Von Athen bis London – überall in Europa wird gegen Sozialabbau demonstriert. Trotzdem gehen die Kürzungen weiter. Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Alex Callinicos über die Eurokrise – und darüber, weshalb Angela Merkel im Ausland so unbeliebt ist.
Zum Text: Der Artikel ist eine Veröffentlichung aus marx21, Heft 19, Februar/März 2011. Hier die aktuelle Ausgabe als Einzelheft bestellen (3,50 plus Porto) oder marx21 abonnieren bzw. das Jahresabo-Angebot nutzen. Wer marx21 bisher noch nie bestellt hat, kann ein kostenloses-Probeheft ordern (im Abo-Formular in der Drop-Down-Liste »Art des Abonnements wählen« die Option »Ich will eine Ausgabe von marx21 kostenlos testen« auswählen)
marx21: Alex, vor Weihnachten wurde in den deutschen Medien über die Proteste der britischen Studierenden berichtet. Wir konnten im Fernsehen sehen, wie sie die Parteizentrale der Konservativen gestürmt und das Auto von Prinz Charles mit Farbe beschmiert haben. Obwohl über Wochen Zehntausende auf der Straße waren, hat die Regierung die umstrittene Erhöhung der Studiengebühren durchs Parlament gebracht. Ein verlorener Kampf?
Alex Callinicos: Noch nicht. Die Regierung hat zwar ihre zentralen Vorhaben durchgestimmt: die Verdreifachung der Studiengebühren und die Streichung von Geldern für Kinder aus armen Familien. Doch die Parlamentsabstimmung ist das eine, die reale Auseinandersetzung auf der Straße etwas anderes. Die Studierendenbewegung wurde durch die Weihnachtsferien gestoppt, nicht durch die Abstimmung. Jetzt versuchen die Aktivisten, die Proteste wieder aufleben zu lassen. Größere Aktionstage sind geplant.Ein zentraler Faktor dabei wird das Verhalten der Gewerkschaftsführungen sein. Sie erkennen durchaus, dass das Reformpaket der konservativ-liberalen Regierung auch an die Substanz ihrer Bewegung geht. Gerade der öffentliche Dienst ist erheblich von Entlassungen und Sparmaßnahmen bedroht. Deshalb soll es am 26. März eine Großdemonstration geben – das ist zwar Monate nach Verabschiedung der Kürzungen, aber immerhin. Den meisten Gewerkschaftern ist jedoch klar, dass die geplanten Aktionen in keinem Verhältnis zu den Angriffen stehen. Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes sprechen deshalb von koordinierten Streiks.
Nun behauptet aber eure Regierung, die Mehrheit der Briten unterstütze ihren Kürzungskurs. Das Gleiche sagt übrigens auch die griechische Regierung über ihre Bevölkerung.
Für Großbritannien trifft das sicher nicht zu und auch für Griechenland bezweifle ich es sehr. Der Unmut bei uns ist sehr groß. Die Maßnahmen haben im Wahlkampf keinerlei Rolle gespielt. Die Regierung hat also keinerlei Mandat für den größten Sozialabbau seit dem Zweiten Weltkrieg. Das spiegelt sich auch in den Umfragen.
Die Sozialdemokratie feiert derzeit ein Comeback. Und das, obwohl der Vertrauensverlust der Blair-Brown-Ära sehr tief sitzt. Labour hat gerade eine wichtige Nachwahl in einem Wahlkreis gewonnen – und dabei dort mehr Stimmen erzielt als beim Erdrutschsieg 1997, als Tony Blair Premierminister wurde.
In verschiedenen europäischen Ländern gab es zuletzt größere Bewegungen gegen die Kürzungspolitik der jeweiligen Regierungen. Aber nirgendwo konnten die Angriffe gestoppt werden. Was ist los? Sind die Regierungen zu stark, die Bewegungen zu schwach?
Ich denke, mit Ausnahme von Silvio Berlusconi hält sich kaum ein Regierungschef für besonders stark. Überhaupt scheinen mir die europäischen Machthaber vor allem eins zu sein: stark unter Druck. Nehmen wir die sozialdemokratischen Regierungen in Griechenland und Portugal. Ihnen sitzen die Finanzmärkte im Nacken. Dort wird darauf spekuliert, dass die beiden Länder in den Staatsbankrott gehen.
Das verleitet die Regierungen zu immer schärferen Einschnitten – egal, wie viel politisches Kapital sie dabei verbrennen. George Papandreou und José Sócrates halten ihre eigene Politik nicht für populär, aber sie meinen, sie sei alternativlos. Sie waren mit einer Kritik am Neoliberalismus angetreten, jetzt betreiben sie Beschwichtigungspolitik gegenüber den Finanzmärkten. Strukturell wird dieser Druck in den EU-Staaten durch eine Troika organisiert: EU-Kommission, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfond. Das sind drei Schwergewichte der kapitalistischen Struktur, die natürlich erheblichen Einfluss auf kleinere Regierungen ausüben können, damit diese »standhaft« bleiben. Der Gegendruck von unten muss schon sehr groß sein, um diese Regierungen zu einem Kurswechsel zu zwingen. Offensichtlich haben die Bewegungen in den einzelnen Ländern dieses Niveau noch nicht erreicht – auch in Griechenland nicht.
Anders gelagert ist die Situation zum Beispiel hier in Großbritannien. Die Koalition steht kaum unter Druck der Märkte und hat keine Probleme, sich in der Welt Geld zu leihen, um das Staatsdefizit zu finanzieren. Hier sind die Angriffe im Wesentlichen ideologisch motiviert. Auf der Regierungsbank sitzen eingefleischte Wirtschaftsliberale, die die Krise als Gelegenheit begreifen, den Sozialstaat stärker und schneller abzubauen, als es in wirtschaftlich normalen Zeiten denkbar wäre.
Die Meldungen über den Tod des Neoliberalismus waren also verfrüht. In der Europäischen Union hat sich die globale ökonomische Krise unter anderem in eine Krise der Staats- und Staatsschuldenfinanzierung umgewandelt, die jetzt mit den altbekannten neoliberalen Instrumentarien angegangen wird.
Bei Protesten in Portugal und Griechenland wurden Deutschlandflaggen verbrannt – viele Menschen dort machen die Regierung Merkel für den Absturz ihrer Länder verantwortlich. Zu Recht?
Zuerst einmal tragen natürlich die Regierungen vor Ort die Verantwortung. Die irische Regierungspartei Fianna Fáil hat zum Beispiel jahrelang zur Immobilienspekulation ermuntert und die Rahmenbedingungen für eine Blase geschaffen, die jetzt mit einem großen Knall geplatzt ist und die Banken in den Abgrund gerissen hat.
Dennoch ist die Politik der deutschen Regierung, und zwar nicht erst seit Angela Merkel, ein großes Problem für andere Länder. Die deutschen Herrschenden haben alles darangesetzt, eine Exportökonomie mit hoher Produktivität und niedrigen Löhnen zu schaffen. Das war so erfolgreich, dass andere EU-Länder von der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft an die Wand gedrückt werden – nicht nur die schwächeren Ökonomien wie Griechenland und Portugal, sondern auch Länder wie Frankreich und Spanien. Im Normalfall würde einem solchen Ungleichgewicht mit Auf- beziehungsweise Abwertung der jeweiligen Währungen begegnet. Das ist im gemeinsamen Währungsraum aber nicht möglich.
Die Krisenstrategie der deutschen Herrschenden zielte darauf ab, diesen Wettbewerbsvorteil beizubehalten und wenn möglich auszubauen – auch weil sich die chinesische Industrie perspektivisch mehr und mehr in Sektoren vorwagt, die von deutschen Unternehmen dominiert werden. Deshalb werden die anderen EU-Länder »auf Linie gebracht«, was im wesentlichen Haushaltsdisziplin bedeutet, um den Euro nicht zu gefährden. Das Problem ist, dass eben wegen der Wettbewerbsstärke der deutschen Industrie schwer abzusehen ist, wie ein Land wie Griechenland jemals aus der Sparpolitik rauskommen soll. Es ist nicht anzunehmen, dass Athen über Nacht eine starke Exportindustrie aufbaut und die deutschen Firmen aus dem Rennen wirft.
Ein Bestseller in Deutschland heißt »Rettet unser Geld«. Es stammt von Hans-Olaf Henkel, ehemals Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Henkel schlägt dort vor, die Eurozone zu spalten – in einen starken »Nordeuro« und einen schwachen »Südeuro« für die Mittelmeerländer. Wird so etwas passieren?
Die Diskussion, die Henkel aufmacht, ist ein ganz alter Hut. In der Konzipierung der Währungsunion war die deutsche Haltung immer, eine Kernunion der stärksten Ökonomien zu bilden und Länder wie Griechenland nicht aufzunehmen. Die EU in der jetzigen Form hat Frankreich durchgesetzt, weil sich die dortigen Herrschenden erhofften, durch eine höhere Mitgliederzahl den deutschen Einfluss besser eindämmen zu können. Dieses Kalkül gilt nach wie vor, vor allem jetzt, wo sich Frankreichs Wettbewerbsposition gegenüber Deutschland ständig verschlechtert und die Bundesregierung weitaus dominanter auftritt als noch vor ein paar Jahren. Ich denke, Frankreichs Machthaber würden sich mit Händen und Füßen gegen eine Aufsplittung der Eurozone wehren. Auch für die deutsche Regierung wäre ein solches Vorhaben hochriskant – zum einen wirtschaftlich, weil Exporte nach der erwartbaren Aufwertung des »Nordeuro« teurer würden. Zum anderen politisch, weil aus der Auskopplung einzelner Länder aus der Währungsunion schnell eine Krise der gesamten EU und ihrer Institutionen werden könnte. Die EU ist das Herzstück der ökonomischen und politischen Strategie der deutschen herrschenden Klasse seit den 1950ern Jahren und wird von dieser bestimmt nicht leichtfertig aufgegeben. Dass aber überhaupt eine solche Diskussion öffentlich geführt wird, zeigt, wie tief die Krise ist.
Parteien und Organisationen links von der Sozialdemokratie haben sich in Europa in den letzten Jahren sehr unterschiedlich entwickelt. Sind trotzdem irgendwelche Trends auszumachen?
Ehrlich gesagt, war die Antwort der radikalen Linken auf die Krise über Ländergrenzen hinweg recht schwach. Den meisten Kräften fehlt schlichtweg die soziale Verankerung, die notwendig wäre, Großes in Bewegung zu setzen. Hinzu kam, dass die Situation verwirrend war: Es sah nach der Pleite der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers so aus, als wäre das neoliberale Projekt völlig am Ende. Selbst die Regierung Bush hat in dieser Situation zu keynesianischen Maßnahmen gegriffen – also staatlich interveniert bis hin zur Bankenverstaatlichung. Linke, die über Jahrzehnte staatliche Kontrolle des Marktes gefordert hatten, wurden von dieser Wende überrascht. Sie hatten dann Probleme, eine radikale Agenda zu entwickeln und sie vor allem hörbar zu machen.
Jetzt ist die Situation etwas einfacher. Die beherrschenden Themen in fast allen europäischen Ländern sind die Kürzungsmaßnahmen der jeweiligen Regierungen und der Widerstand dagegen. Staatsintervention findet noch statt, aber im Hintergrund. Dominierend sind die altbekannten Fragen von Lohnkürzungen und Sozialabbau.
In dieser Situation kann die Linke auf zwei Ebenen vorankommen: zum einen als Mitorganisator des Widerstands. Zum anderen kann sie in eine riesige Lücke stoßen, die die Herrschenden hinterlassen haben. Allen Ankündigungen zum Trotz haben sie keinerlei Konsequenzen aus der Krise gezogen. An den Märkten geht es genau so weiter wie bisher. Die Mehrheit der Menschen ist aber der Meinung, dass es kein »Weiter so!« geben kann. Hier kann die europäische Linke mit einer antikapitalistischen Programmatik Gehör finden.
(Die Fragen stellte Stefan Bornost)
Zur Person:
Alex Callinicos ist Professor für Europäische Studien am King’s College in London und Mitglied der Socialist Workers Party. Er ist Autor unter anderem von »Ein Anti-Kapitalistisches Manifest« (VSA-Verlag 2004) und »Die revolutionären Ideen von Karl Marx« (Neuer ISP-Verlag 2005).