Die Revolution hat nicht nur Ägypten verändert, sondern auch die Ägypter. Das Militär und der Westen werden es nicht leicht haben, eine Ordnung wiederherzustellen, von der die Menschen nichts haben. Von Stefan Ziefle
Mubarak ist weg. Was vor wenigen Wochen noch undenkbar erschien, ist nun wahr geworden. Die Menschen feiern auf den Straßen, Demonstranten und Soldaten umarmten sich. Die Freude über den Sturz des Diktators, der das Land 30 Jahre lang mit brutaler Gewalt regiert hatte, ist unbeschreiblich.
Der Oberste Militärrat hat die Macht übernommen. Das ist kein Soldatenrat, kein demokratisches Gremium. Es ist die Versammlung der obersten Offiziere der Armee, die jedes Jahr 1,3 Milliarden Dollar Militärhilfe aus den USA erhalten. Mubarak war einer aus ihrer Mitte. In diesem Militärrat sind all jene Familien vertreten, die sich in den letzten Jahrzehnten das Land unter den Nagel gerissen haben.
Wirtschaftsfaktor Militär
Wenige hundert Familien besitzen 90 Prozent des ägyptischen Privatvermögens. Die meisten haben ihren Besitz erlangt, weil sie Teil der regierenden Militärclique um Mubarak waren. Über 4000 Staatsbetriebe wurden in den letzten Jahren privatisiert – also unter den führenden Militärs verteilt.
Das alles bedeutet nicht, dass sich nichts ändern wird, jetzt, nach dem Sturz Mubaraks. Aber es wird sich nur ändern, weil sich die Masse der Menschen während der Revolution verändert haben. Sie haben ihre Angst verloren. Sie haben ihre Würde und ihr Selbstbewusstsein zurückgewonnen.
Sie wissen nun: Sie sind das Volk und keine Regierung kann gegen sie regieren, wenn sie es nicht zulassen.
Spaltung in der Armee
Auch in der Armee hat sich einiges geändert. Die einfachen Soldaten kommen aus den einfachen Familien des Landes. Sie haben nie von der Korruption der Generäle profitiert. In den letzten Tagen hatten sich die Bilder gehäuft, nicht nur von Verbrüderungen mit den Demonstranten, sondern auch von Übergaben der Waffen. Die Revolution hatte begonnen, die militärische Disziplin zu brechen.
Diese Armee ist im Moment nicht einsetzbar gegen das Volk. Um nicht vollständig die Kontrolle zu verlieren, hat der Militärrat dann am Freitag Mubarak zum Rücktritt gezwungen.
Jetzt beginnt das Lavieren um die Ergebnisse der Revolution. Der Militärrat würde am liebsten einen weiteren aus ihrer Mitte zum Diktator machen, wie zuvor Mubarak und Sadat. Sie wünschten sich, es würde sich möglichst nichts ändern – nicht an ihren politischen Privilegien, nicht an ihrem Reichtum und nicht an der Korruption im Land.
Stabilität oder Demokratie
Und genau das ist es, was die westlichen Regierungen auch wollen. Es müsse ein »Gleichgewicht von Stabilität und Demokratie« gefunden werden, hieß es letzte Woche bei den Außenministern der EU.
Wie das funktionieren soll, ist deren Geheimnis. Stabilität bedeutet, alles bleibt beim alten: Einbindung in die neoliberale Mittelmeerunion mit der EU, enge militärische Kooperation mit den USA und Israel einschließlich freie Fahrt für Kriegsschiffe durch den Suezkanal. Vor allem bedeutet es die Fortführung der Privatisierungen, die Umsetzung der IWF- und Weltbankpolitik.
Wenn die Millionen Ägypter, die die Revolution gemacht haben, demokratisch entscheiden dürfen, dann ändert sich alles. Dann würden die geschätzten 70 Milliarden Dollar Privatvermögen Mubaraks konfisziert – wie auch die restlichen geschätzten 200 Milliarden, die sich Mubaraks Freunde unter den Nagel gerissen haben.
Der Reichtum des Landes würde für die Menschen genutzt werden und nicht zur privaten Bereicherung einer Minderheit. Und Ägypten würde das im Roten Meer geförderte Erdgas nicht zu einem Drittel des Weltmarktpreises an Israel verkaufen. Ohne die Korruption und Selbstbedienung der Eliten müsste kein Ägypter von weniger als drei Dollar am Tag leben, wie es jetzt 40 Prozent der Bevölkerung müssen.
Die Revolution geht weiter
Die Revolution hat zum ersten mal seit Jahrzehnten die Möglichkeit geschaffen, dass die Interessen der Bevölkerung umgesetzt werden können. Aber ob es auch geschieht, wird das Ergebnis der kommenden Auseinandersetzungen sein.
Die Proteste sind erst einmal vorbei, der Tahrir-Platz ist geräumt. Die Menschen gehen wieder zur Arbeit, Normalität scheint eingekehrt. Aber die Veränderung, die im Kampf mit den Menschen geschehen ist, wird nicht plötzlich verschwinden.
In den Betrieben werden unabhängige Gewerkschaften gegründet. Oppositionsgruppen haben bereits ein Komitee zur Verteidigung der Revolution geschaffen, das weitere Aktivitäten organisieren soll, wenn es erforderlich ist. Schon protestieren Polizisten vor dem Innenministerium und verlangen einen Prozess gegen ihren obersten Dienstherrn.
Wie ein Demonstrant bei der Feier nach Mubaraks Sturz sagte: »Wir gehen morgen wieder nach Hause. Aber wir kennen nun den Weg zum Tahrir-Platz.«
Bewegung im arabischen Raum
Die Revolution hatte nicht nur Auswirkungen auf Ägypten und die Ägypter. Mubaraks Rücktritt ermutigt die Bewegung in Tunesien. Diese hatte zwar bereits vor drei Wochen ihren Diktator Ben Ali gestürzt. Aber die Forderungen der Bewegung sind bei weitem noch nicht erfüllt und die Auseinandersetzungen gehen weiter.
Wenn es möglich war, Mubarak in Ägypten zu Fall zu bringen, dann ist alles möglich, dann ist kein Diktator auf der Welt sicher. Die Proteste in Algerien haben bereits neuen Schwung bekommen. Im Jemen, in Jordanien und sogar in Syrien hat es in den letzten Wochen Proteste gegeben. Die Aktivisten dort werden sich sicher auch ermutigt fühlen.
Seit Beginn der Bewegung versuchten Teile der westlichen Medien, und besonders Außenminister Westerwelle, Angst vor der angeblichen Gefahr des Islamismus zu schüren. Aber die Revolution in Ägypten hat vor allem auch das Bild geändert, dass viele hier im Westen von der arabischen Welt hatten.
Schon 2003 hatten die Ägypter in Opposition zu Mubaraks Folterpolizei auf dem Tahrir-Platz gegen den Irak-Krieg demonstriert. Es folgten große Streiks in der Textilindustrie 2006 und Unruhen gegen steigende Lebensmittelpreise 2008. Alles Vorläufer des ägyptischen Revolution, die im Westen weitgehend unbemerkt blieben.
Ägypter schreiben Geschichte
In den letzten Wochen aber sind die rassistischen Klischees von fanatischen Muslimen oder unterwürfigen Rückständigen für jeden sichtbar mit einer Wirklichkeit konfrontiert worden, die zeigt: Ägypter sind Menschen wie du und ich, sie haben Hoffnungen und Wünsche, die wir alle nachvollziehen können. Und sie haben Geschichte geschrieben.
Die israelischen Medien sind auf der verzweifelten Suche nach antisemitischen Symbolen in der ägyptischen Massenbewegung – bisher vergebens. Nun zeigt sich, dass die Unterstützung des Diktators und Folterers Mubarak nicht erforderlich war, um das Überleben von Juden im Nahen Osten zu garantieren. Die »einzige Demokratie in der Region«, wie sie sich selbst gerne nennt, war es vor allem deswegen, weil sie Diktaturen in den Nachbarländern unterstützt hat.
Wie sich das Verhältnis zwischen Ägypten und Israel weiter entwickeln wird, ist noch unklar. Klar ist lediglich, dass die Unterstützung Mubaraks durch Israel, und andersrum, die Unterstützung Israels durch Mubarak, eine schwere Hypothek ist. Jede kommende ägyptische Regierung wird Schwierigkeiten haben, sich weiter an der Unterdrückung der Palästinenser direkt zu beteiligen, wie es das Regime Mubarak getan hat. Aber klar ist auch, dass ein ägyptischer Angriff gegen Israel nicht vor der Tür steht.
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