Menschen niedergeknüppelt und erschossen, ausgehungert und strategisch isoliert werden, dann ist dadurch nichts gezeigt, bewiesen oder widerlegt. Wenn ich jemandem den Mund verbiete, dann kann ich nicht herausfinden, ob er recht hat. Ich fühle mich weder von den realgeschichtlichen noch von den geistesgeschichtlichen Dingen, die gegen den Sozialismus vorgebracht wurden, hinreichend widerlegt. Ich finde etwas richtig, und es wird die ganze Zeit sabotiert. Dann bin ich natürlich dafür, dass man es weiter probiert und die Sabotagequellen ausschaltet.
Zumal es an Alternativen mangelt. Wer überhaupt noch irgendetwas Liberales retten will, muss es soweit radikalisieren, dass es sozialistisch wird. Selbst die allerprimitivsten Menschenrechte, Privatsphäre, Schutz vor Folter, Mindestlohn, müssten heute von der Linken gegen die Bürgerlichen durchgesetzt werden.
Die Linke ist jetzt Hüterin der bürgerlichen Errungenschaften, der Aufklärung?
Ja, wer sonst? Das Bürgertum und das bürgerliche Denken haben alles verraten, was vor und noch ein Weilchen nach 1789 bürgerliches Denken war, dass sie nicht mehr in der Lage sind, die einfachsten bürgerlichen Errungenschaften zu verteidigen. Es gibt doch niemanden mehr in dieser bürgerlichen Medienwelt, der erklären kann, was die großen bürgerlichen Revolutionäre wie Thomas Paine, Diderot oder Voltaire unter Meinungsfreiheit verstanden haben. Sie wissen nicht mehr, was diese bürgerlichen Freiheitsrechte überhaupt sind, wozu sie gut sind, wie das gedacht war. Das bürgerliche Denken ist vergammelt. Die mächtigste bürgerliche Nation, die wir im Moment haben, führt so einen feudalen Müll wie die Folter wieder ein, dass geistert dort ganz normal durch Unterhaltungsmedien – es ist wirklich nichts mehr übrig.
Der Sozialismus muss die bürgerlichen Freiheitsideen, das was emanzipatorisch daran ist, in sich aufnehmen. Rosa Luxemburgs Gegner in der SPD haben das ja oft andersrum diskutiert: Je bürgerlicher, parlamentarischer und staatstragender die Sozialisten sind, desto besser können wir den Sozialismus in die Gesellschaft tragen. Ich bezweifle das.
Ob der Kapitalismus allerdings zwangsläufig in den Weltuntergang führt, weiß ich nicht – dafür hat sich dieses System doch als zu widerstandsfähig und flexibel erwiesen. Ich möchte jedenfalls auch nicht auf den Weltuntergang warten, bevor ich etwas tue. Andererseits kommen beim gegenwärtigen Wirtschaften viel eher großer Kladderadatsch, Katastrophen und ungeheure Wertvernichtung heraus als Vernünftiges. Dementsprechend soll man auch nicht darauf warten, dass auf dem bürgerlichen und auf dem reformistischen Weg die Welt besser wird.
Lenin ist komplett out, Marx zumindest als Kapitalismuskritiker teilrehabilitiert, Rosa Luxemburg hingegen auch außerhalb der Linken wohlgelitten. Warum eigentlich?
Luxemburg wurde, auch von den Bürgerlichen, gerne als Kronzeugin gegen die Russische Revolution genommen, weil sie als Marxistin glaubwürdig ist und mit Lenin nicht immer einig war. Deshalb wurde sie auch zum Bezugspunkt für sich als Marxisten verstehende unruhige Geister im Osten und innerparteiliche Kritiker der kommunistischen Parteien im Westen. Man darf nicht vergessen, dass es ja auch schlimm gewesen sein muss, sich im intellektuellen Umfeld von Organisationen wie der französischen Kommunistischen Partei zu bewegen. Dieses Opfern von Inhalten für vermeintliche taktische Vorteile. Da geht dann ein linker Student hin und sagt: »Hört mal, dass find ich aber nicht gut, dass ihr die Algerier im Unabhängigkeitskampf im Stich lasst.« Und dann wird ihm von einem Funktionär geantwortet: »Was sollen wir machen, die Arbeiterklasse ist nun mal rassistisch.«
Marx hat mal das lateinische Zitat verwendet: Et propter vitam vivendi perdere causas – um des Überlebens willen die Gründe zum Leben preisgeben. Das haben die kommunistischen Parteien oft gemacht. Ich kann schon verstehen, dass man sich davon intellektuell freischwimmen will. Dieser Ausstieg geschah dann oft über Rosa Luxemburg oder auch Antonio Gramsci, also über große Niederlagengestalten, bei denen sich irgendwo etwas finden lässt, was zweifelt oder sagt: Der Bolschewismus ist vielleicht doch nicht das Nonplusultra. Das hat allerdings auch niemand behauptet, der halbwegs ernsthaft damit umgeht, höchstens die dumpfsten kommunistischen Parteipfaffen. Aber selbst Stalin pflegte zu sagen: Je nach Land und Lage ist zu kämpfen – nicht nach Leninlehrbuch.
Ist Rosa Luxemburg also doch die »sanfte Marxistin«?
Wenn jemand ein reiches theoretisches Werk hinterlässt, dann sind jede Menge Sichtweisen darauf möglich, die einander bekämpfen können. Ich erhebe auch nicht den Anspruch, der Chefausleger zu sein. Doch wenn man sich die Spur ihres Lebens anschaut, dann kann man plausibel finden, dass dort ordentlich Militanz drinsteckt und auch die Bereitschaft, sich von den politischen Ereignissen belehren zu lassen.
Nehmen wir die Organisationsfrage: Luxemburg und Lenin haben eine Diskussion über die richtige Organisationsform geführt – aber nicht abstrakt-moralisch, sondern auf dem Niveau der konkreten historischen Umstände. Luxemburg hat nicht gesagt: »Zentralistische Organisationen sind scheiße, weil irgendwie unfrei.« Sie hat Argumente aus Situationen heraus entwickelt, zum Beispiel aus den Erfahrungen der Russischen Revolution von 1905, der spontanen Entwicklung von Massenstreiks ohne zentrale politische Führung. Vor diesem Hintergrund hat sie auf großartige Festlegungen bezüglich Organisationsstrukturen von Revolutionären verzichtet.
Lenin hingegen hat sich irgendwann für eine Organisationsstruktur entschieden und die dann eisern durchgefochten. Das ist auf einer Ebene bewundernswert, weil er richtig eingeordnet hat, wie wahnsinnig wichtig diese Organisationsfrage ist. Doch wir sollten uns nicht verführen lassen, aus einem konkreten historischen Verlauf, nämlich dem traurigen der deutschen Revolution 1918, wiederum ewige Gesetze zu konstruieren, wie »richtige« Organisation auszusehen hat.
Ich würde mir wünschen, dass überhaupt dieses Niveau der Debatte wiederkommt. Dass wir die moralischen Fesseln sprengen, die dieser Diskussion angelegt werden. Es wird immer gesagt: Autorität ist an sich schlecht. Es kommt aber darauf an, wessen Autorität, wie sie sich rechtfertigt, wie schnell sie wieder beseitigt werden kann und ob man historisch den Spielraum hat, anders zu handeln. Wenn das Haus brennt oder das Schiff sinkt, wird man um Befehlsketten nicht herumkommen. Das Traurige ist doch, dass die revolutionären Situationen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts immer so waren, dass die Revolutionäre wahnsinnig wenig Spielraum hatten. Die Entscheidungen lagen theoretisch in einem sehr großen Ermessensspielraum. Praktisch war es aber immer sehr knapp. Beim Nudelkochen gibt es zwischen al dente und labbrig noch ordentlich Platz. Hier reden wir aber vom Dünsten eines Fünf-Sterne-Fisches – eine Sekunde länger auf dem Bratrost und er ist nur noch ein Stück Scheiße. Eine Woche zu spät die Partei gegründet, eine Woche zu spät gespalten und du wirst zusammengeschossen auf der Straße. Das ist unglaublich traurig.
Die Polemik in der Sache zum Sieg führen, aber den politischen Streit verlieren – so beschreibst du Rosa Luxemburgs Arbeit in der SPD. Was meinst du damit?
Die SPD-Parteiführung hat überhaupt nicht gezögert, ihr Lorbeeren hinzulegen – bis hin zu ihrer Integration in die Schulungsarbeit an der Parteischule. Gleichzeitig wurde aktiv verhindert, dass aus ihren theoretischen Einsichten irgendwelche praktischen Konsequenzen dafür folgten, wie sich die Partei verhält. Sie war das marxistische Feigenblatt der Partei. Spätestens mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 konnte die Parteiführung ihr aber auch nicht mehr zugestehen, dass sie theoretisch Recht hat. Irgendwann hört der Spaß auf – nämlich dann, wenn geschossen wird.
DIE LINKE ist »die neueste Wiedergeburt der Weimarer USPD«, schreibst du. Wie steht du zu diesem Wiedergänger?
Ich hab DIE LINKE gewählt, weil diese Leute den verbliebenen sozialen Restbestand verteidigen. Das mag man nostalgisch schimpfen, ist aber erst mal richtig. Ich weiß nicht, ob Lafontaine für die Würde oder sonst was kämpft – Tatsache ist, dass er den richtigen Leuten Schwierigkeiten macht.
Ob die Gründung der LINKEN ein historischer Fortschritt war, hängt davon ab, was danach kommt. Wenn’s klappt, war’s ein Fortschritt, wenn’s scheitert, war’s vielleicht ein Schritt zurück.
Ansonsten: keine Illusionen, und zwar in beide Richtungen. Keine Illusion, dass durch DIE LINKE die Arbeit schon getan wäre. Aber auch keine Illusion, dass die Partei, nur weil sie eine reformistische ist, nichts leisten kann. Stellen wir uns folgende Situation vor: Chile ’73, Allende wird ins Fußballstadion abgeführt und es gibt dann noch ein paar bewaffnete Linke, die aber sagen: »Nein, für diesen Reformisten schießen wir nicht.« Ja, um Gottes Willen, Kinder, noch blasser kann man mit Kategorien wie Reform und Revolution wirklich nicht umgehen. Natürlich kann ich sagen: »Nichts wird sich ändern, alles Reformisten« – bloß brauche ich dann morgens nicht das Bett zu verlassen.
Zum Text:
Das Interview ist erschienen in: marx21, Heft 15, Mai/Juni 2010
Zum Autor:
Dietmar Dath ist Journalist und Autor zahlreicher Bücher. Von 1998 bis 2000 war er Chefredakteur der Musikzeitschrift Spex, von 2001 bis 2007 Feuilletonredakteur der FAZ. Sein Roman »Die Abschaffung der Arten« (Suhrkamp 2008) kam auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Zuletzt veröffentlichte er ein Buch über Leben, Werk und Wirkung von Rosa Luxemburg.
Buch:
Dietmar Dath: »Rosa Luxemburg – Leben, Werk, Wirkung«, 160 Seiten, 8,90 Euro, Suhrkamp-Verlag