Vor 70 Jahren begannen die Nürnberger Prozesse. Führende Repräsentanten des NS-Regimes mussten sich für ihre »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« verantworten. Wie es überhaupt so weit kommen konnte und welche Rolle die Arbeiterbewegung dabei spielte, erklärt Boris Marlow.
Als der britische Richter Geoffrey Lawrence an jenem 20. November 1945 den Prozess eröffnet, sind Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Heinrich Himmler bereits tot. Auf der Anklagebank sitzen nun die bekanntesten noch lebenden Vertreter des Naziregimes. Es sind Politiker, Militärs und Wirtschaftsbosse.
Ihr Regime hatte die Welt in einen fast sechs Jahre dauernden Krieg gestürzt. Es hatte seit 1933 politische Gegner, Homosexuelle und Menschen mit Behinderung brutal verfolgt und tausendfach getötet. Nicht zuletzt hatte es den industriellen Massenmord an sechs Millionen Juden begangen. Nun, wenige Monate nach Ende des Kriegs, sollen seine Repräsentanten im holzvertäfelten Schwurgerichtssaal des Nürnberger Justizpalastes zur Rechenschaft gezogen werden. Unter den Anklagten befinden sich Hermann Göring, Rudolf Heß, Alfred Rosenberg und Albert Speer.
Dieser erste von insgesamt dreizehn Nürnberger Prozessen dauert 218 Tage. Insgesamt werden 240 Zeugen gehört und 300.000 Versicherungen an Eides statt zusammengetragen. Das Sitzungsprotokoll umfasst 16.000 Seiten. Am Ende werden zwölf Angeklagte zum Tode verurteilt, viele weitere mit hohen Haftstrafen belegt.
Horror im Land der Dichter und Denker
Es ist nun 70 Jahre her, dass die Hauptverantwortlichen der Naziverbrechen zur Rechenschaft gezogen wurden. Doch bis heute fragen sich viele: Wie konnte das passieren? Wie war es möglich, dass im »Land der Dichter und Denker« das abscheulichste Verbrechen der Menschheitsgeschichte verübt werden konnte?
Manche Historiker führen den Zulauf, den die Nazis erfuhren, auf einen speziellen, tiefsitzenden deutschen Antisemitismus zurück. Die Bevölkerung habe nur auf jemanden wie Hitler gewartet. Andere erklären den Erfolg der Faschisten damit, dass sie die Bevölkerung bestochen habe. Als »Wohlfühldiktatur« bezeichnete beispielsweise der Geschichtswissenschaftler Götz Aly den Nazistaat. »Wer von den vielen Vorteilen für Millionen einfacher Deutscher nicht reden will«, schrieb er, »der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen.«
Natürlich wären das Nazi-Regime mit seinen Verbrechen ohne das aktive Zutun von Hunderttausenden und das Wegsehen von Millionen Deutschen nicht möglich gewesen. Doch nicht alle Deutschen unterstützten das Regime, geschweige denn profitierten von ihm.
Vor allem die häufig genannte Behauptung, »die Deutschen« hätten Hitler und seine Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) an die Macht gebracht, ist schlichtweg falsch. Bei keiner Wahl in der Weimarer Republik hat die NSDAP eine absolute Mehrheit der Stimmen erreichen können. Ihr bestes Ergebnis erzielte sie im Juli 1932 mit 37,4 Prozent. Bei den letzten freien Wahlen wenige Monate später musste sie bereits einen Verlust von zwei Millionen Wählerstimmen hinnehmen und kam nur noch auf 33,1 Prozent – weniger als die beiden Parteien der Arbeiterklasse, SPD und KPD, zusammen. Zudem wurde Hitler nicht zum Kanzler gewählt, sondern ihm wurde dieses Amt ohne parlamentarische Mehrheit von Reichspräsident Paul von Hindenburg übertragen.
Weltwirtschaftskrise 1929
Dass es überhaupt so weit kommen konnte, war neben dem Versagen der Führungen der Arbeiterorganisationen (SPD, KPD, Gewerkschaften) eine Folge der im Oktober 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise.
Denn noch wenige Jahre vor der Machtübernahme war Hitlers NSDAP gesellschaftlich unbedeutend. Doch innerhalb kürzester Zeit entwickelte sie sich zu einer Massenpartei. Hatten die Nationalsozialisten 1928 gerade einmal 800.000 Wählerstimmen (2,6 Prozent) erhalten, so zogen sie 1930 mit einem Stimmenzuwachs von 5,6 Millionen als zweitstärkste Fraktion in den Reichstag ein. Zwei Jahre später konnten sie ihre Stimmenzahl noch einmal mehr als verdoppeln und wurden mit 37,3 Prozent (13,7 Millionen Stimmen) stärkste Kraft.
Begünstigt wurde dieser Aufstieg durch die Weltwirtschaftskrise, die den Kapitalismus bis auf seine Grundfeste erschütterte: Ausgehend von dem Börsenkrach an der New Yorker Wall Street im Oktober 1929 sank die weltweite Industrieproduktion bis 1932 um 29 Prozent. In Deutschland waren die Auswirkungen besonders verheerend, da die Wirtschaft weitgehend von Auslandskrediten – vor allem aus den USA – abhängig war. Als diese zurückgezogen wurden, brach die Industrie zusammen. Große und kleine Firmen gingen Bankrott. Erhebliche Teile des Mittelstandes stürzten in Armut. Auch die Lebenssituation der Bauern verschlechterte sich, da die Preise für landwirtschaftliche Produkte sanken. Die Löhne der Arbeiter wurden durchschnittlich um ein Drittel gesenkt. Die Zahl der Arbeitslosen wuchs von 1,3 Millionen im Jahr 1929 auf etwa sechs Millionen Anfang 1933. Nur noch jeder dritte Arbeitnehmer befand sich in Vollbeschäftigung.
Im März 1930 war mit der Großen Koalition unter dem sozialdemokratischen Kanzler Hermann Müller die letzte demokratisch legitimierte Regierung zurückgetreten. Wenige Tage später, am 30. März, ernannte Reichspräsident von Hindenburg das erste Präsidialkabinett. Hierbei handelte es sich um eine Reichsregierung, die über keine parlamentarische Mehrheit verfügte. Der neue Kanzler Heinrich Brüning regierte im Wesentlichen mit Hilfe von Notverordnungen, mit denen er die Gesetzgebungstätigkeit des Parlaments umgehen konnte. Er und sein Nachfolger Franz von Papen, der im Juni 1932 zum Reichskanzler ernannt wurde, zerschlugen große Teile des Sozialstaates. Sie halbierten das Arbeitslosengeld und beschränkten dessen Bezugsdauer auf sechs Wochen. Die Fürsorge bezahlte nur noch die Miete und eine warme Suppe aus der Notküche. Auch die Renten und Pensionen wurden kontinuierlich gekürzt. Zugleich wurden die Verbrauchssteuern und Zölle auf Lebensmitteleinfuhren erhöht. In den Städten herrschte Hunger.
Diese Maßnahmen geschahen im Interesse der deutschen Unternehmer. So hatte der Reichsverband der Deutschen Industrie wenige Wochen nach dem Crash an der Wall Street gefordert, dass der Sozialstaat »den Grenzen wirtschaftlicher Tragfähigkeit angepasst« werden solle. Eine »unberechtigte, die Volksmoral schädigende Ausnutzung« der Sozialversicherung müsse verhindert werden. Aus Sicht der Arbeitgeber hatten der übermäßige Sozialstaat, zu hohe Löhne und zu niedrige Arbeitszeiten die Krise verursacht. Daher kündigten sie Tarifverträge, kürzten Löhne und schafften den Achtstundentag ab. Die Regierung flankierte diese Entwicklung im Jahr 1932 durch die faktische Abschaffung der Tarifautonomie und des Streikrechts. Ziel der Kürzungen war es, die Wirtschaft zu entlasten, deutsche Produkte auf dem Weltmarkt günstiger verkaufen zu können und so die Wirtschaft anzukurbeln. Doch da alle Industriestaaten die gleiche Politik betrieben, kam es zu keinem Aufschwung. Lediglich die Armut stieg immer weiter.
Politische Polarisierung
Die Arbeitslosen und die Mittelschichten waren die beiden Gesellschaftsgruppen, die am härtesten von der Krise getroffen wurden. Aus diesen beiden Gruppen rekrutierte sich größtenteils die Anhängerschaft der Nationalsozialisten.
Für die Mittelschichten, also vor allem Handwerker, Kleinunternehmer, mittlere Beamte und Geschäftsinhaber war die Krise deshalb so schlimm, weil sie von zwei Seiten unter Druck standen. Sie »sahen oder fühlten sich gleichermaßen bedroht von der zunehmenden Konzentration des industriell-gewerblichen oder handelskapitalistischen Besitzes auf der einen, wie von den Ansprüchen der gut organisierten Industriearbeiterschaft auf der anderen Seite«, schrieb der Soziologe Arno Klönne. Die sowohl gegen das Großkapital als auch gegen die organisierte Arbeiterschaft gerichtete Demagogie der Nationalsozialisten fiel hier auf fruchtbaren Boden.
Die Situation der Arbeitslosen war noch verzweifelter als die der Mittelschichten. Da alle sozialen Sicherungssysteme zusammengebrochen waren, bedeutete arbeitslos zu sein, in den meisten Fällen den Kampf ums Überleben zu führen. Gleichzeitig ließen die hohen Arbeitslosenzahlen keine Hoffnung zu, bald wieder angestellt zu werden. Die SA und andere Terrororganisationen der Nationalsozialisten konnten so zum Auffangbecken für Arbeitslose werden. Hier konnten diese eine soziale Heimat, Kameradschaft und ein neues Machtgefühl finden. Der Rassismus und Antisemitismus der Nazis erlaubte es ihnen wieder stolz zu sein, weil es nach dieser Ideologie Menschen gab, die noch unter ihnen standen: Juden, Ausländer, Homosexuelle.
Ein weiterer Aspekt war, dass die NSDAP eine radikale Alternative zum Weimarer Staat versprach. Gerade »die jungen und die Dauer-Arbeitslosen« waren, so Klönne »von Verzweiflung und Ungeduld bestimmt; ihnen konnte man nicht mit einer ›langfristigen Perspektive‹ kommen, sondern sie wollten Arbeit und Brot, hier und jetzt. (…) Die NSDAP versprach Abhilfe gegenüber ihrer Not in kürzester Frist.«. Auf diese Weise gelang es Hitlers Partei innerhalb weniger Jahre eine wirkliche Massenbewegung aufzubauen. Im Juli 1932 war die Mitgliedschaft der SA auf 400.000 angewachsen.
Aber die Wirtschaftskrise hatte nicht nur das Erstarken der extremen Rechten zur Folge. Vielmehr bewirkte sie eine politische Polarisierung – auch die Linke gewann an Bedeutung. So bescherte die erste Wahl nach Beginn der Krise den Kommunisten einen Stimmenzugewinn von 1,3 Millionen. Das geschah vor allem auf Kosten der SPD, die etwa 600.000 Stimmen verlor. Zwischen 1928 und 1932 wuchs die Zahl der KPD-Mitglieder von 100.000 auf eine Viertelmillion. Die Partei organisierte Demonstrationen und immer wieder kam es auch zu direkten Konfrontationen mit den Nazis. Wie stark die Linke auch noch kurz vor dem Sieg der NSDAP war, zeigt sich daran dass bei den letzten freien Wahlen im November 1932 die beiden Parteien der Arbeiterklasse, SPD und KPD, zusammen mehr Stimmen als die Nationalsozialisten erhielten.
Leo Trotzki, der sich damals intensiv mit der Lage in Deutschland auseinandersetzte, beschrieb die Situation 1931 wie folgt: »Deutschland durchlebt gegenwärtig eine jener großen historischen Stunden, von denen das Schicksal des deutschen Volkes, das Schicksal Europas und in bedeutendem Maße das Schicksal der ganzen Menschheit auf Jahrzehnte hinaus abhängt. Setzt man eine Kugel auf die Spitze einer Pyramide, so kann ein geringer Anstoß sie nach links oder rechts hinabrollen lassen. Das ist die Lage, der sich Deutschland mit jeder Stunde nähert. Es gibt Kräfte, die wünschen, die Kugel möge nach rechts hinabrollen und der Arbeiterklasse den Rücken zerschmettern. Es gibt Kräfte, die wünschen, die Kugel möge sich auf der Spitze halten. Das ist eine Utopie. Die Kugel kann sich auf der Pyramidenspitze nicht halten. Die Kommunisten wollen, die Kugel möge nach links hinabrollen und dem Kapitalismus den Rücken zerschlagen.«
Niederlage der Arbeiterbewegung
Auch die deutschen Unternehmer erkannten, dass die zugespitzte Lage nicht endlos bestehen bleiben würde. Sie fürchteten einen Sieg der Arbeiterklasse. Derweil versprachen die Nazis, die Interessen der Wirtschaft mit aller Gewalt durchzusetzen. Bei einer Spendensammlung für die NSDAP unter Industriellen zeigte der SS-Führer Rudolf Hess Fotos von großen Demonstrationen mit roten Flaggen. »Hier, meine Herren, haben sie die Kräfte der Zerstörung, die eine gefährliche Bedrohung für ihre Büros, ihre Fabriken, all ihren Besitz darstellen«, so Hess. »Auf der anderen Seite formieren sich die Kräfte der Ordnung; mit einem fanatischen Willen, den Geist des Aufruhrs auszurotten.« Auf diesen Bildern sahen die Wirtschaftsbosse marschierende SS und SA-Männer. »Jeder der kann, muss etwas geben, damit er nicht alles verliert, was er hat«, forderte Hess. Ein ehemaliger hochrangiger Nationalsozialist beschrieb diese Szene in seinen Memoiren: »Zwar waren keineswegs alle Kapitalisten hellauf von den Nazis begeistert. Ihre Skepsis war aber nur relativ. Sie endete, je mehr klar wurde, dass nur Hitler in der Lage war, die Arbeiterbewegung restlos zu zerschlagen.«
Aus Angst vor dem Erstarken der Arbeiterbewegung wuchs die Unterstützung im Unternehmerlager für Hitler. Trotzki schrieb, dass die Unternehmer den Faschismus ebenso sehr lieben »wie ein Mensch mit kranken Kiefern das Zahnziehen« – es ist nicht schön, aber manchmal eben notwendig.
Hitler hielt sein Versprechen. Nachdem er im Januar 1933 vom Reichspräsidenten Hindenburg zum Kanzler ernannt worden war, verbot er innerhalb weniger Monate die Arbeiterparteien und die Gewerkschaften. Tausende Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschafter wurden verhaftet oder ermordet.
Der Aufstieg Hitlers war nicht unaufhaltsam. Die Unterstützung durch Teile des deutschen Kapitals spielte eine wichtige Rolle. Gleichzeitig trug aber auch die deutsche Linke eine Mitverantwortung an ihrem eigenen Untergang.
Die SPD hoffte auf kleinere Übel
Die SPD ahnte, welche Gefahr von der NSDAP ausging. Dennoch war sie nicht in der Lage diese Gefahr angemessen zu bekämpfen.
In der zweifelhaften Hoffnung, den Nationalsozialisten den Weg an die Macht auf legalem Wege zu versperren und die Weimarer Demokratie am Leben zu erhalten, verfolgte die Partei eine Politik des »kleineren Übels«: Sie unterstützte die Kandidatur des erzkonservativen Hindenburg bei der Reichspräsidentenwahl 1932, tolerierte das autoritäre Präsidialkabinett der Kanzlers Heinrich Brüning, der neue Steuern erhob, staatliche Leistungen senkte und auf Lohn- und Gehaltssenkungen drängte. So duldete sie viele Maßnahmen, die ihrem politischen Programm entgegen liefen – und den Interessen ihrer Anhängerschaft.
Im Jahr 1932 zeigte sich die Schwäche der sozialdemokratischen Strategie besonders deutlich. Bis zu diesem Jahr stellte die SPD die Regierung von Preußen, dem größten Land im Deutschen Reich. Am 20. Juli setzte Kanzler Franz von Papen diese Regierung kurzerhand ab. Genau für einen solchen Fall hatte die SPD bereits 1931 die »Eiserne Front« – eine bewaffnete Arbeitermiliz – gegründet. Aber nun verzichtete die Parteiführung darauf, den Appell zum Widerstand zu geben. Stattdessen rief sie zur Ruhe und Zurückhaltung auf.
Auch die Gewerkschaften hielten sich zurück. Viele Gewerkschaftsführer waren SPD-Mitglied. Sie unterstützten die »Politik des kleineren Übels«, tolerierten die Notstandsregierungen und glaubten ebenfalls, die Nationalsozialisten auf verfassungsmäßigem Wege verhindern zu können. Dementsprechend riefen sie am 20. Juli 1932 nicht zum Generalstreik gegen den Staatsstreich in Preußen auf.
Der spätere NS-Propagandaminister Joseph Goebbels erkannte hingegen sehr genau die Bedeutung der Ereignisse des 20. Juli. Einen Tag später notierte er in sein Tagebuch: »Die Roten sind besiegt. Ihre Organisationen leisten keinen Widerstand. (…) Die Roten haben ihre große Stunde verpasst. Die kommt nie wieder.« Tatsächlich verließ bei der Reichstagswahl am 31. Juli eine halbe Million Wähler enttäuscht die SPD.
Kommunisten gegen Sozialfaschisten
Die einzige Arbeiterorganisation, die auf außerparlamentarischen Widerstand gegen die Nazis setzte und gleichzeitig in Opposition gegen den Sozialabbau der Regierung stand, war die KPD. Aber auch sie versagte.
Denn die Partei war überhaupt nicht in der Lage, eine klare Analyse des Phänomens Faschismus zu geben und die Gefahr zu erkennen, die von den Nazis für die deutsche Arbeiterbewegung ausging. Geradezu inflationär verwendete das ZK den Begriff »Faschismus«. Ihrer Meinung nach war er in Gestalt der von Reichspräsident Hindenburg eingesetzten Präsidialkabinette bereits seit 1930 an der Macht. Überhaupt bezeichnete die KPD-Führung alle anderen parlamentarischen Parteien als »faschistisch«: »Kampf gegen den Faschismus heißt Kampf gegen die SPD, genauso wie es Kampf gegen Hitler und die Brüningparteien heißt.«
Ihre Haltung zum Nationalsozialismus übernahm die KPD aus Moskau. Das theoretische Fundament lieferte die »Sozialfaschismusthese«. Demnach waren Faschismus und Sozialdemokaratie »keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder«, wie Stalin einst schrieb. Im Zuge ihrer Linkswendung in den späten 1920er Jahren griff die Kommunistische Internationale diese These wieder auf. In der tiefen Krise der Weltwirtschaft sei die Sozialdemokratie der »Hauptfeind«, da sie die Arbeiter davon abhalte, gegen den Kapitalismus zu kämpfen.
Dementsprechend lehnte die deutsche Parteiführung jegliche Zusammenarbeit mit der SPD ab – auch gegen die Nationalsozialisten: »Die Sozialfaschisten wissen, dass es für uns mit ihnen kein gemeinsames Zusammengehen gibt. Mit der Panzerkreuzerpartei, mit den Polizeisozialisten, mit den Wegbereitern des Faschismus kann es für uns nur Kampf bis zur Vernichtung geben.«
Bei einem Großteil der KPD-Mitglieder fielen solche verbalradikalen Phrasen auf fruchtbaren Boden, denn die KPD war mittlerweile keine Arbeiterpartei mehr, sondern eine Partei der Arbeitslosen. In den Betrieben waren die Kommunisten kaum mehr präsent. Im Herbst betrug der Anteil lohnabhängig beschäftigter Arbeiter an der Gesamtmitgliederschaft der KPD nur noch elf Prozent.
Den meisten Kommunisten begegnete die SPD also nicht mehr in der Form von Arbeitskollegen, sondern nur noch in der »Politik des kleineren Übels« oder bei Ereignissen wie dem Berliner »Blutmai« von 1929. Hier kam es bei einer 1.-Mai-Demonstrantion zu blutigen Zusammenstößen zwischen kommunistischen Demonstranten und der Berliner Polizei, die von dem Sozialdemokraten Karl Friedrich Zörgiebel geleitet wurde.
Hinzu kam, dass auch die SPD-Führung keinerlei Bereitschaft zeigte, gemeinsame Sache mit den Kommunisten gegen die Nationalsozialisten zu machen. Vielmehr war deren Politik von einem starken Antikommunismus geprägt, teilweise setzten sie KPD und Nazis gleich. So erklärte der Parteivorsitzende Otto Wels im Sommer 1931 beim Leipziger Parteitag: »Bolschewismus und Faschismus sind Brüder. Sie basieren auf Gewalt, auf Diktatur, mögen sie sich noch so sozialistisch und radikal gebärden.«
Mit ihrer Politik war die KPD keineswegs in der Lage, der Mehrheit der vom Sozialabbau Betroffenen eine Alternative zur Politik der Sozialdemokratie anzubieten. Im Gegenteil: Ihre hauptsächlich gegen die SPD gerichtete Rhetorik führte sie sogar zu zeitweiligen Kooperation mit den Rechten. So unterstützte sie 1931 einen von Nationalsozialisten und Deutschnationalen initiierten Volksentscheid gegen die sozialdemokratisch geführte preußische Landesregierung.
Einheitsfront gegen Nazis
Aus den Reihen der kommunistischen Opposition wurde diese Haltung scharf kritisiert. Als Theoretiker sind hier vor allem Leo Trotzki und August Thalheimer hervorzuheben. Thalheimer gehörte zu den Gründern der »rechtsoppositionellen« KPO (Kommunistische Partei Deutschlands-Opposition), einer im Jahr 1929 entstandenen KPD-Abspaltung. Trotzki war einer der führenden Köpfe der Russischen Revolution von 1917, unterlag aber später in den Fraktionsauseinandersetzungen mit Stalin und führte nun die internationale Linke Opposition an. Zu dieser Zeit lebte bereits auf der türkischen Insel Prinkipo im Exil. Er beschäftigte sich sehr intensiv mit dem Aufstieg von Hitlers Partei und kritisierte die Positionen der KPD zum Faschismus ausgiebig.
Der Aufschwung des Faschismus könne nur durch »einen umfassenden und planmäßigen Generalangriff« der Arbeiterklasse verhindert werden, betonte Thalheimers Partei. Notwendig sei die Politik der Einheitsfront. Auch Trotzki war dieser Ansicht, schließlich seien beide Arbeiterparteien gleichermaßen durch die Nationalsozialisten bedroht. Deshalb sei es notwendig, die Sozialfaschismus-These zu verwerfen. Solange die KPD hierzu nicht bereit sei, könnten sie auch nicht die Anhänger der SPD erreichen: »Eine solche Position – bloßes Geschrei und steriler Linksradikalismus – versperrt der Kommunistischen Partei von vornherein den Weg zu den sozialdemokratischen Arbeitern.«
Das Einheitsfrontangebot dürfe sich nicht nur an die Parteibasis wenden, sondern es müsse auch Verhandlungen auf der Ebene der Parteiführungen über ein gemeinsames Vorgehen geben. Eine reine Einheitsfront »von unten« könne keinen Erfolg haben. Die überwiegende Mehrheit der sozialdemokratischen Arbeiter wolle zwar gegen den Faschismus kämpfen – aber selbstverständlich zusammen mit ihrer Parteiführung. Es könne für Kommunisten nicht darum gehen, nur mit jenen sozialdemokratischen Arbeitern zusammen zu kämpfen, die bereit wären, unabhängig von ihrer Führung zu handeln. Vielmehr ginge es darum, die größtmögliche Aktionseinheit innerhalb der Arbeiterklasse herzustellen. In der gemeinsamen Aktivität könnten die Kommunisten dann beweisen, dass sie am konsequentesten den Faschismus bekämpfen: »Wir müssen den sozialdemokratischen Arbeitern helfen, in der Praxis […] zu überprüfen, was ihre Organisationen und Führer wert sind, wenn es um Leben und Tod der Arbeiterklasse geht.«
Die Einheitsfront müsse vor allem in der Aktion stattfinden, nicht durch gemeinsames Vorgehen im Parlament. Das Bündnis dürfe nur um einen zentralen Punkt herum – in diesem Fall den Kampf gegen den Faschismus – aufgebaut werden. Wichtig sei dabei, dass die Kommunistische Partei ihre politische und organisatorische Eigenständigkeit behalte. Die Losung laute: »Getrennt marschieren, vereint schlagen! Sich nur darüber verständigen, wie zu schlagen, wen zu schlagen und wann zu schlagen! […] Unter einer Bedingung: man darf sich nicht die eigenen Hände binden!«
Trotzkis und Thalheimers Einheitsfrontforderungen trafen eine weit verbreitete Stimmung unter Arbeitern und Intellektuellen. Angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung war der Wunsch nach Einheit groß. So richteten im Vorfeld der Reichstagswahl 1932 dreiunddreißig bekannte Persönlichkeiten einen »Dringenden Appell« an SPD und KPD, »endlich einen Schritt zu tun zum Aufbau einer einheitlichen Arbeiterfront, die nicht nur für die parlamentarische, sondern auch für die weitere Abwehr notwendig sein wird.« Unterzeichnet war das Papier unter anderem von Albert Einstein, Erich Kästner, Käthe Kollwitz und Heinrich Mann.
Gespalten in den Abgrund
Tatsächlich bildeten Kommunisten und Sozialdemokraten vielerorts lokale Antifa-Bündnisse. Diese breiteten sich zwar nicht flächendeckend über das ganze Land aus und das Zustandekommen gemeinsamer Aktivitäten war auch stark von regionalen Gegebenheiten abhängig. Doch handelte es sich durchaus um ein Massenphänomen.
Dennoch kam es zu keinem reichweiten Bündnis. Zu groß war die gegenseitige Ablehung der beiden Parteiführungen. Zudem war die Kommunistische Partei mittlerweile nahezu vollständig »stalinisiert«, alle oppositionellen Gruppen hatten bereits die Partei verlassen müssen. Auch wenn es Unmut an der Basis gab, waren die meisten wichtigen Funktionärsposten mit kominterntreuen Personen besetzt. Letztendlich bestimmten sie die offizielle Linie der KPD. Und die lautete: Sozialfaschismusthese bis zum Untergang.
Als Reichspräsident Hindenburg Hitler schließlich am 30. Januar 1933 zum Kanzler ernannte, waren Millionen Arbeiter kampfbereit. Proteste überzogen das Land, Fabrikabgeordnete trafen sich in Berlin, um die Kampfaufrufe der SPD-Führung entgegen zu nehmen. Diese argumentierte aber erneut für Zurückhaltung. Auch der stellvertretende Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds (ADGB) sagte: »Wir wollen uns den Generalstreik als äußerste Eventualität aufheben.« Theodor Leipart, der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes, fügte hinzu: »Es bedarf keiner Hervorhebung, dass die Gewerkschaften zu dieser Regierung in Opposition stehen. Das kann und wird sie aber nicht daran hindern, die Interessen der Arbeiterschaft auch gegenüber dieser Regierung zu vertreten (…). Organisation, nicht Demonstration: das ist die Parole der Stunde.«
Einzig die KPD rief an diesem Tag zum Generalstreik auf und forderte nun auch die anderen Arbeiterorganisationen zu einer Einheitsfront »gegen die faschistische Diktatur der Hitler-Hugenberg-Papen« auf. Doch nur in einigen kleineren Orten wie Lübeck kam es zu solchen Bündnissen. Insgesamt konnten die Kommunisten an diesem Tag nur wenig Einfluss auf die organisierte Arbeiterbewegung nehmen. Zu sehr hatten sie sich in den Jahren zuvor mit ihrer Politik isoliert.
Danach war es zu spät: Binnen weniger Monate zerschlug die Regierung Hitler die stärkste Arbeiterbewegung der Welt. KPD, SPD und Gewerkschaften wurden verboten und ihre Mitglieder fanden sich nun Seit’ an Seit’ in den ersten Konzentrationslagern des neuen Regimes wieder.
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Schlagwörter: Arbeiterbewegung, Hitler, KPD, Nazis, NSDAP, Sozialfaschismus, SPD, Trotzki, Wirtschaftskrise