Mit »Überfremdungs«-Kampagnen und Begriffen wie »deutsche Leitkultur« wird Stimmung gegen Migranten gemacht. Ist »Multikulti« darauf eine linke Antwort? Nein, meint Volkhard Mosler. Diese liege im antikapitalistischen Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung und für eine internationale demokratische Kultur.
»Wir als Union treten für die deutsche Leitkultur und gegen Multikulti ein – Multikulti ist tot«, erklärte CSU-Chef Horst Seehofer. Aber was ist eigentlich eine »deutsche Leitkultur« und was ist »Multikulti«? Der von Stoiber, Merz und anderen konservativen Politikern in den 90er Jahren in die politische Debatte geworfene Begriff einer »deutschen Leitkultur« war die Beschwörung einer angeblich durch »Überfremdung« vom Untergang gefährdeten »deutschen Kultur«, die durch das Vordringen fremder Kulturen allmählich vom Aussterben bedroht wäre. Der Begriff fand zeitlich mit der Asylflutkampagne Einzug in Medien und Köpfe. Sarrazin kann mit seiner Warnung vor der Selbstabschaffung des deutschen Volkes hier nahtlos anknüpfen.
Überfremdungskampagnen
Neu sind solche Kampagnen nicht. Der deutsche Historiker Heinrich von Treitschke schrieb 1879 in einem »Unsere Aussichten« überschriebenen Artikel, in dem er die damals aufkommende antisemitische Bewegung als eine »natürliche Reaction des germanischen Volksgefühls gegen ein fremdes Element, das in unserem Leben einen allzu breiten Raum eingenommen« hätte: »Man forderte die buchstäbliche Parität in Allem und Jedem und wolle nicht mehr sehen, dass wir Deutschen denn doch ein christliches Volk sind und die Juden nur eine Minderheit unter uns; wir haben erlebt, dass die Beseitigung christlicher Bilder, ja die Einführung der Sabbathfeier in gemischten Schulen verlangt wurde.«
Nachdem die jüdische Kultur in Deutschland und Osteuropa durch Nazi-Deutschland ausgerottet wurde, beschwört heute eine deutsche Bundeskanzlerin deutsche Leitkultur als »christlich-jüdisch«. Umso größer war die Empörung als der neue CDU-Bundespräsident Wulf fand, dass auch »der Islam zu Deutschland« gehöre. Wenige Wochen später antwortete der hessische Ministerpräsident Bouffier: »Der Islam gehört nicht zum Fundament Deutschlands«.
Mulikulturalismus in der Krise
Das von den Grünen auf ihrem Münsteraner Parteitag 1989 beschlossene Konzept einer multikulturellen Gesellschaft ging einerseits davon aus, dass es keinerlei Druck oder gar Zwang zur Assimilation, das heißt: Verschmelzung, gegen ethnische und kulturelle Gruppen geben soll. Diese sollten in ihrer Differenz nebeneinander existieren dürfen. Dabei beruht dieses Modell auf der Voraussetzung, dass die jeweiligen Ethnien sich in ihrer Verschiedenartigkeit tolerieren und sogar achten.
Dieses Konzept hat eine fortschrittliche und eine reaktionäre Seite. Die fortschrittliche ist die Betonung auf Anerkennung der Rechte religiöser und ethnischer Minderheiten, die Ablehnung von Zwang und Druck seitens der (deutschen) Mehrheitsgesellschaft. Gegen diese fortschrittliche Seite protestieren die Seehofers, Stoibers und Bouffiers. So verfügte die südhessische Kleinstadt Dietzenbach, dass vor ihren Kindergärten die Deutschlandfahne hängt und in der Einrichtung nur deutsch gesprochen werden darf.
Die reaktionäre Seite des Multikulturalismus besteht darin, dass er die trennenden Schranken des Nationalismus und anderer Spaltungen nicht durchbricht. – und damit einem gemeinsamen Klassenkampf aller Arbeiterinnen und Arbeiter gegen das Kapital im Wege steht.
Ursachen
Die Krise des Multikulturalismus hat zwei Ursachen: Seit dem Ende des Kalten Krieges haben die großen Nationen der Nato eine Serie von Eroberungsfeldzügen gegen islamische Staaten (Somalia, Irak, Afghanistan) geführt und mit diesen Kriegen den Islam als neues Feinbild aufgebaut. Der Krieg um Öl und Profite wird als Krieg gegen islamischen Terror umgedeutet. Unter jungen Migranten führte die wachsende Ausgrenzung des Islam zu Abwehrreaktionen, die nun von den Ideologen eines neuen islamophoben Rassismus als »Integrationsunfähigkeit« gedeutet werden.
Mit der ersten Ursache hängt die zweite zusammen: Die Rückkehr der Krise des Kapitalismus hat zur Verschärfung ethnischer Konflikte in Europa geführt, so z. B. zum Zusammenbruch Jugoslawiens und dem Entstehen von mehreren kleineren Staaten auf der Grundlage ethnischer Säuberungen, Vertreibungen der jeweils anderen Minderheiten aus dem neuen Staatsgebiet usw. Die frühere Tschechoslowakei zerfiel, das heutige Belgien ist seit längerem vom flämischen Separatismus bedroht.
Dabei tritt die reaktionäre Seite des Multikulturalismus immer stärker in den Vordergrund. Neuer Rassismus der Deutschen auf der einen Seite, auf der anderen eine Vielzahl von nationalen Konflikten (Kurden gegen Türken, Serben gegen Kroaten, Albaner gegen Roma und Serben, Bosnische Muslime gegen Serben und Kroaten, Basken gegen Spanier usw.), die sich auch in Feindseligkeiten unter Migrantengruppen in Deutschland niedergeschlagen haben. Weil er die Schranken des bürgerlichen Nationalismus nicht überwinden kann, trägt der Multikulturalismus immer auch die Gefahr der Exklusion, der Unterdrückung und Diskriminierung in sich.
Internationalismus und Klassenkampf
In einer Debatte über Assimilation und Verschmelzung schrieb Lenin 1913 (Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage): »Der Marxismus ist unvereinbar mit dem Nationalismus … (er) setzt an die Stelle jeglichen Nationalismus den Internationalismus, die Verschmelzung aller Nationen zu einer höheren Einheit.« Diese Absage an jeden Nationalismus schloss allerdings den »Kampf gegen jede nationale Unterdrückung« kleinerer durch größere Nationen ein. Und so lautet seine Formel: »Kampf gegen jede nationale Unterdrückung – unbedingt ja. Kampf für jede nationale Entwicklung, für die »nationale Kultur« schlechthin – unbedingt nein.« Das Proletariat dürfe »keinerlei Verankerung des Nationalismus unterstützen, im Gegenteil, es unterstützt alles, was dazu beiträgt, die nationalen Unterschiede zu verwischen, die Schranken zwischen den Nationen niederzureißen, alles, was den Zusammenhalt zwischen den Nationalitäten immer enger gestaltet, alles, was zur Verschmelzung der Nationen führt.« (1)
Die Vertreter des »grünen« Multikulturalismus von 1989 versagen in doppelter Hinsicht. Sie schrecken zunehmend davor zurück, die Rechte der unterdrückten Ethnien, vor allem der muslimischen Migranten offensiv zu verteidigen. Das heißt, sie passen sich schrittweise dem Zwangsassimilantentum der Seehofers und Bouffiers an. Vor 20 Jahren hatten die Grünen dagegen, das Recht auf Abweichung und kulturelle Verschiedenheit betont, heute warnen sie wie CDU/CSU, FDP und SPD, Migranten zur Toleranz gegenüber der deutschen Kultur.
Linke sollten dagegen solchen politischen Druck zur »Integrationsförderung« ablehnen. Denn dieser läuft letztlich auf eine Unterwerfung unter »deutsche Leitkultur« hinaus, ebenso wie Zwangsmaßnahmen durch den bürgerlichen Staat. Dass die Grünen sich vom staatlichen Zwang (noch?) distanzieren, ändert daran nichts. Eine solche Politik der erpressten Unterwerfung funktioniert nicht. Sie stärkt letztlich die Gegner jeder Integration. Mit dieser Politik des erhobenen Zeigefingers kann man auch kein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religion, Hautfarbe und nationaler Herkunft fördern.
Linke müssen andere Konsequenzen aus der Krise des Multikulturalismus ziehen. Sie sollten einerseits das Recht unterdrückter Ethnien und Religionen auf Differenz verteidigen, z. B. das Recht der Kurden auf ihre Forderung nach nationaler Autonomie, aber auch das Recht der Muslime auf vollständige, uneingeschränkte Freiheit zur Praktizierung ihres Glaubens.
Zugleich sollten Linke sich für eine Verschmelzung (»Assimilation«) auf der Grundlage des Klassenkampfes und der internationalen Solidarität einsetzen. Verschmelzung aus einem gemeinsamen Klasseninteresse heraus, im Widerstand gegen kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung – unbedingt ja, Assimilation durch Unterwerfung unter eine »deutsche Leitkultur« unter Androhung von Zwang und Gewalt – unbedingt nein.
Gemeinsamkeit im Klassenkampf wird erleichtert durch gemeinsame Sprache aller Ausgebeuteten und Unterdrückten. Aber diese »Gemeinsamkeit« hat nichts mit der deutschen Nation oder einer Unterwerfung unter eine »deutsche« Kultur zu tun. Als Internationalisten sind wir für die Entwicklung einer internationalen demokratischen Kultur, die fortschrittliche Elemente der verschiedensten Kulturen zu einer demokratischen Weltkultur vereint. So wie es nicht eine deutsche Esskultur geben kann, die von allen Migranten geteilt werden muss, so soll auch Nationalismus, religiöse Intoleranz, Rassismus und Sexismus im gemeinsamen Klassenkampf überwunden werden.
Anmerkung:
(1) Vergleiche auch: Lenin: »Das nationalistische Schreckgespenst des Assimilantentums«, Werke, Band. 20, Seite. 11 ff. Lenin setzt sich in diesem Aufsatz kritisch mit damaligen Vertretern des Multikulturalismus vom Standpunkt des proletarischen Internationalismus auseinander. Unter dem Begriff der »nationalen Autonomie« vertraten Otto Bauer und die Austromarxisten ähnliche Positionen gegenüber dem bürgerlichen Nationalismus wie die Grünen heute.