Der Journalist und Sozialist Ahmed Shawki berichtet aus Kairo von dem Tag, als Husni Mubarak und sein Regime mit großer Gewalt gegen die Bewegung zurückschlugen, die seinen Rücktritt fordert
Mubarak-Anhänger versuchten am Mittwoch bestens koordiniert gegen die Massenbewegung vorzugehen, die die Straßen Kairos und anderer ägyptischen Städte in ihrem Kampf gegen die Diktatur besetzt halten.
Mindestens 600 Menschen wurden verletzt und etliche getötet von Mubarak-Schlägern, die auf den Tahrirplatz vordrangen, das symbolische Herz des Kampfes im Zentrum Kairos, und Demonstranten angriffen. Die Menschen wehrten sich den ganzen Tag mit größter Entschlossenheit. Als dieser Artikel verfasst wurde, war es 21 Uhr in Ägypten (Mittwochabend), und die Auseinandersetzungen gingen weiter.
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Der Gegenangriff folgte der riesigen Demonstration gegen Mubarak vom Dienstag, an der landesweit insgesamt 6 bis 8 Millionen Menschen teilgenommen haben, so einige Schätzungen. Diese Demonstrationen waren von einer fast festlichen Atmosphäre geprägt gewesen und die Menschen hatten das Gefühl, dass das Ende der Diktatur eingeläutet war.
Das sich 24 Stunden später bietende Bild ist völlig anders. Um zu verstehen, was innerhalb eines einzigen Tages passiert ist, müssen wir zurückblicken auf die Rede Mubaraks, die er in der Nacht zu Mittwoch hielt und in der er erklärte, er werde im September nicht mehr kandidieren, dass er jedoch seine Amtszeit beenden werde, um für einen »geordneten Übergang« des Regimes zu sorgen. Genau das hatte anscheinend auch Barack Obama Mubarak am Dienstag signalisiert, in direkten Gesprächen und bei Besuchen von US-Diplomaten im Präsidentenpalast. Jetzt wissen wir, welche Art von Übergang Mubarak sich vorstellt.
Mubaraks Regime ist am Ende – davon bin ich immer noch überzeugt. Aber Mubarak und die USA wollen ein im Kern möglichst gering verändertes Regime erhalten. Mubarak spielt die einzige ihm verbliebene Karte aus, um zu überleben, eine schockierend gewaltsame Karte. Die Geschehnisse der vergangenen acht Tage sind aber von der Mehrheit der Ägypter noch nicht vergessen – ihr Gefühl für ihre Fähigkeit zur Mobilisierung, zum ersten Mal ein Geschmack von Freiheit. Mubarak sprach in seiner Rede davon, wie er sich 30 Jahre lang für das Land geopfert habe. Meine Reaktion darauf war, dass er nun das endgültige Opfer bringen und abdanken sollte. Das hat er nun offensichtlich nicht getan. Aber ich glaube auch, dass es zu einer massiven Gegenreaktion in den nächsten Tagen kommen wird. Es gibt bereits Aufrufe zu großen Demonstrationen am Freitag, dem ersten Tag des Wochenendes in Ägypten. Die Menschen waren begeistert von den Demonstrationen am Dienstag, ihrer Friedfertigkeit, der Sinnhaftigkeit, der einheitlichen Forderungen. Heute wurden sie von dem Gegenschlag überrascht. Jetzt werden sie über ihre eigene Entschlossenheit und Organisation nachdenken müssen – wie sie ab jetzt gegen den Angriff des Regimes vorgehen können.
In seiner Rede betonte Mubarak, dass er die berechtigten Sorgen der protestierenden Ägypter ernst nehme, aber er unterstellte auch, dass die Demonstranten vom Tahrirplatz manipulierte Werkzeuge unbekannter Feinde des ägyptischen Staats seien. Er wiederholte damit, was er schon vor einer Woche in einer Rede gesagt hatte, in der er erklärt hatte, dass er kein Chaos zulassen werde. Was das heißt, wurde am Mittwoch klar. Am Morgen wurden rund um Kairo große Zahlen Sicherheits- und Polizeikräfte mobilisiert, ebenso Leute, die in Staatsfirmen arbeiten, und weitere, die die Botschaft Mubaraks glauben, in den nächsten 6 Monaten käme es zu einem Regimeübergang. Der Gegenangriff war bestens organisiert. Es gab eine ideologische Komponente und den Einsatz von direkter Gewalt auf der Straße. Beide Aspekte waren Teil einer intensiven Bemühung, die Besetzer des Tahrirplatzes und die Bewegung insgesamt zu schwächen. Es gibt drei Hauptbrücken, die in die Innenstadt um den Tahrirplatz führen. Am Mittwochmorgen sah ich, dass eine dieser Brücken voller Menschen war, die Plakate trugen mit »Yes Sir, Mubarak«, »Haut ab«, »Geht dahin, wo ihr hergekommen seid« und so weiter.
Zusätzlich gab es in verschiedenen Stadtvierteln Demonstrationen. In Mohandiseen, einem Stadtviertel der Mittelschicht in Kairo, wo es schon am Dienstag eine Demo für Mubarak von 1.000 bis 2.000 Menschen gab, schwoll die Zahl am Mittwoch um tausende mehr an. In anderen Gegenden der Stadt wurden Taxifahrer mobilisiert. Sie haben an einem Programm zum Austausch alter gegen neue Taxis teilgenommen und waren Nutznießer von Staatssubventionen zur Ankurbelung des Tourismus. Sie hupten und hängten vorgedruckte Zeichen zur Unterstützung Mubaraks an ihre Autofenster.
In anderen Gegenden der Stadt gab es hupende Autokolonnen, von denen im Laufe des Tages klar wurde, dass es sich bei den Fahrern um Staatsfunktionäre handelte, die den Tag frei bekommen hatten und angewiesen worden waren, sich an Kundgebungen zur Unterstützung ihres Präsidenten zu beteiligen.
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All das wurde von den Medien so dargestellt, als gäbe es doch Unterstützung für den Präsidenten. Das ist Teil des ideologischen Gegenangriffs, die Demonstranten für die Probleme des Landes verantwortlich zu machen – die Situation also auf den Kopf zu stellen. Was damit gesagt werden soll, lautet: Es ist Zeit, das Land zu vereinen, zurück zur Arbeit zu gehen, Ruhe muss wieder einkehren. Natürlich wäre das längst durch Mubaraks Rücktritt erreicht worden. Stattdessen versucht das Regime die Demonstrationen verantwortlich zu machen für die fortgesetzte Unordnung.
Besonders beängstigend war die Mobilisierung organisierter Schläger in und um das Zentrum von Kairo herum, die die Straßen zum Tahrirplatz auf und ab liefen. Es gibt ungefähr ein Dutzend Zugänge zum Tahrirplatz (Befreiungsplatz). Die Schläger marschierten durch die Nebenstraßen zu den Zugangspunkten, postierten sich dort bedrohlich und drangen schließlich auf den Platz vor. Frühmorgens waren Staatssicherheitsleute von der Armee auf den Platz gelassen worden. Es gab einen Bericht im Fernsehen über ein Auto voller Waffen, das gestoppt wurde, als der Fahrer es auf den Tahrirplatz steuern wollte. Im weiteren Tagesverlauf konnten die Demonstranten die Schläger wieder vertreiben.
Bei Einbruch der Nacht gab es wieder koordinierte Angriff von mehreren Zugangspunkten aus, vor allem von der Seite der Brücke des 6. Oktobers über dem Nil, wo es eine Baustelle gibt. Mubarakanhänger begannen, riesige Geschosse und Steine runterzuwerfen. Ich sah, wie Molotowcocktails direkt in die Menge geworfen wurden. Später gab es Presseberichte, wonach die Mubarakschläger unbegrenzt Wurfgeschosse zur Verfügung hatten. Etliche Menschen wurden übel geschlagen, auch Journalisten wie Anderson Cooper von CNN. Hunderte wurden verletzt. Laut einem Bericht außerhalb des Tahrirplatzes griffen die Schläger insbesondere medizinisches Personal an, das auf den Platz zu kommen versuchte, um den Verletzten zu helfen.
Es gab auch eine bizarre Szene, wo etliche Schläger auf Pferden in die Menge preschten und einige Reiter überwältigt wurden. Sie hatten Polizeiausweise. Das wurde jetzt von BBC und al-Dschasira berichtet, somit ist offensichtlich, wer all das organisiert hat. Dies war ein Versuch, mit Gewalt gegen eine außerordentlich friedliche und effektive Massendemonstration vorzugehen.
Die Absichten des Regimes sind klarer denn je: Mit Ernennung Omar Suleimans, dem früheren Geheimdienstchef, zum Vizipräsidenten, versuchte Mubarak die Flügel zu stärken, die sich auf ihn stützen. Er wollte mit den gewalttätigen Übergriffen auch zeigen, dass dies Ägypten ist.
Der Plan der Regierung ist unschwer zu lesen: Sie wollen verhindern, dass die Leute zurück auf den Tahrirplatz kommen, wo die Demonstrationen bisher ihren Mittelpunkt hatten. Wenn sie die Menge ausdünnen können, könnten sie zum endgültigen Angriff blasen, so wie die chinesische Regierung gegen die Demonstranten auf dem Tiananmenplatz im Jahr 1989.
Die größte Frage ist, wie sich die Armee verhalten wird. Sie wurde eingesetzt, weil die Polizei nicht mehr Ordnung halten konnte, und in der gesamten letzten Woche gab es Beispiele der Verbrüderung zwischen Demonstranten und Soldaten.
Jetzt ist die Polizei zurück. Offiziell sind sie nicht zum Tahrirplatz gekommen, sondern vor allem in die Mittelschichtviertel wie Mohandiseen, wo sie sich den Gemeindepatrouillen anschließen. Aber es gibt keinen Zweifel, auch nicht von irgendwelchen Medien, dass diejenigen, die Demonstranten angegriffen haben, zivile Staatspolizisten waren. Die Armee scheint deshalb beschlossen zu haben, »sich rauszuhalten«. Am Mittwoch habe ich einmal gesehen, wie Soldaten in die Luft schossen, um Mubarak-Anhänger zu hindern, auf den Platz zu vorzudringen, weil es bereits einen Aufschrei von Demonstranten gab. Gleichzeitig ist die Armee aber auch nicht gegen die gewalttätigen Angriffe eingeschritten.
Armeesprecher haben nun seit Tagen erklärt, dass die Zeit für Demonstrationen vorbei sei, und die Botschaft wurde am Mittwoch unterstrichen. Offensichtlich hält sich die Armee nicht raus und steht auch nicht über der Politik, auch wenn sie es immer wiederholt. In der Geschichte Ägyptens hat die Armee immer eine wichtig Rolle gespielt. Die Menschen sind schockiert über das Ausmaß an Gewalt und somit könnte ein Kontext geschaffen sein, wo die Armee als Retter eingreifen kann. Aber das könnte problematisch sein, weil noch nicht klar ist, inwieweit der Aufruf zu Demonstrationen am Freitag befolgt wird.
Wie es außerhalb Kairos aussieht, ist unklar. Nach Berichten gab es in Alexandria, wo am Dienstag ebenfalls Millionen demonstrierten, keine Anhänger Mubaraks am Mittwoch. Alexandria ist ein politischerer Ort, teils wegen einer seit Jahren existierenden Bewegung gegen Polizeiunterdrückung. Das Anti-Mubarak-Gefühl ist in Alexandria noch ausgeprägter.
Es gab auch Berichte von großen Demonstrationen am Dienstag gegen das Regime aus vielen Städten des Landes, auch von Streiks und Besetzungen – obwohl das teils überdeckt wird davon, dass niemand zur Arbeit gegangen ist.
Das Regime könnte jetzt einen Schritt zu weit gegangen sein, um an der Macht zu bleiben. Die Bilder von den friedlichen Massendemonstrationen am Dienstag wird niemand vergessen, schon gar nicht die, die am Mittwoch auf dem Tahrirplatz waren. Die Hauptfrage wird sein, ob die Bewegung es schafft, weiterhin zu mobilisieren, den Tahrirplatz zu verteidigen, der zum wichtigen Symbol geworden ist, und begreift, dass die Bewegung auf den Angriff des Regimes reagieren muss.
Die Demonstrationen werden weitergehen, aber die Leute fangen an, sich andere Fragen zu stellen: Zum Beispiel wie man einen Diktator los wird, der nicht gehen will und der bewaffnete Kräfte zur Verfügung hat. Das waren die Fragen, die sich Aktivisten und Sozialisten, mit denen ich gesprochen habe, gestellt haben – sie wollen den Druck aufrechterhalten, den Tahrirplatz verteidigen und dafür sorgen, dass es am Freitag zu einem Showdown mit den gegen sie aufgestellten Kräften kommt.
Zum Text: Der Text erschien zuerst in Englisch auf www.socialistworker.org. Übersetzung ins Deutsche marx21
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- Fotofeature: Massenproteste in Ägypten im April 2008 (zum Start der Bilderserie das oberste Vorschaubild anklicken)