Fünf junge Mädchen lehnen sich gegen ihre Unterdrückung in einem traditionsgeprägten türkischen Dorf auf. Mit viel Sympathie für ihre Heldinnen gelingt es der Regisseurin des Films »Mustang«, Klischees zu vermeiden, meint Phil Butland
Schauplatz von »Mustang« ist die heutige Türkei – allerdings ist die Metropole Istanbul weit weg. Lale (Güneş Şensoy) lebt mit ihren vier Schwestern bei der Großmutter und dem Onkel in einem Dorf am Meer. Am Anfang, erzählt die ältere Lale aus dem Off, war alles in Ordnung. Doch so konnte es nicht bleiben.
Die Mädchen werden bestraft, weil sie am Strand mit Jungen gespielt haben. Ihre Liederlichkeit hat die Familie beschämt. Nun dürfen sie nicht mehr zur Schule gehen und ihr Zuhause gleicht einer Festung. Die Fenster werden vergittert und die Mauern immer höher gezogen. Handys und Computer werden beschlagnahmt.
Die Kontrolle wird verschärft
Als die Mädchen in die Pubertät kommen, beginnt die Familie mit Hochzeitsvorbereitungen. Frauen aus dem Dorf unterrichten sie im Kochen, Putzen und Nähen. Zu den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie die Wohnung verlassen dürfen, müssen sie schäbige Kleidung tragen, die, wie Lale bemerkt, »die Farbe von Scheiße« hat. Der Haushalt ist eine einzige Brautfabrik.
Zu Anfang gibt es noch etwas Spielraum: Die Älteste, Sonay, wird nicht zwangsverheiratet – sie darf ihren Freund ehelichen. Den für Sonay ausgewählten Bräutigam heiratet stattdessen ihre Schwester Selma. Nicht zu heiraten kommt selbstverständlich nicht infrage.
Noch schlimmer als ledig zu bleiben wäre Sex vor der Ehe. Eine der Schwestern muss einen Jungfräulichkeitstest beim Arzt über sich ergehen lassen. Bei einer anderen lauern die Schwiegereltern in der Hochzeitsnacht vor dem Schlafzimmer der Frischvermählten, um die Bettwäsche auf Blut zu überprüfen.
Die Rolle der Frauen im Dorf – der Großmutter und der Tanten der Mädchen – ist widersprüchlich. Einerseits sind sie die Gefängniswärterinnen. Andererseits waren auch sie einmal junge Mädchen und versuchen, das Schlimmste zu verhindern. Aber gegen sexuellen Missbrauch in der Familie und seine tragischen Konsequenzen können sie nur wenig ausrichten.
Auflehnung
Einmal entkommen die Schwestern aus der Wohnung, um sich ein Fußballspiel im Stadion anzusehen. Unglücklicherweise wird das Spiel im Fernsehen übertragen und die Mädchen sind deutlich zu erkennen. Es wäre ein Skandal, wenn die Männer des Dorfs sie sehen würden. Deshalb verschwören sich die Frauen und sabotieren die Stromversorgung.
Das Leben der Mädchen wird immer strenger kontrolliert und die Bräute werden immer jünger. Lale und ihre Schwester Nur rebellieren. Letztendlich sehen sie keinen anderen Ausweg, als nach Istanbul zu fliehen. Dort lebt Lales ehemalige Lehrerin – und zwar (unvorstellbar!) unverheiratet mit ihrem Freund zusammen.
Der Film endet mit Lales und Nurs Ankunft in der Großstadt. Die Mädchen sind dem engstirnigen Dorf entkommen. Ob sie nun aber das Paradies gefunden haben, bleibt offen.
Diese Ungewissheit ist wichtig für die Debatte, die der Film ausgelöst hat.
Orientalismus?
Ein Produzent des von Frankreich finanzierten Films pries ihn als »Plädoyer für französische Werte wie Freiheit« an. Einige Kritiker in der Türkei verurteilten ihn als orientalistisch.
Beide Seiten beziehen sich dabei auf den im Film dargestellten Widerspruch zwischen dem vermeintlich progressiven, säkularen Westen und dem vermeintlich reaktionären, religiösen Orient. Das passt gut zu der Erzählung, die wir spätestens seit den Anschlägen gegen »Charlie Hebdo« in Paris und zuletzt nach dem Skandal der sexuellen Belästigung von Frauen in Köln immer wieder hören.
Aber darauf lässt sich der Film nicht verkürzen. Im Dorf sind zwar viele tatsächlich gläubig, aber der Glaube bestimmt selten das Leben. Frauen vergessen manchmal, ihr Kopftuch richtig zu tragen. Die Gesellschaft ist von Sexismus geprägt, aber der scheint eher soziale und familiäre als religiöse Gründe zu haben. Und es gibt auch durchaus fortschrittliche Dorfbewohner – wie den langhaarigen Lieferanten Yasin (Burak Yiğit), der Lale ein paar Mal aus ihrer Misere rettet.
Regisseurin Deniz Gamze Ergüven hat die Bewegung vom Gezi-Park unterstützt und kritisiert die türkische Regierung von Recep Tayyip Erdoğan. Sie erklärte, bei der Gestaltung der männlichen Figuren im Film habe sie Erdogan »sehr deutlich vor Augen« gehabt. Doch die türkisch-französische Filmemacherin spart auch nicht mit Kritik am Westen.
»Durch das Kommen und Gehen habe ich eine andere Sichtweise auf die Türkei entwickelt und kann sie auch besser ausdrücken. Es funktioniert aber auch andersherum, zum Beispiel in der Debatte über die Flüchtlingskrise: Weil ich weiß, wie es für die Türkei ist, über zwei Millionen Geflüchtete aus Syrien aufgenommen zu haben, sehe ich einiges anders als die meisten Europäer, wenn ich höre, wie ihre Regierungen darüber debattieren, vielleicht ein paar Tausend Geflüchtete aufzunehmen.« So spricht keine Orientalistin.
Frauenunterdrückung ist überall
Das Thema von »Mustang« ist nicht die Unterdrückung von Frauen und Mädchen in der Türkei, sondern die Unterdrückung von Frauen und Mädchen, die zufällig in der Türkei leben. Ergüven, die in der Türkei und in Frankreich aufwuchs, weiß, dass Frauenunterdrückung kein rein türkisches Phänomen ist.
Aber sie hat gesehen, dass sich die Türkei radikal verändert. In einem Interview stellte sie fest: »Die Türkei steckt mitten im Umbruch, alles verändert sich (…) man hat das Gefühl, dass jeden Moment etwas losgehen kann – und es ist völlig unklar, in welche Richtung.« Deshalb ist es wichtig, dass der Film nicht nur Unterdrückung und Flucht, sondern auch Widerstand zeigt.
Die heutige Türkei gehört nicht nur Erdoğan, sondern auch den Aktivistinnen und Aktivisten der HDP – den Kurdinnen, Armeniern und Türkinnen, die für die Rechte der nationalen Minderheiten, Frauen und Homosexuellen kämpfen. Sie gehört auch den mutigen Frauen, die »Mustang« geschrieben, gedreht und gespielt haben. Ihre Weiblichkeit ist nicht unwichtig, wie Ergüven erklärt: »Die meisten Filme werden durch die Kameralinse von Männern gedreht. Das bedeutet, dass uns das Kino meist eine unausgewogene Weltsicht präsentiert – normalerweise, indem Frauen als fremde Körper gezeigt und häufig zum Objekt gemacht werden.«
Auch dieses Jahr entpuppt sich die Oscar-Verleihung mal wieder als Spielwiese reicher weißer Männer (im zweiten Jahr in Folge sind keine schwarzen Künstlerinnen und Künstler für die Hauptpreise nominiert). Umso wichtiger ist es, dass immerhin ein Film wie »Mustang« nominiert ist – ein Film von und über Frauen des Globalen Südens. Auch wenn Hollywood den Preis für fremdsprachige Filme nicht besonders ernst nimmt, ist er nützlich, um ein breiteres Publikum zu erreichen.
Das letzte Wort aber gebührt der Regisseurin: »Es freut mich besonders, weibliche Figuren zu zeigen, die ungewöhnlich, lustig, einfallsreich und schlau sind. Normalerweise werden im Kino Eigenschaften wie Mut, Intelligenz und Ausdauer nicht mit Frauen verbunden. Es nervt, dass Frauen heutzutage immer noch als Tussis dargestellt werden. Deswegen glaube ich, dass der Film eine Lücke schließt.«
Der Film:
Mustang
Regie: Deniz Gamze Ergüven
Türkei, Frankreich, Deutschland 2015
Weltkino Filmverleih
93 Minuten
ab 25. Februar im Kino
Schlagwörter: Erdoğan, Feminismus, Feministin, film, Frauenunterdrückung, Gezi, Islam, Islamophobie, Kino, Kultur, Muslima, Muslime, Rassismus, Recep Tayyip Erdoğan, Türkei