Das gesellschaftliche Echo auf die sexistischen Vorfälle in Köln gab rechten und christlich-konservativen Kräften Rückenwind: Es wurde tüchtig Stimmung gegen Flüchtlinge gemacht – über die Ursachen von Sexismus hingegen meist geschwiegen. Von Silke Stöckle und Marion Wegscheider.
Mehr als tausend Strafanzeigen, davon 454 wegen sexueller Übergriffe; 59 ermittelte Tatverdächtige, davon 13 in Untersuchungshaft. So lautete die Zwischenbilanz der Kölner Staatsanwaltschaft zu den Ereignissen in der Silvesternacht.
Doch nur fünf Wochen später kam es trotz eines massiven Polizeiaufgebots erneut zu sexuellen Übergriffen in der Domstadt: Im Karneval wurden insgesamt 66 Sexualdelikte zur Anzeige gebracht, darunter eine Vergewaltigung. Eine belgische Reporterin wurde vor laufender Kamera von einer Gruppe deutscher Männer belästigt und angegriffen – einer der Männer grabschte ihr an die Brust und fragte, ob sie mit ihm schlafen wolle. Anders als nach der Silvesternacht blieb dieses Mal eine gesellschaftliche Empörungswelle zu Sexismus und sexueller Gewalt in der Gesellschaft jedoch weitgehend aus.
Sexuelle Gewalt wird in den seltensten Fällen bestraft
Sexuelle Gewalt ist nach wie vor eines der großen Tabuthemen unserer Gesellschaft und wird deshalb als wesentlich weniger alltäglich wahrgenommen, als sie es ist. Von Staat und Justiz konnten die Frauen bislang auf wenig Unterstützung hoffen. Das Institut für Polizei- und Sicherheitsforschung der Hochschule für Öffentliche Verwaltung Bremen kommt in einer aktuellen Studie zu der Feststellung, dass im Jahr 2012 nur 16 von 145 Verfahren in Bremen überhaupt vor Gericht gingen – in ganzen sieben Fällen kam es daraufhin zu Verurteilungen. Dies entspricht einer Verurteilungsquote von 3,9 Prozent.
Zudem gehen die Behörden von einer hohen Dunkelziffer an Delikten aus, die nie zur Anzeige gebracht werden. Beim diesjährigen Karneval in Köln hatten Frauen offenbar mehr Vertrauen, Sexismus zur Anzeige zu bringen. So bekam ein Türsteher eine Anzeige, der von einer Frau wahlweise einen überhöhten Eintrittspreis oder ein »Bützje« (Küsschen) verlangte. Der Kölner Polizeidirektor bestätigte, dass dieser Vorfall höchstwahrscheinlich ohne die Ereignisse an Silvester nicht zur Anzeige gebracht, sondern als harmlos abgetan worden wäre.
Rechte Hetze gegen Flüchtlinge und Muslime
Dennoch führten die Ereignisse der Silvesternacht nicht zu einer breiten Debatte über den in unserer Gesellschaft tief verankerten Sexismus. Vielmehr folgte eine ausufernde rechte Hetze gegen Flüchtlinge und Muslime in Deutschland. Beispielsweise schrieb Björn Höcke, der Fraktionsvorsitzende der AfD im Thüringer Landtag, auf seiner Facebookseite: »Die Silvesternacht hat unserem Land mit den Ereignissen am Kölner Hauptbahnhof einen Vorgeschmack auf den drohenden Kultur- und Zivilisationszerfall gegeben.« Pegida-Demonstrierende brachten gar den Slogan »Rapefugees not welcome« auf ein Banner. Auch der Kölner Kreisverband der rechtsextremistischen Partei Pro NRW schaltete sich in die Diskussion ein. Unter dem Motto »Zuwanderergewalt lässt uns nicht kalt!« kündigte er noch in der ersten Januarwoche eine Mahnwache am Kölner Dom an, um gegen die »Schattenseiten der Masseneinwanderung« zu protestieren.
Auch in den Medien wurden die Kölner Silvesterattacken oftmals als unmittelbare Folge des Zustroms von Geflüchteten dargestellt, obwohl die Fakten dem widersprechen. Laut Kölns Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer waren an den Übergriffen lediglich drei Flüchtlinge beteiligt, die im vergangenen Jahr aus Syrien oder dem Irak nach Deutschland gekommen waren. Dennoch werfen Rechtskonservative allen in Deutschland lebenden Muslimen vor, christlich-abendländische Kultur, hiesige Traditionen, gesellschaftliche Ideale oder – kurz gesagt – »westliche Werte« zu bedrohen.
Frauenrechte dienen als Vorwand
Frauenrechte werden in diesem Zusammenhang lediglich als Vorwand benutzt, um Rassismus zu schüren: Es formieren sich rechte Bürgerwehrstrukturen und Demonstrationen für den Schutz »deutscher Frauen«. Hooligan-Gruppierungen fordern in sozialen Medien, es müsse das »Hausrecht« gegenüber Flüchtlingen durchgesetzt werden – also das Recht der deutschen Männer auf die Frauen in Deutschland. Besonders offensichtlich wird diese Einseitigkeit, wenn man die Situation geflüchteter Frauen in Deutschland betrachtet: In Köln sollen Wachmänner einer Flüchtlingsunterkunft Frauen beim Stillen gefilmt und Duschräume betreten haben. Mädchen sollten in der Wachstube übernachten und sogar von einer Vergewaltigung ist die Rede. Dies führt jedoch zu keinem Aufschrei in der Öffentlichkeit. Der vielbeschworene Schutz gilt also keineswegs Frauen und ihren Rechten, sondern vielmehr konservativen Rollen- und Wertvorstellungen. Entsprechend viel Gegenwind von rechts bekommen diejenigen, insbesondere Frauen, die sich öffentlich gegen die rassistische Instrumentalisierung der Ereignisse stellen.
Die Partei, die besonders von dieser Debatte profitiert, ist die AfD. Denn mit ihren Forderungen spricht sie sowohl Anhänger völkisch-nationaler Gruppierungen wie der NPD als auch Teile des christlich-konservativen Lagers an. Der baden-württembergische Landesverband schrieb beispielsweise, er setzte sich »für eine gezielte gesellschaftliche Aufwertung des Erfolgsmodells Familie und der Rolle der Mutter ein«. Die strukturelle und systemimmanente Benachteiligung von Frauen wird geleugnet, Quoten und der Kampf für Geschlechtergerechtigkeit werden kategorisch abgelehnt. Das Frauenbild der AfD knüpft damit an Traditionen an, die der »progressive« Westen vermeintlich längst überwunden haben sollte – ihre Alternative ist ein großer Schritt zurück in die Welt der 1950er und 1960er Jahre, in denen Männer gegenüber Frauen jederzeit von ihrem »Hausrecht« Gebrauch machen konnten.
Weder Religion noch Herkunft können Sexismus erklären
Wenn die »Kultur« in den Herkunftsländern der Täter von Köln als Ursache für deren sexistisches Verhalten ins Spiel gebracht wird, dann muss auch die Situation in Deutschland betrachtet werden. In unserer westlichen, christlichen, kapitalistischen Kultur ist sexuelle Gewalt gegen Frauen an der Tagesordnung. Regelmäßig werden Frauen bei Großveranstaltungen Opfer sexueller Angriffe. Oder man denke nur an jene Junggesellenabschiede, wo Männergruppen durch die nächtlichen Straßen marodieren und Passantinnen zu sexistischen Spielchen nötigen – teilweise auch als »Kulturexport« auf Inseln wie Mallorca oder Ibiza.
Weder Religion noch Herkunft können Sexismus erklären. Hilfreicher ist es, die strukturelle Unterdrückung der Frau im Kapitalismus in den Blick zu nehmen. Wo Rassismus hilft, Sozialabbau und innere Aufrüstung zu rechtfertigen, wird durch institutionalisieren Sexismus die Reproduktionsarbeit kostengünstig abgesichert und Druck auf Löhne ausgeübt. »Sexism sells« – Männer wie Frauen sind von der herrschenden Ideologie der kapitalistischen Gesellschaft geprägt. Das ist keine Frage der Religion, sondern Ausdruck der Klassengesellschaft.
Kulturelle Werte zu beschwören ist eine Farce
Was also bleibt zur Herkunft der Täter der Kölner Silvesternacht zu sagen? Einige verdächtigte Männer stammen aus Algerien oder Marokko. Länder, die als sicher gelten, weshalb Asylanträge im Allgemeinen scheitern – obwohl es dort laut Amnesty International regelmäßig zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Angekommen in der Festung Europa bleibt Menschen von dort also nur die Möglichkeit des illegalen Aufenthalts, ohne Hoffnung auf einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz, regulären Mietvertrag oder soziale Absicherung. Die sexuellen Übergriffe bleiben unentschuldbar, doch vor diesem Hintergrund ist es eine Farce, kulturelle Werte zu beschwören und einen diffusen »Respekt vor Frauen« einzufordern. Denn ein Land, das Menschen an seinen Grenzen systematisch in »legal« und »illegal« aufteilt, kann für sich weder behaupten, Respekt zu kennen, noch eine menschliche Kultur oder Werte zu pflegen.
Nicht genug, dass ankommende Menschen an den Grenzen in zwei Klassen eingeteilt werden – der europäische Kulturexport Nummer eins, nämlich Rüstungsgüter, sorgt dafür, dass unsere »Werte« uns vorauseilen und andere Gesellschaften in den hoffnungslosen Ruin stürzen. Vor allem Deutschland zementiert genau die vielgescholtenen »Kulturen« in den Herkunftsländern der Migranten – indem es Infrastrukturen zerstört, Bodenschätze plündert und Kräfte unterstützt, die Frauenbilder propagieren, die dem Westen vorgeblich so fremd sind. Kommen Frauen aus zerstörten Regionen dann hier an, steht ihnen dank Asylpaket II nicht einmal ein Schutzraum in den Unterkünften zu. So sind sie auf jeder Seite dieser kapitalistischen Weltordnung die Leidtragenden.
Sexismus lässt sich nicht durch schärfere Gesetze bekämpfen
Was tun gegen sexuelle Gewalt? In der Debatte dominiert vor allem die Forderungen nach Verschärfung des Sexualstrafrechts und der Ruf nach mehr Polizei. So forderte auch Dietmar Bartsch von der LINKEN eine Aufstockung des Polizeipersonals »auf Straßen und Plätzen«.
Aber die Polizei selbst ist keine neutrale Institution. Sie ist ein Instrument der Unterdrückung zur Aufrechterhaltung einer Klassengesellschaft und deshalb ein grundlegend konservativer Apparat. Sie ist in den eigenen Reihen sexistisch, wie Berichte von Polizistinnen immer wieder zeigen. Durch mehr staatliche Überwachung und schärfere Gesetze lassen sich Sexismus und sexuelle Gewalt nicht bekämpfen. So finden etwa zwei Drittel aller Vergewaltigungen in Deutschland in der Wohnung des Opfers statt – in den meisten Fällen durch den eigenen Partner oder Ehemann.
Doch es gibt zu wenig Frauenhäuser, weil die vergangenen Regierungen die Mittel immer weiter kürzten. Deswegen müssen Frauenhäuser nach wie vor Tausende abweisen, die Opfer von sexueller Gewalt wurden und Hilfe brauchen. Im Rahmen der Kampagne #ausnahmslos steht die Forderung nach der ausreichenden Förderung von sozialen Angeboten wie Frauenhäusern und Therapieplätze zu Recht auf Platz 1.
Strukturelle Ursachen von Unterdrückung und Sexismus
Doch so begrüßenswert die #ausnahmslos-Kampagne ist, die sich gegen die Vereinnahmung des Feminismus für Rassismus wendet, klammert die Kampagne einen wichtigen Bereich der Frauenunterdrückung aus. So fehlen konkrete Forderungen, die darauf abzielen, die sozioökonomischen Auswirkungen des Kapitalismus zu beseitigen oder wenigstens abzumildern, welche mangelnde Gleichberechtigung und Sexismus ermöglichen und reproduzieren.
Noch immer arbeitet die Mehrheit der Frauen für weniger Lohn, noch immer bekommen Frauen deutlich weniger Rente. Nur eine wirkliche gesellschaftliche Gleichstellung von Frauen durch gleiche Löhne, gesetzliche Gleichberechtigung und Chancengleichheit im Beruf kann etwas an den finanziellen und rechtlichen Abhängigkeiten zwischen den Geschlechtern und damit an der Vorstellung ändern, Frauen seien weniger wert. Der einzige Weg, der herrschenden Dynamik zu entkommen, besteht in der Organisation von Arbeitskämpfen und gesellschaftlichen Bewegungen gegen strukturelle Frauenunterdrückung, Sexismus und Rassismus sowie im konsequenten Engagement gegen militärische Interventionen.
Auf die Straße gegen Rassismus und Sexismus
Nach den Ereignissen an Silvester gab es bereits diverse Proteste: Am 9. Januar gingen rund tausend Menschen in Köln gegen Rassismus und Sexismus auf die Straße. Am 16. Januar demonstrierten 350 syrische Flüchtlinge gegen Sexismus und auf den diesjährigen »One Billion Rising«-Kundgebungen in über 140 Städten in Deutschland standen die Ereignisse in Köln im Zentrum. Viele Teilnehmende sprachen sich gegen Gewalt an Frauen und gegen Rassismus aus.
Die bundesweit größte Demonstration für Frauenrechte anlässlich des internationalen Frauentags fand in diesem Jahr unter dem Motto »Frauen*kampftag 2016 – Gemeinsam Grenzen einreißen« statt. Genau so kommen wir, Frauen und Männer, der Gleichberechtigung näher: Wenn wir gemeinsam dafür kämpfen und damit die Grundsätze des Kapitalismus in Frage stellen. #ausnahmslos und #überall.
Foto: ЯAFIK ♋ BERLIN
Schlagwörter: AfD, Algerien, Feminismus, Flüchtlinge, Frauen, Frauenbefreiung, Frauenkampftag, Frauenrechte, Frauenunterdrückung, Geschlecht, Gleichberechtigung, Islam, Köln, Marokko, Muslime, Polizei, Rassismus, Religion, Reproduktionsarbeit, Sexismus, Sexuelle Gewalt, Unterdrückung, Vergewaltigung