Der Aufstand in Ägypten erschien in den ersten zwei Wochen ebenso spontan wie vereint. Nachdem das Regime nun zunehmend auf Verhandlungen statt auf Repression setzt, werden die Widersprüche innerhalb der Opposition deutlicher. Eine Anatomie der ägyptischen Oppositionskräfte von Simon Assaf
Die US-Regierung, die führenden EU-Staaten und ihre Verbündeten im Nahen Osten fürchten, dass die Revolution in Ägypten zur Machtergreifung durch die Muslimbruderschaft führen könnte, wenn sie nicht aufzuhalten ist. Innerhalb der Bewegung gibt es dagegen Befürchtungen, dass die Muslimbrüder als Bremse des revolutionären Prozesses wirken könnten, indem sie sich an die Spitze einer gemäßigten Bewegung für den Wandel stellen.
Der ägyptische Diktator Husni Mubarak griff die Bruderschaft direkt an, als er sagte: »Die Bürger und die jungen Leute Ägyptens sind auf die Straße gegangen, um friedlich zu demonstrieren und das Recht auf Redefreiheit einzufordern. Ihre Demonstrationen sind jedoch im Namen der Religion von einer Gruppe infiltriert, die die verfassungsmäßigen Rechte und staatsbürgerliche Werte nicht achtet.«
Das Szenario von »dunklen Kräften des Fundamentalismus« ist allerdings eine sehr vereinfachte Darstellung der größten ägyptischen Oppositionsbewegung, die über die tiefen Widersprüche in der Bruderschaft hinwegsieht.
Aufstand gegen Kolonialherrschaft
Die Muslimbruderschaft hat schätzungsweise hunderttausende Mitglieder und ist überall im Land präsent, auch in so wichtigen Städten wie Alexandria. Es handelt sich nicht um eine kleine terroristische Organisation, sondern um eine große Oppositionsbewegung, die die scharfen Widersprüche in der ägyptischen Gesellschaft zu überbrücken versucht – Widersprüche, die sich aber auch in der Organisation selbst niederschlagen.
Die Bewegung gehört zu Ägypten seit dem Aufstand gegen die Kolonialherrschaft. Sie organisierte Freiwillige für Palästina im Jahr 1948 und nahm am Guerillakampf gegen britische Truppen in der Suezkanalzone teil. Wegen ihres beständigen Schwankens zwischen dem Kolonialregime und der Bewegung dagegen schwand ihr Einfluss aber, bis sie von der aufstrebenden arabisch-nationalistischen Bewegung unter Führung von Gamal Abdel Nasser nach einem missglückten Mordanschlag auf Nasser niedergeschlagen wurde.
Spaltung der Muslimbruderschaft
Die Bewegung erlebte in den 1970er Jahren einen neuen Aufschwung, als Nassers Nachfolger Anwar al-Sadat im Jahr 1977 mit scharfer Unterdrückung gegen einen gescheiterten Aufstand vorging. Sadat benutzte die Bruderschaft, um die weltliche Opposition zu terrorisieren, ehe er sie fallen ließ, um einen Friedensvertrag mit den USA und Israel zu schließen.
Sadats Schwenk führte zu einer tiefen Spaltung in der Bruderschaft. Ein Flügel entfachte eine Terrorwelle, die ihren Höhepunkt in der Ermordung Sadats 1981 auf einer Militärparade fand. Die Bewegung hoffte, dass der Tod Sadats zum Auslöser eines islamischen Aufstands führe. Stattdessen zerschlug der Staat – jetzt unter Husni Mubarak – die Bewegung, tötete tausende Anhänger und warf zehntausende ins Gefängnis.
Zur loyalen Opposition entwickelt
Angesichts der brutalen Repression unter Mubaraks Ausnahmezustand erfand sich der offizielle gemäßigte Flügel neu als loyale Opposition. Die Bruderschaft begann die halb unabhängigen Berufsorganisationen und Studentenverbände zu übernehmen, entwickelte sich so zur gemäßigten Stimme, wurde aber auch Anlaufpunkt für jede Art von Opposition gegen das Regime und den Imperialismus.
Die Führung der Bewegung gehört teils zur Bourgeoisie, zu ihr gehören unter anderem Fabrikbesitzer und Großgrundbesitzer. Ihre politischen Aktivisten stammen aus dem städtischen Mittelstand, mit Ladenbesitzern und Freiberuflern, die von der Korruption und Vetternwirtschaft des Regimes enttäuscht sind. An der Basis haben die Muslimbrüder eine große Anhängerschaft unter den städtischen und ländlichen Armen, die abhängig sind von den Wohlfahrtseinrichtungen der Bruderschaft.
Vorbild AKP
Die Muslimbrüder betrachten sich selbst als Konkurrenz zur Staatsführung und haben sich die türkische AKP, eine islamische Partei, die an der Spitze einer normalen kapitalistischen Regierung steht, zum Vorbild genommen. Trotz dieser Kompromisse blieb die Bewegung verboten. Mubarak fälschte Wahlen und verschloss jeden legitimen Weg zur Macht. Viele Anhänger waren zunehmend frustriert über die Tatsache, dass die einzige Belohnung für ihre Mäßigung Gefängnis für die Führung und scharfe Unterdrückung für die Anhänger hieß.
Diese Widersprüche machen sich bei anderen wichtigen Themen bemerkbar. Die Bruderschaft ist sehr konservativ in der Frauenfrage, hat jedoch eine große Zahl von Frauen in ihren Reihen, die überwiegend in wichtigen Wohlfahrteinrichtungen tätig sind und bei Wahlen Wähler mobilisieren.
Gegen Gewerkschaften, aber für Streikrecht
Die Organisation ist engstens mit Privateigentum und Kapitalismus verbunden. Sie stellte sich gegen die Bauernbewegung, als diese gegen die Rückkehr der alten Großgrundbesitzer kämpfte, und steht Gewerkschaften feindlich gegenüber, weshalb sie nur wenig Einfluss in den Fabriken hat. Ihre Anhänger im Parlament jedoch kämpften für die Ausweitung des Streikrechts und für das Recht auf Bildung unabhängiger Gewerkschaften. Sie gaben der wachsenden Unzufriedenheit in der Arbeiterbewegung auf diese Weise Ausdruck.
In anderen Fragen stehen die Muslimbrüder ziemlich weit rechts: Sie stehen der ägyptischen christlichen Minderheit feindlich gegenüber – zehn Prozent der Ägypter gehören der alten koptischen Kirche an. Und die Muslimbrüder sind ziemlich konservativ in Bezug auf Sexualität, Gleichstellung und andere wichtige soziale Fragen.
Verbindung zur Hamas
Was die westlichen Regierungen und ihre Verbündeten in der Region aber wirklich plagt, sind die Themen Palästina und Imperialismus. Die Bruderschaft hat enge Verbindungen zur Hamas in Palästina und tritt scharf antiimperialistisch auf. Die Grenze zum Gazastreifen wird für jede neue Regierung, die in den kommenden Wochen entstehen könnte, zu einer unmittelbaren und drängenden Krise werden.
Die Muslimbruderschaft kann Gaza nicht mit reiner Rhetorik oder dem Versprechen auf künftige Taten abhandeln. Die Glaubwürdigkeit der Bruderschaft wird in dem Moment in Frage stehen, da sich die Palästinenser an der Grenze zu Gaza versammeln, das Ende der israelischen Belagerung fordern oder auch nur moderate Forderungen nach Lebensmittelhilfe aufstellen.
Wichtige Rolle im Aufstand
In Ägypten sind die Muslimbrüder ein wichtiger Spieler in dem sich zunehmend verschärfenden Revolutionsdrama. Sie haben sich bereit zum Kompromiss gezeigt, als sie nach einer Einheitsregierung riefen, in der Leute wie El Baradei und Figuren aus dem alten Regime wären. Gleichzeitig repräsentieren sie Millionen Arme, und ihre Anhänger spielen ohne Zweifel eine wichtige Rolle bei dem Aufstand.
Sie sind eine Bremse für das Tempo der Ereignisse, während sie eine wichtige Rolle dabei spielen, einen größeren Teil der Bevölkerung zusammenzuschweißen. Für den Imperialismus zählt aber vor allem, dass die Muslimbruderschaft ein gefährlicher Feind ist, der eine direkte Bedrohung für die seit 40 Jahren verfolgte US-Strategie darstellt.
Nasseristen heute
Eine wichtige säkulare Strömung in der ägyptischen Opposition stellen die Nasseristen dar, die sich an der Figur des Anführers der Bewegung der Freien Offiziere orientieren, die 1952 den von den Briten eingesetzten König Faruk stürzten. Als Präsident behielt Nasser in den Jahren 1956 bis 1970 eine harte Position gegen den Imperialismus bei und veränderte Ägypten durch Landreformen und Verstaatlichungen.
Trotz Jahren der Unterdrückung und dem Aufstieg der islamistischen Oppositionsbewegung zum Imperialismus gibt es immer noch viele Anhänger des säkularen ägyptischen Nationalismus in Ägypten. Sie bilden eine kleine, aber wichtige Oppositionsstimme gegen das Regime Mubaraks. Aber sie haben keine Organisation, die der der Muslimbruderschaft oder linken Gruppierungen vergleichbar wäre.
Mutige Stimme gegen Mubarak
Der Einfluss der Nasseristen bleibt jedoch stark. Sie bringen die wichtigste Oppositionszeitung heraus, die zu den mutigsten Stimmen gegen Mubarak gehört. Zu ihnen gehören wichtige Personen, die in der Bewegung für Wandel hohen Bekanntheitsgrad erlangten.
Aber auch die Nasseristen sind von Widersprüchen gezeichnet. Sie sind dem Neoliberalismus absolut feindlich gesinnt, nicht weil sie gegen Kapitalismus sind, sondern weil sie glauben, dass die gesamte Industrie unter Staatskontrolle stehen sollte. Sie unterstützen einige Bauern- und Arbeiterforderungen, aber sie glauben auch, dass die Grenzen dafür bei den Erfordernissen der nationalen Einheit liegen. Somit ist die künftige Rolle, die sie spielen werden recht unklar.
Die Bewegung 6. April
Im Gegensatz dazu entstand die Bewegung 6. April, die zur Entstehung des ägyptischen Aufstands beigetragen hat, aus der Arbeiterbewegung heraus. Sie wurde gegründet, nachdem eine Reihe von Streiks Ägypten im April 2008 erschüttert hatte – vor allem in den Textilfabriken des Nildeltas, in der Stadt Mahalla.
Die Bewegung entstand aus Enttäuschung darüber, dass die Streiks trotz des großen Zuspruchs, den sie in der Bevölkerung fanden, nicht zum Zündfunken einer größeren Rebellion wurden. Viele Berichte stellen sie dar, als ob sie sich vor allem mit Facebook und Twitter beschäftigt. Mit 70.000 Anhängern – nach eigenen Angaben – hat sie jedoch dazu beigetragen, eine ganze Generation zusammenzuschweißen. Sie hat Proteste organisiert und gehört zu einem Online-Nachrichtennetz, das zur wichtigsten Informationsquelle geworden ist.
Ihre Mitglieder – und Gründer – waren Einschüchterung und Gefängnis ausgesetzt. Die Bewegung spielte eine entscheidende Rolle in den ersten Protesttagen, aber es ist nicht klar, ob sie weiterhin eine Führung sein wird. Sie hat sich hinter Mohammed El Baradeis Angebot gestellt, als Unterhändler mit dem Regime zu agieren.
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