DIE LINKE fordert den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Wie Union, SPD und Grüne dazu stehen, analysiert Frank Eßers. Dass es bei den Einsätzen nicht um Frieden und Demokratie geht, sondern um geostrategische und wirtschaftliche Interessen, beschreibt der Autor ebenfalls.
Alle Statements zu Afghanistan, die aus konservativen und liberalen Kreisen kommen und seitens der Führung der Sozialdemokratie und der Grünen gemacht werden, haben eines gemeinsam: Sie enthalten die Behauptung, dass erst "Sicherheit" in Afghanistan geschaffen werden müsse, bevor ein Abzug der Truppen möglich sei.
Leider hat kürzlich auch der LINKE-Europapolitiker Andre Brie in einem Spiegel-Interview eine ähnliche Position vertreten 1. Er sagte, dass ein Abzug noch keines der Probleme des Landes löse und die LINKE deshalb Alternativen entwickeln und für Afghanistan Verantwortung übernehmen müsse.
Faktisch läuft diese Position, genau wie andere so genannte Exitstrategien, darauf hinaus, dass
- die Probleme in Afghanistan größer werden und das Blutvergießen zunehmen wird.
- der Abzug der Besatzer auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird.
Der ehemalige Verteidigungsminister Struck (SPD) sprach einige Zeit nach der Entsendung deutscher Soldaten nach Afghanistan im Jahr 2002 davon, dass die Bundeswehr etwa 10 Jahre im Land bleiben müsse. Im Frühjahr 2007 nannte sein Amtsnachfolger Jung (CDU) einen Zeitraum bis zu 15 Jahren. Schon dieses Hinausschieben des Zeitpunktes für einen Abzug deutet darauf hin, dass ein Ende der Besatzung nicht in Sicht ist, wenn es nach dem Willen der Regierenden geht. Das ist auch kein Wunder, denn der Afghanistanfeldzug hat die Lage der Bevölkerung nicht verbessert. Die Besatzer versuchen vergeblich, die Kontrolle zu behalten.
Was Union, führende Sozialdemokraten und Grüne nicht zur Kenntnis nehmen und Andre Brie offenbar nicht in den Kopf will, ist die Tatsache, dass die Besatzung die Probleme in Afghanistan mit jedem Tag verschärft – und deshalb auch der Widerstand zunimmt:
Art des Angriffs: |
Im Jahr 2005: |
Im Jahr 2006: |
Selbstmordattentate |
27 |
139 |
Straßenbomben |
783 |
1677 |
Direkte Angriffe (leichte Waffen, Granaten etc) |
1588 |
4542 |
Quelle: New York Times vom 17.01.2007
Nicht die Besatzer schaffen die Voraussetzungen für Sicherheit, sondern die Lösung der Probleme ist erst möglich, wenn die Besatzer abgezogen sind. Union und die Führungen von SPD und Grünen stellen die Realität auf den Kopf.
Christine Buchholz, Mitglied im geschäftsführenden Vorstand der Partei DIE LINKE sagt deshalb zu Recht: "Der sofortige Abzug der ausländischen Truppen ist eine Voraussetzung für effektive Hilfsmaßnahmen und die Entwicklung einer wirklich demokratischen Gesellschaft." 2
Sie befindet sich mit ihrer Position im Einklang mit der Friedensbewegung. In einer Pressemitteilung vom 25. Juli stellt der Bundesausschuss Friedensratschlag fest: "Hilfe kommt nicht von Tornados oder aus Bomben und Raketen. Hilfe kommt allein von zivilen Maßnahmen, die heute schon erfolgreich in Gegenden durchgeführt werden, wo sich keine Besatzungstruppen befinden, wie beispielsweise die 'Kinderhilfe Afghanistan' immer wieder betont." 3
Die Interessen der deutschen Herrschenden
Der ehemalige Staatssekretär des Bundesverteidigungsministeriums Professor Lothar Rühl nennt fünf Aspekte der strategischen Interessen der deutschen herrschenden Klasse 4. Das Verständnis dieser Interessen ist nötig, um Exitstrategien beurteilen zu können:
I. Deutschland könne seine Interessen nur in einem euro-atlantischen Bündnis vertreten. Ein Ausbruch aus der militärpolitischen Allianz Nordatlantikpakt sei "ausgeschlossen". Das Engagement der Bundeswehr in Afghanistan sei auch "eine politische Kompensation für die Nichtbeteiligung im Irak". Eine Einschränkung der deutschen Beteiligung am "Krieg gegen Terror" sei "zumindest schwierig und wahrscheinlich politisch wie finanziell kostspielig." Verklausuliert argumentiert Rühl, dass eine Niederlage der NATO in Afghanistan auch eine Niederlage für Deutschland sei. Wie die USA haben Deutschlands Herrschende (und die anderer EU-Staaten) ein Interesse an "der Stabilität im weiteren Mittleren Osten und Zentralasien, die eine Stabilisierung Afghanistans voraussetzt."
II. Deutschland wollte laut Rühl nach dem militärischen Schlag der USA nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center im Jahr 2001 ein "friedliches ziviles Gegenstück zur Ergänzung und psychologischen Beschwichtigung nicht nur der afghanischen Bevölkerung und der Nachbarn, sondern auch des islamischen Orients als Ganzem beigeben." Damit diese Methode glaubwürdig erscheint, sei ein Erfolg in Afghanistan nötig. Diese Sorge ist berechtigt. Das offensive Vorgehen der US-amerikanischen Neokonservativen zur Neuordnung des Nahen Ostens, Zentralasiens und der ölreichen Region am Kaspischen Meer hat für neue Instabilitäten gesorgt und eine neue Rüstungsspirale in Gang gesetzt. Allerdings ist es der EU nicht gelungen, für "Beschwichtigung" zu sorgen. In Afghanistan lässt sich beobachten, dass sie sich stattdessen tiefer in den Krieg verstrickt. Die EU hat den Neokonservativen nichts entgegen zu setzen. Die gemeinsamen Interessen an weltweitem Zugang zu billigen Rohstoffen sind stärker als die Differenzen.
III. Deutschland habe zudem ein Interesse an einer "hervorgehobenen internationalen Rolle." Die internationale Stellung und "der Einfluss Deutschlands machen nicht nur das frühere wirtschaftlich-finanzielle Engagement nötig, sondern ebenso ein militärisches und ein politisches", schreibt Rühl. Man kann es auch kürzer sagen: Es gibt nur "zwei Währungen auf der Welt: wirtschaftliche Macht und die militärischen Mittel, sie durchzusetzen." 5. Das sagte 1993 Klaus Naumann, mittlerweile General a.D. Naumann war zwischen 1991 und 1998 Generalinspekteur der Bundeswehr. Zwischen 1996 und 1999 war er Vorsitzender des Militärausschusses der NATO, der obersten militärischen Instanz des Bündnisses.
IV. Der vierte Aspekt ist laut Rühl die Sicherung weltweiter wirtschaftlicher Interessen. Das seien zum Beispiel die Sicherheit des Luftverkehrs und der Seeschifffahrt, "von der Deutschland für 80 Prozent seines Außenhandels abhängt." Hinzu komme die Abhängigkeit Deutschlands von der massiven Einfuhr von Erdöl und Erdgas, "also eine Abhängigkeit vom weiteren Mittleren Osten von Nordafrika über den Golf zum kaspischen Becken, zunehmend auch vom schwarzen Afrika." Da sich die Konkurrenz um die "Petro-Ressourcen" wegen der steigenden Nachfrage Chinas und Indiens "zu Lasten Europas" verschärft, müsse Deutschland auch militärisch aktiv sein, um Einfluss geltend machen zu können. "Um die Energieeinfuhrsicherheit und die Sicherheit des Seeverkehrs mit Tankern wie der Überland-Leitungen durch krisengeschütteltes Gebiet zu gewährleisten, bedarf es weiträumig mobiler und flexibler militärischer Kapazitäten", so Rühl weiter.
V. Besonders klassisch für das Zirkelschlussdenken der Herrschenden ist Rühls Benennung des fünftes Aspektes. Weil die Lage in Afghanistan seit 2003 jedes Jahr schlechter werde, könne die NATO "nicht einfach einen Schlussstrich ziehen und das Feld räumen". Das würde laut Rühl zu einer Katastrophe führen. Erst müssten die "militanten Islamisten" zurückgeschlagen und die Bevölkerung gewonnen werden. Doch die Erreichung dieser Ziele stellt Rühl im selben Artikel in Frage: "Es ist auch 2007 weiter höchst unsicher und tatsächlich fragwürdig", scheibt er, "ob diese 'selbst tragende Stabilität' in absehbarer Zeit zustande kommen kann." Noch offener als Rühl kann man eigene Hilflosigkeit nicht zur Schau stellen: Wegen der Besatzung verschlechtert sich die Lage in Afghanistan. Aber um die Truppen abziehen zu können, müssten die Besatzer erst die Lage bessern.
Union: "Nachdenken über Abzug ist unverantwortlich"
Welche Strategien für einen Truppenabzuges gibt es? Aus den Reihen führender Unionspolitiker wird die Frage lapidar beantwortet: Es gäbe keine. Ruprecht Polenz (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses sagte anlässlich eines Antrages der LINKEN zum Tornado-Einsatz: "Dieser Antrag ist unverantwortlich, auch wenn Sie hineingeschrieben haben, dass Sie eine 'verantwortliche Exitstrategie' wollen. Eine solche Strategie gibt es zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Allein das Nachdenken darüber ist unverantwortlich. Dieser Antrag ist unverantwortlich, weil er das Signal aussendet, wir könnten Afghanistan möglicherweise im Stich lassen." 6
Sein Argument gegen den Antrag der LINKEN: "Die Fraktion Die Linke beantragt, Afghanistan sich selbst zu überlassen. Sie beantragen, die Fehler zu wiederholen, die nach dem Abzug der Sowjetunion aus Afghanistan gemacht worden sind. Sie beantragen, eine Situation herbeizuführen, die in Afghanistan eher über kurz als über lang wieder zu einem Bürgerkrieg führen würde. Sie wollen die Voraussetzungen dafür geschaffen sehen, dass Afghanistan endgültig ein Failed State wird, ein Rückzugs-, Ruhe- und Ausbildungsraum für Terroristen, wie Afghanistan es vor dem Einsatz war." 7
In der Tat kann niemand vorhersehen, was nach einem Abzug der Besatzer geschehen wird. Aber merkwürdig blind ist Polenz gegenüber der Tatsache, dass die sowjetische Besatzung – mit tatkräftiger Nachhilfe durch die USA – genau die Lage herbei geführt hat, die Polenz feststellt: dass Afghanistan erst einen schrecklichen Bürgerkrieg zwischen den Warlords (den Mujaheddin-Führern) durchgemacht und danach von den Taliban kontrolliert wurde.
Ziel der USA war es, die UdSSR zu destabilisieren, in dem sie den Mujaheddin-Widerstand unterstützten. Damit hatten sie auch Erfolg. Die Mujaheddin wiederum lieferten sich nach dem Abzug der sowjetischen Besatzer mehrere Jahre lang einen blutigen Bürgerkrieg, der auch zur weitgehenden Zerstörung der Hauptstadt Kabul führte.
Um 1993 formierten sich mit Unterstützung durch Pakistan, Saudi-Arabien und die USA die Taliban. 1996 nahmen sie Kabul ein und kontrollierten ein Jahr später drei Viertel des Landes. Als sie den Interessen der USA zunehmend im Weg standen, lieferte der Terroranschlag auf das World Trade Center den Anlass, die Taliban zu beseitigen und den Einfluss der USA in der Region auszubauen.
Winfried Wolf beschreibt in einem 2002 erschienenen Buch die Hintergründe des Afghanistanfeldzuge 8: In Zentralasien lagern die zweitgrößten Öl- und Ergasvorräte der Welt. Das Problem für die USA: In der Region kämpfen Russland, China und Iran um Macht. Alle drei sehen die USA als ihre Feinde. Die USA waren bestrebt, in der Region Fuß zu fassen.
Doch im Sommer 2001 konnte Russland wieder an Einfluss gewinnen. Die USA entschlossen sich deshalb, andere Mittel zu ergreifen. Der Anschlag am 11. September ermöglichte das: Beseitigung des instabilen und unzuverlässigen Taliban-Regimes und der Aufbau von US-Militärbasen in Zentralasien. Ergebnis: Der Iran ist eingekreist, Chinas Zugang nach Westen abgeschnitten und das bisherige russische Monopol über die Öl-Transportwege gebrochen.
Besatzung durch Großmächte, deren Einmischung in Afghanistan und der Stellvertreterkrieg zwischen den USA und der UdSSR haben erst zu der Lage geführt, die der Unionsaußenpolitiker Polenz beklagt. Die heutige Besatzung des Landes ist ebenso imperialistisch. Sie nimmt Afghanistan die Luft für eine friedliche Entwicklung – so, wie es vergangene Interventionen der Großmächte getan haben.
Bundesverteidigungsminister Jung argumentiert nicht so forsch wie sein Unionskollege Polenz. Jung meint, dass Sicherheit durch den militärischen Einsatz Voraussetzung für den Wiederaufbau ist.
Von Wiederaufbau kann jedoch keine Rede sein, wie der Afghanistanexperte und Politikwissenschaftler Matin Baraki sagt: "Hier und da wird eine Schule oder Brücke repariert, aber von den zugesagten Geldern ist nur ein Bruchteil überhaupt in Afghanistan angekommen. Davon ist wiederum der Großteil in den Aufbau von Polizei und Armee geflossen. Die einfache Bevölkerung hat nichts bekommen."
"Gerade durch den Status als Protektorat ist die Wirtschaft Afghanistans zerstört worden", sagt Baraki, "99 Prozent aller Waren auf dem afghanischen Markt sind Importe. Der einheimischen Wirtschaft wird jegliche Chance genommen, sich zu entwickeln. Da die Heroinbarone in den Staatsapparat integriert sind, nutzen sie den 'Wirtschaftsboom' zur Geldwäsche. Sie investieren nur im Luxussegment, in Hotels, Häuser und Lebensmittelproduktion für den Bedarf zahlungskräftiger Ausländer. Davon gibt es in Kabul jede Menge. 2.500 Nichtregierungsorganisationen arbeiten in Kabul – nur weiß niemand so richtig, was sie dort tun. Ramazan Bashardost, der ehemalige Planungsminister der Regierung Karsai, schätzt, dass 80 Prozent der Entwicklungsgelder an die Nichtregierungsorganisationen (NRO) fließen und dort für überzogene Gehälter, aufwändige Fuhrparks und Luxuswohnungen verprasst werden. Als er von den NRO forderte, ihre Bücher offenzulegen, und drohte, die Büros der Verweigerer zu schließen, wurde er von Präsident Karsai verwarnt und mußte daraufhin die Regierung verlassen." 9
Spaltung in der SPD-Spitze: OEF – Ja oder Nein?
Aus den Reihen der SPD-Führung argumentieren Politiker gegen einen Abzug der Truppen und erwägen sogar wie Parteichef Beck die Entsendung weiterer Soldaten 10. Der SPD-Verteidigungspolitiker Rainer Arnold ist ebenfalls für einen Verbleib der Bundeswehr in Afghanistan: "Wir werden so lange in Afghanistan bleiben, bis die afghanischen Sicherheitskräfte den Schutz selbst übernehmen können", sagte Arnold der Frankfurter Rundschau 11.
Eine Abkehr von der bisherigen Linie in Afghanistan hält Parteichef Beck nicht für nötig: "Der zivil-militärische Ansatz, den wir dort vertreten, ist der richtige Weg. Es geht darum, die afghanische Regierung dabei zu unterstützen, Sicherheit für die Bevölkerung herzustellen. Hierbei leisten die internationale ISAF-Truppe und nicht zuletzt die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr eine gute Arbeit." 12
Hubertus Heil, Generalsekretär der Partei, sagte: "Wir stehen zu diesem Engagement". Er kündigte zwecks Beruhigung der Parteibasis und der Öffentlichkeit an, dass die SPD im Zusammenhang mit der anstehenden Verlängerung der Afghanistan-Mandate sorgfältig diskutieren werde, wie das deutsche Engagement strukturiert sein müsse. Außerdem sagte er, die SPD wolle "eine zweite Aufbauwelle in Afghanistan". Dieser zivile Aufbau könne jedoch nicht ohne Sicherheit funktionieren, so Heil weiter. 13
SPD-Außenpolitiker Niels Annen hingegen zweifelt am Bundeswehr-Einsatz und forderte eine ergebnisoffene Debatte im Bundestag. "Darüber müssen wir nachdenken, ob das die Ziele erreicht hat, die wir uns gemeinsam gesteckt haben. Ich habe da berechtigte Zweifel", so Annen. 14
Hans-Ulrich Klose hat vorgeschlagen, den Einsatz der Bundeswehr in einem einzigen Mandat unter dem Dach der ISAF zusammenzufassen 15. Offenbar will er mit diesem Vorschlag der Kritik – vor allem an der OEF – den Wind aus den Segeln nehmen, ohne auf sie einzugehen. Würde sein Vorschlag umgesetzt, könnte das sogar zur Folge haben, dass der Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan auf das ganze Land ausgedehnt wird – auch in die heiß umkämpften Gebiete.
SPD-Verteidigungsexperte Hans-Peter Bartels stellte laut Süddeutscher Zeitung die deutsche Beteiligung an OEF in Frage. Die Zeitung berichtet: "Die Argumente für die Beteiligung seien immer schwächer geworden, sagt Bartels. Neben der Tatsache, dass die KSK-Kräfte, die im Rahmen des OEF-Mandats in Afghanistan eingesetzt werden könnten, seit zwei Jahren nicht mehr angefordert wurden, hätten die Bundeswehrkräfte keinerlei Einfluss auf das Operationsgeschehen der Anti-Terror-Mission. 'Wir übernehmen politische Mitverantwortung für etwas, das wir tatsächlich nicht beeinflussen können', sagte Bartels." 16
Fraktionschef Struck und Außenminister Steinmeier hingegen sind für die Verlängerung des OEF-Mandates.
Wie die Union verschiebt die SPD-Führung einen Abzug auf den Sankt-Nimmerleins-Tag und beschwichtigt die Öffentlichkeit.
"Um den Druck vor der Sommerpause rauszunehmen", wie der Spiegel schreibt, wurde am 4. Juli in einer Sondersitzung der Fraktion diskutiert. "Beschlüsse gab es nicht – erst auf einer Klausurtagung Anfang September von Fraktion und Parteivorstand soll die Linie abgesteckt werden." 17
"Druck rausnehmen" hat die SPD-Spitze auch dringend nötig. Laut einer Forsa-Umfrage findet fast jeder zweite SPD-Wähler (48 Prozent) die zentralen Forderungen des LINKE-Vorsitzenden Oskar Lafontaine richtig. Gefragt wurde nach der Meinung zu den Forderungen: Bundeswehrabzug aus Afghanistan, Rücknahme von Hartz IV und Rente mit 67 sowie der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes 18.
Grüne: "Kein Abzug aus Afghanistan" oder Wunschtraum vom Exit
Wie steht die Spitze der Grünen zu einem Abzug? Die Fraktionsvorsitzende Renate Künast, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Jürgen Trittin und der sicherheitspolitische Sprecher Winfried Nachtwei haben am 8. Mai eine „Kurzbilanz“ ihrer Reise nach Afghanistan vorgelegt, die sie vom 1. bis 5. Mai unternommen hatten.
Ziel der Reise war es, sich vor "dem Hintergrund der im Herbst anstehenden Verlängerung der Mandate für ISAF und OEF vor Ort über die politische und militärische Entwicklung zu erkundigen."
Die drei ziehen in ihrem Papier das Fazit: "Kein Abzug aus Afghanistan". Der OEF-Einsatz müsse beendet werden, ISAF solle sensibler "gerade gegenüber der Zivilbevölkerung, auftreten." Polizei und Justiz in Afghanistan sollen laut "Kurzbilanz" mehr Mittel erhalten. 19 Letzteres bedeutet nichts anderes, als die Marionettenregierung unter Präsident Karzai besser auszurüsten.
Außerdem fordern sie: "Deutschland muss sich zivil auch im Süden und Osten engagieren." Selbst wenn im Süden weiter bombardiert wird, solle das zivile Engagement ausgedehnt werden, schreiben sie. Dem Aufbau des Landes wäre damit nicht gedient. Und ob sich die Bevölkerung dadurch "psychologisch beschwichtigen" lässt, wie der Militärexperte Lothar Rühl formuliert hat 20, ist fraglich.
Dieselbe Position vertritt auch Grünen-Chefin Claudia Roth. In der gegenwärtig schwierigen Situation dürfe man die Menschen in Afghanistan nicht alleine lassen, sagte sie am 21. Mai. 21
Ein Teil der Grünenbasis argumentiert etwas anders als ihre Führung. Im Gegensatz zu den regierenden Parteien sagen diese Grünen klar, dass der Afghanistanfeldzug alles andere als erfolgreich ist: "Dass die Eskalation des Militärischen von beiden Seiten betrieben wird und auf Seiten der NATO sowohl OEF (Operation Enduring Freedom) und ISAF (International Security Assistance Force) betrifft, wird vor allem von ExpertInnen vor Ort bestätigt. Die diesbezügliche Informationspolitik der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag muss als äußerst mangelhaft bezeichnet werden", schreiben sie in dem Positionspapier "Mit diesem Krieg ist kein Frieden mehr zu machen" 22.
Das Papier ist aus dem Unmut innerhalb der Parteibasis entstanden, nachdem ein großer Teil der grünen Bundestagsfraktion im März dem Tornado-Einsatz der Bundeswehr zugestimmt hat.
Diese Grünen zitieren in ihrer Erklärung zustimmend Robert Zion, Mitglied des Grünen-Kreisvorstands Gelsenkirchen. Der fordert einen Strategiewechsel: "weg von der militärischen Aufstandsbekämpfung, hin zum zivilen Aufbau." 23 Als politische Linie geben die Autorinnen und Autoren des Basispapiers aus: OEF beenden, damit ISAF erfolgreich sein kann 24. Sie liegen damit auf Linie der Parteiführung.
Sie fordern, dass der Bundestag im Herbst die Mandatierung von OEF und des Tornado-Einsatzes ablehnen soll. Einen sofortigen Abzug der NATO aus Afghanistan lehnen sie ab, weil sie ihn unter "humanitären Gesichtspunkten" derzeit nicht für vertretbar halten.
Das bedeutet eine weitere Mandatierung des ISAF-Einsatzes. Diese wollen die Autorinnen und Autoren unter den Vorbehalt stellen, dass ein Friedensplan noch in diesem Jahr angegangen wird, der vier Bedingungen enthalten soll: 25
- Die NATO soll auf hegemoniale Ziele verzichten.
- Alle politisch relevanten Gruppen in Afghanistan sollen in den politischen Prozess eingebunden werden, der in freien Wahlen münden soll.
- Die ausländischen in Afghanistan aktiven Mächte sollen sich zu einer "Nichteinmischungspolitik" vertraglich verpflichten. Bei Verstoß sollen Sanktionen folgen.
- In einem dreijährigen "vertrauensbildenden Friedensprozess" soll die Entwicklungshilfe stufenweise steigen und die internationale Truppenpräsenz sinken. Der "Friedensprozess" soll sich nach stufenweise Zielvorgaben richten, die zeitlich festgelegt sind.
Innerhalb von 5 Jahren soll nach dieser Vorstellung durch den Friedensplan die volle Souveränität Afghanistans und der vollständige Abzug aller ausländischen Truppen erreicht sein.
Einräumen müssen die Autorinnen und Autoren, dass ihr Plan auch länger dauern, ja sogar schief gehen kann. Letzteres sei der Fall, wenn "militärische Widerstandsaktivitäten" über längere Zeit fortgeführt würden. Sie rechnen auch mit der Möglichkeit, dass "NATO-Staaten und andere Mitglieder der Anti-Terror-Koalition" den Friedensprozess "beeinflussen, stören, behindern, unterminieren, bremsen, verhindern" könnten. Sie sollen sich deshalb verpflichten, so etwas Böses nicht zu tun.
Nun dürfte den Verfasserinnen und Verfassern klar sein, dass die Bundesregierung keine Schritte in Richtung eines solchen Friedensplanes unternimmt, geschweige denn die NATO oder die US-Regierung. Deshalb müssten sie eigentlich fordern, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen auch eine erneute Mandatierung des ISAF-Einsatzes der Bundeswehr abgelehnt werden muss – wenn sie ihr Papier ernst nehmen. Doch darüber verlieren sie in ihrer Erklärung kein Wort.
Dem Positionspapier liegen mehrere Fehler zugrunde: Erstens glauben die Verfasserinnen und Verfasser offenbar, dass die Besatzer bereit wären, mit einer anderen als einer ihnen hörigen Regierung Vorlieb zu nehmen. Das ist illusorisch.
Zweitens kommt es ihnen nicht in den Sinn, dass alle Einsätze in Afghanistan den geostrategischen Interessen der Besatzer folgen – und nicht den Interessen der afghanischen Bevölkerung dienen.
Drittens glauben sie, dass die Möglichkeit besteht, dass sich die Besatzer vertraglich verpflichten, wirklichen Frieden, Demokratie und wirtschaftlichen Aufbau voran zu treiben – und das auch praktisch umsetzen. Die Besatzer sind aber eine Koalition, geführt von Großmächten, die aus Imperialisten und Kriegstreibern besteht. Deshalb hat dieser "Friedensplan" nicht den Hauch einer Chance.
Viertens: Die Kritik an OEF ist in SPD und Grünen, selbst noch in FDP und Union verbreitet. ISAF hingegen wird im Gegensatz zur kriegerischen OEF als reiner Friedens- und Aufbaueinsatz dargestellt. Diese Trennung ist Augenwischerei, wie Peter Strutynski, Sprecher des Bundesausschuss Friedensratschlag, richtig feststellt. "ISAF ist genau wie OEF in Kampfhandlungen verwickelt", stellt er klar.
Hinzu komme, "die im Norden Afghanistans stationierten deutschen Truppen haben auch heute schon die Verpflichtung, auf 'Anforderung' der NATO im umkämpfteren Süden 'auszuhelfen'. Drittens besteht ein gemeinsames Oberkommando über OEF und ISAF, das in den Händen der NATO liegt." 26
Statt am 15. September auf einem Sonderparteitag über Afghanistan und fromme Wünsche zu diskutieren, hätten die Verfasserinnen und Verfasser lieber dazu aufrufen sollen, dass Mitglieder der Grünen sich an der bundesweiten Demonstration der Friedensbewegung gegen die Afghanistan-Einsätze der Bundeswehr beteiligen. Diese findet am selben Tag statt. Der 15. September ist ein Tag des Handelns, nicht des Redens.
Linke Alternative
Der taz-Leser Andreas Buro hat eine brauchbare linke Vorstellung für den Abzug deutscher Truppen formuliert:
"Man stelle sich vor: Deutschland verlängert nicht die Mandate für Isaf, OEF und die Tornados und gibt damit ein deutliches Signal der Neuorientierung. Dabei nennt Berlin ein definitives Datum für den Abzug der deutschen Truppen. Gleichzeitig gibt es bekannt, es würde seine finanziellen Zuwendungen um den Betrag aufstocken, der durch den Abzug der Truppen frei würde. Diese Mittel stünden für Entwicklungsprojekte in Afghanistan zur Verfügung, die von Orten und Regionen gemeinschaftlich für wünschenswert und unterstützungswürdig gehalten würden. Dabei ginge es auch um die örtliche und / oder regionale Zustimmung derjenigen Kräfte, die den Taliban nahe stehen. Auf diese Weise könnten Dialog und Zusammenarbeit der verschiedenen Kräfte vor Ort sowie Vertrauen untereinander gefördert werden. Außerdem könnte so vielfältigen Interessen entsprochen und die Sicherheit der Durchführung verbessert werden.
Man stelle sich weiter vor: Die Bundesregierung förderte die Ausbildung von Personal und Organisationen für dieses zivile und Frieden fördernde Projekt. Sie wirbt gleichzeitig bei anderen Staaten, insbesondere der EU, sich diesem Projekt anzuschließen, und appellierte an die noch weiter Krieg Führenden, solche gemeinsam beschlossenen Projekte nicht in die Kriegführung einzubeziehen. Für eine Exit-Strategie ist zu erinnern: Seit 2002 wurden für militärische Zwecke insgesamt etwa 85 Milliarden Dollar, für Entwicklung aber nur 7,5 Milliarden Dollar aufgewendet, von denen der größte Teil nicht bei der Masse der Bevölkerung angekommen ist. Doch erst wenn die Bevölkerung eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse erkennen kann, wird sie sich auch für Frieden engagieren, weil sie dann etwas zu verteidigen hat.
Ein allmählicher Ausstieg aus dem Krieg wäre so möglich." 27
In zwei Punkten liegt er allerdings falsch: Erstens ist statt einem "allmählichen Ausstieg" ein sofortiger Abzug der Bundeswehr und der anderen Besatzungstruppen nötig. Jede Verzögerung behindert die Anti-Kriegs- und wirklich demokratischen Kräfte innerhalb und außerhalb Afghanistans. Zweitens sind Appelle an die "weiter Krieg führenden" Staaten zwecklos. Auch werden weder EU noch die Bundesregierung Afghanistan die nötige Hilfe zukommen lassen. Denn es stehen ganz andere Interessen als "humanitäre" hinter deren Politik.
Deshalb sind DIE LINKE, die Friedensbewegung und andere aktiv für einen Abzug der deutschen Truppen. Die bundesweite Demonstration am 15. September in Berlin, die unter dem Motto "Bundeswehr raus aus Afghanistan" steht, ist der Startschuss für eine entsprechende Kampagne. Ein schneller Abzug aller Besatzer als unerlässliche Voraussetzung für die Entwicklung Afghanistans im Sinne der Bevölkerung ist die einzig realistische Perspektive.
Die imperialistische Politik der Herrschenden und die Positionen von SPD und Grünen hingegen lassen sich mit den Worten Shakespeares im "König Lear" beschreiben: "Das ist eine böse Zeit, wenn Wahnwitzige die Blinden führen."
Anmerkungen zum Text:
Dieser Text ist Teil eines Readers, den die Afghanistan-Arbeitsgruppe der LINKEN Berlin-Neukölln Ende Juli 2007 erstellt hat. DIE LINKE setzt statt Besatzung auf einen wirklichen wirtschaftlichen Aufbau des Landes und den Aufbau einer Demokratie von unten. Wie eine solche Hilfe aussehen kann, ist Gegenstand eines anderen Teils des Readers. Deswegen beschränkt sich der Teil „Linke Alternative“ in diesem Text auf die kurze Beschreibung der Voraussetzungen echter Hilfe.
Zum Autor:
Frank Eßers ist Mitglied der LINKEN Berlin-Neukölln und Online-Redakteur bei marx21.
Fußnoten:
1 Der Spiegel 31/2007 vom 30. Juli 2007
2 Christine Buchholz: „Bundeswehr raus aus Afghanistan“, Juli 2007, Text zur freien Verwendung in den Kleinen Zeitungen der Partei DIE LINKE
3 Peter Strutynski für den Bundesausschuss Friedensratschlag: „Kein 'Weiter so'“, Pressemitteilung vom 25. Juli 2007
4 Alle fünf Aspekte nennt Lothar Rühl in seinem Artikel: „Deutsche Sicherheitsinteressen in Afghanistan – Nicht nur eine Definitionsfrage“, in: „Strategie und Technik“, Führungs- und Fachzeitschrift für Sicherheitspolitik, Strategie,Wehrtechnik, Streitkräfte, Rüstung und Logistik, Ausgabe Juli 2007, S. 8 ff. Lothar Rühl war Staatssekretär des Bundesministeriums der Verteidigung und ist Militärexperte. Derzeit ist er Professor am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln
5 siehe Frank Eßers: „Wenn sich der Rauch verzieht“, in: Sozialismus von unten, Magazin für antikapitalistrische Debatte und Kritik, Nr.7, Herbst/Winter 2001
6 Ruprecht Polenz am 19. Januar 2007 in seiner Rede im Bundestag: „Afghanistan nicht sich selbst überlassen – Rede zum Afghanistan-Einsatz“
7 ebenda
8 Winfried Wolf: „Afghanistan, der Krieg und die neue Weltordnung“, Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2002
9 Matin Baraki: „Karsai ist eine Marionette“, Interview mit marx21, Magazin für internationalen Sozialismus, Ausgabe Nr. 1, Juni 2007, S. 20 ff.
10 „SPD-Chef erwägt Entsendung weiterer Soldaten“, Welt online vom 28. Juli 2007
11 „Bundeswehr soll auch nach tödlichem Anschlag in Afghanistan bleiben“, ngo-online vom 21. Mai 2007
12 „Dem Frieden verpflichtet“, Beitrag von Kurt Beck in der Frankfurter Rundschau vom 7. April 2007
13 „Afghanistan nicht alleine lassen“, Außenpolitik-News auf SPD.de vom 23. Juli 2007
14 „Bundeswehr soll auch nach tödlichem Anschlag in Afghanistan bleiben“, ngo-online vom 21. Mai 2007
15 „Der Terror nimmt zu: Die Irakisierung Afghanistans“, FAZ.net am 14. Juli 2007
16 „Streit um Bundeswehr-Einsatz: Was tun in Afghanistan?“, sueddeutsche.de vom 29. Juni 2007
17 „Afghanistan-Debatte: Steinmeier und Struck bearbeiten die Genossen“, Spiegel-Online am 4. Juli 2007
18 „Umfrage: Jeder zweite SPD-Wähler unterstützt Lafontaines Forderungen“, Spiegel-Online am 4. Juli 2007
19 Renate Künast, Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei: „Kurzbilanz Afghanistan-Reise“, Berlin, 8. Mai 2007
20 Lothar Rühl: „Deutsche Sicherheitsinteressen in Afghanistan – Nicht nur eine Definitionsfrage“, in: „Strategie und Technik“, Führungs- und Fachzeitschrift für Sicherheitspolitik, Strategie,Wehrtechnik, Streitkräfte, Rüstung und Logistik, Ausgabe Juli 2007, S. 9
21 „Bundeswehr soll auch nach tödlichem Anschlag in Afghanistan bleiben“, ngo-online vom 21. Mai 2007
22 „Mit diesem Krieg ist kein Frieden mehr zu machen“, Erklärung und Positionspapier zu Afghanistan von mehreren Kreisvorständen und Einzelmitgliedern der Grünen, Sommer 2007, S. 2
23 „Wir müssen mit den Taliban verhandeln!“, Interview mit Robert Zion in der taz vom 13. Juli 2007
24„Mit diesem Krieg ist kein Frieden mehr zu machen“, Erklärung und Positionspapier zu Afghanistan von mehreren Kreisvorständen und Einzelmitgliedern der Grünen, Sommer 2007, S. 3f.
25 ebenda S. 6ff.
26 Interview in der jungen Welt vom 2. August 2007, S. 8
27 Leserbrief von Andreas Buro aus Grävenwiesbach in der taz vom 18.7.2007, S. 12