Aus einer sozialen Bewegung gegen Fahrpreiserhöhungen vor zwei Jahren ist eine rechte Bewegung gegen die Präsidentin Dilma Rousseff geworden. Wie die Enttäuschung über die Politik der linken Arbeiterpartei damit zusammenhängt, erläutert Kelli Mafort von der Bewegung der landlosen Arbeiter (MST)
Seit Juni 2013 gibt es in Brasilien wachsende Demonstrationen und die Enttäuschung seitens der Bevölkerung mit der linken Arbeiterpartei (PT) wächst ebenso. Immer stärkere Kürzungsmaßnahmen und Korruptionsfälle haben viele Brasilianer auf die Straßen gebracht.
Die Arbeiterpartei erlebt dadurch ihre größte politische Krise. Zwischen 2014 und 2015 übernahmen rechte Parteien und Organisationen die Proteste und lenkten sie in eine nationalistische und konservative Richtung.
Welche Möglichkeiten es gibt, eine zwiegespaltene Linke in Brasilien zu erneuern, beantwortet Kelli Mafort aus der nationalen Koordinierungsstelle der Bewegung der landlosen Arbeiter (MST).
marx21: Inwiefern ist die Bilanz der Arbeiterpartei (PT) für die Welle der Proteste seit 2013 verantwortlich?
Kelli Mafort: Die PT ist auf der Grundlage eines sehr breiten politischen Bündnisses an die Macht gekommen. Um überhaupt soweit zu kommen, hat die Partei viele Punkte ihres ursprünglichen Programms aufgegeben. In diesem Bündnis finden sich Unternehmer, Großgrundbesitzer, Vertreter der Agrarwirtschaft. Viele sitzen inzwischen in Ministerien. Deshalb steht dieses Bündnis heute aufgrund starker Interessensgegensätze unter Spannung.
Während der Regierungszeit der PT können wir einige Fortschritte verzeichnen, besonders im sozialen Wohnungsbau, in Beihilfeprogrammen für Pacht und Miete. Allerdings waren das keine großen Reformen. Vielleicht muss die Regierung heute einen hohen Preis dafür zahlen, dass sie zu Zeiten ihrer großen Beliebtheit versäumt hat, echte Reformen auf den Weg zu bringen.
Wie sieht die Bilanz aus Sicht der Landlosenbewegung (MST) aus?
Für uns sind die Agrarreformen und die Siedlungspolitik der PT fast schlimmer als die vorhergehende liberale Regierung Collor. Der ehemaige Präsident Lula da Silva und seine Nachfolgerin Dilma Rousseff förderten Agrarwirtschaft und Bergbau für den Export. Brasilien konzentriert sich auf den Export von vier bis fünf Rohstoffen wie Soja, Mais und Rohrzucker. Die Interessen der Arbeiter und Landlosen in Bezug auf Land und Boden und Agrarreform hat die PT weniger berücksichtigt.
Die Ereignisse vom Juni 2013 bildeten die erste Welle von Demonstrationen gegen die Arbeiterpartei PT. Wie haben sie sich weiter entwickelt?
Aus Sicht der Landlosen-Bewegung hatten die Kundgebungen von 2013 eine sehr konkrete materielle Basis, nämlich das Thema Senkung der Fahrpreise des öffentlichen Nahverkehrs.
Diese Demonstrationen hat die Rechte übernommen und daraus folgte eine sehr mächtige Haltung gegen die PT, also gegen die Linke. Indessen sind die Proteste Kundgebungen der Mittelschicht. Sie haben ihre Grundlage darin, dass die Wirtschaft nicht mehr so gut läuft.
Die Regierung sollte diesen Protesten am besten entgegentreten, indem sie Forderungen von Arbeiterinnen und Arbeitern aufnimmt. Aber was hat die Regierung bis jetzt getan? Sie bewegte sich genau in die andere Richtung, das heißt Senkung der öffentlichen Ausgaben.
Nach unserer Meinung gäbe es eine Alternative, beispielsweise große Vermögen zu besteuern. Währenddessen leiden Arbeiter und Arbeiterinnen unter den Finanzanpassungen sowie unter den Änderungen der Arbeitsgesetzgebung.
Wie ist es der Rechten gelungen, die Proteste zu übernehmen?
Sie prangerte die Korruption an. Das ist allerdings ein ziemlich nichts und alles sagendes Banner. Denn die ganze Bevölkerung ist gegen Korruption. Diese Orientierung dient nur dazu, die Präsidentin unter Druck zu setzen, dass sie noch mehr den Interessen der Reichen und der Mittelschicht nachgibt.
Das führt so weit, dass Dilma ihre Regierung noch mehr für die politische Allianz mit den Unternehmern öffnet. So hat ihre Regierung umgebildet, einschließlich einiger strategisch wichtiger Ministerien: Gesundheit; Bergbau und Energie; Landwirtschaft, Viehzucht und Versorgung; Wissenschaft, Technologie und Innovation; Tourismus und die Sekretariate für Flugverkehr und Häfen.
Ich habe den Eindruck, dass viele Demonstrantinnen und Demonstranten anfangs ihre Forderungen keiner politischen Strömung anvertrauen wollten. Hat sich das inzwischen geändert?
Inzwischen stehen diese Demonstrationen, die sich über ganz Brasilien verbreitet haben, für eine äußerst konservative Strömung. Diese kann in Wirklichkeit keine politische Partei kontrollieren. Wir können allenfalls sagen, dass sie eine Partei wie die christdemokratische PSDB mit Aecio Neves begünstigen. Vielleicht münden sie 2018 sogar in eine Kandidatur von Geraldo Alckmin (PSDB), der aktuelle Gouverneur des Bundesstaates São Paulo, für das Präsidentenamt.
Die Demonstranten bezeichnen sich selbst als apolitisch und überparteiisch. Es gibt aber homophobe und rassistische Parolen in dieser Bewegung. Es geht auch gegen das Recht auf Abtreibung.
Aus meiner Sicht ist das Beunruhigende und Komplizierte, dass Brasilien mit seiner Demokratie im Wiederaufbau, errungen mithilfe so vieler Mobilisierungen, immer noch so brüchig ist und so bedroht von einer konservativen Strömung.
Die ersten Kundgebungen 2013 eröffneten der Linken die Möglichkeit, einzugreifen. Als man merkte, dass die Proteste einen reaktionären Zungenschlag bekamen – gab es zu diesem Zeitpunkt Versuche der Linken, um die Ausrichtung zu kämpfen?
Es gab einen Versuch. Aber die Linke steckt in einer tiefen Krise. Die politische Strategie, die mit der Gründung des gewerkschaftlichen Dachverbands CUT, der PT, der MST und auch der progressiven Kirche verbunden ist, ist gescheitert.
Seit den 80ern besteht eine Strategie der politischen Öffnung für Kräfte über die Arbeiterbewegung hinaus. Sie gipfelte in der Hoffnung auf einen Präsidenten, der endlich den sozialen Bedürfnissen eine Stimme verleihen sollte. Was wir dann aber bei Wahl von Lula im Jahr 2002 sahen, war ein ziemlich verändertes Programm. Es bestand aus einem ganzen Fächer von Allianzen, ein beachtlicher Teil davon waren Vertreter der herrschenden Klasse. Mit den politischen Folgen, die ich oben schon benannt habe.
Heute fehlen ein politisches Projekt und eine neue Strategie, die den Organisationen wieder einen Sinn geben. Bis dahin bleiben die linken Organisationen in Brasilien zwiegespalten, zwischen Unterstützung oder kritischer Haltung zu den Regierungen Lula und Dilma.
Und wie steht die MST heute zur PT?
Die Haltung von MST ist eher übergreifend, eine Art kritische Unterstützung. Das heißt, wir dulden keinen Staatsstreich und keinen Bruch mit der Demokratie. Aber jedes Mal, wenn wir auf die Straße gegangen sind, dann war es gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung Dilma, weil wir glauben, dass diese Wirtschaftspolitik neoliberal ist.
Unsere nationale Leitung hat einen Protestbrief gegen die unserer Meinung nach neoliberale Politik verfasst. Wir haben auch festgestellt, dass man selbst innerhalb der CUT und in einer Reihe weiterer Organisationen der radikalen Linken eine äußerst kritische Haltung gegenüber der Regierung eingenommen hat.
Kam der Versuch, die Proteste 2013 von links zu beeinflussen, eher von der regierungskritischen Linken oder auch von der PT selbst?
In 2013 war die PT in Bezug auf Kundgebungen ziemlich zurückhaltend. Der Versuch entstand wohl mehr aus den vielen sozialen Bewegungen heraus, besonders aus solchen wie MST, MTST (Bewegung der obdachlosen Arbeiter), MPL (Bewegung für freie Fahrt). Im Jahre 2013 erlebten wir eine Explosion verschiedener Bewegungen und anderer kleiner Organisationen, die ebenfalls alle äußerst kritisch dem Linksblock gegenüberstanden, bei dem Entscheidungen fast immer von der Unterstützung beziehungsweise Nichtunterstützung der Regierung abhängen.
Was wir heute beobachten können, ist eine starke Zersplitterung der brasilianischen Linken und die Schwierigkeit zu einer Einheit zu finden. Erst seit Anfang 2015 gibt es eine Initiative, die Frente Brasil Popular (Brasilianische Volksfront). Diese Front vereint verschiedene Bewegungen, Parteien und Gewerkschaften.
Welche Parteien sind Teil dieser Front?
In dieser Front beteiligten sich anfangs die PT und die PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit). Mittlerweile führte die PSOL eine Evaluierung durch mit dem Ergebnis, dass die PSOL nicht mehr in der Front mitmachen sollte. Inzwischen hat die PSOL sich zurückgezogen. In der Evaluierung hatte man nämlich festgestellt, dass es in der Front einige Kräfte gibt, die Dilma und ihre Regierung verteidigen und die Interessen der Arbeiter aus den Augen verloren haben.
Die Front ist nicht so stark in Bezug auf politische Parteien, dagegen ist sie ein wirklich wichtiger Faktor hinsichtlich sozialer Bewegungen. Wir haben einige Organisationen in der Front, die sich mit der Wohnungssituation beschäftigen. Außerdem das Zentrum für soziale Bewegungen (CMP), die Landlosenbewegung (MST) und einige Gewerkschaften.
Bei einer Demo, an der ich teilnahm, überraschte mich der irrationale Hass, der gegen die aktuelle Regierung, gegen die PT und speziell gegen Dilma zum Ausdruck gebracht wurde. Welche Rolle spielten hier die Massenmedien?
Zum großen Teil waren die Medien verantwortlich für den Aufruf zum Protest. Es gab sogar eine Art »Esquenta«, wie wir es nennen, ein Anheizen der Veranstaltung mit kleinen Demos bereits am Morgen. Darüber hinaus gab es eindringliche Aufrufe der Presse an die Menschen, nachmittags auf die Straße zu gehen.
Diese Menschen kamen, weil es ihnen wirtschaftlich schlecht geht. Obwohl nicht alle mit diesem Klassenhass gegen die ärmsten Schichten, die traditionell hinter der PT stehen, einverstanden sind, gab es ihn de facto. Das ist schon etwas beängstigend.
Luciana Genro (PSOL) sagte vor einiger Zeit: »Es gibt den Versuch, die gesamte Linke zu kriminalisieren, ausgehend von der Erfahrung mit der PT in der Regierung, einer PT, die in ihrer Wirkung weit davon entfernt ist, dass man sie als Linke bezeichnen könnte.« Welche Möglichkeit siehst Du, ein linkes Projekt in Brasilien zu retten?
Es gibt hier viel Euphorie in einzelnen Sektoren der PT und in den sozialen Bewegungen. Man glaubt an eine Lösung, indem Lula in den Wahlen 2018 wiederkommt. Dagegen haben wir darauf hingewiesen, dass das eine Illusion ist. Entweder wir richten unsere Energie auf eine einzelne Person oder auf unser Programm, auf ein Bündel von Aktionen.
Aus unserer Sicht auf 2018 ist ein Bruch mit der PT aber auch kein guter Weg. Zuallererst ist es nötig, die Idee der Basisarbeit wiederaufzunehmen, also mit den Menschen in den Vierteln, in den Städten und mit den Landbewohnern ins Gespräch zu kommen. Nur mit ihnen gemeinsam können wir Druck aufbauen für wichtige Reformen. Das heißt eine urbane Reform, für das Recht auf Transport, Abwassersysteme, Wohnraum, Erziehung und Gesundheit; eine Agrarreform, für die Demokratisierung des Grundbesitzes im Lande und eine politische Reform für eine Änderung des Wahlsystems und der Finanzierung der Wahlkämpfe.
In unserer Wahrnehmung haben sich die sozialen Bewegungen, die Gewerkschaften und die Parteien viel zu sehr aus der politischen Bildung zurückgezogen. Eine Fortbildung, die das kritische Bewusstsein schärft, damit die Aktiven nicht immer nur ihren Anführern hinterherlaufen, sondern damit sie lernen, die Realität mit eigenen kritischen Augen zu sehen.
Ich glaube, dass die Enttäuschung der Bevölkerung so groß ist, dass die Wähler sich nicht mehr für die Arbeiterpartei entscheiden. Glauben Sie, dass die Verbindung zwischen Bewegungen und Arbeiterpartei weiterbestehen wird?
Es besteht die Möglichkeit einer weiteren Kursänderung nach rechts der Arbeiterpartei selber. Ich persönlich glaube – und jetzt spreche ich nicht im Namen des MST – dass die Zeit der PT vorbei ist. Ich glaube nicht mehr an die PT als Organisationswerkzeug der Arbeiterklasse, in dem Sinne, ein politisches Projekt zusammenzubinden.
Aber ich übersehe weder die Kampfbereitschaft rund um die PT, noch die Kraft, die die Arbeiterklasse immer noch in sich trägt. Was aber nicht mehr möglich ist, ist dass soziale Bewegungen und Gewerkschaften als eine Art Treibriemen einer zentralen Partei funktionieren.
Ich glaube, dass heutzutage soziale Bewegungen immer kräftiger werden. Und es ist notwendig diese Kräfte auf die Straßen zu bringen. Dort kann gestritten werden, dort kann Basisarbeit geleistet werden. Auf diese Weise, glaube ich, können wir einiges erneuern.
(Das Gespräch führte und übersetzte Nicole Möller-González.)
Zur Person:
Kelli Mafort ist Teil der nationalen Koordinierung der Bewegung der landlosen Arbeiter (MST).
Schlagwörter: Brasilien, Dilma Rousseff, Lula da Silva, PSOL, PT