Das Attentat von Orlando ist eine Tragödie. Doch im Gegensatz zu anderen Massenschießereien in den USA wird der Anschlag von Orlando bereits benutzt, um die Schuld auf den Islam zu schieben – und damit auf alle Muslime. Nicole Colson berichtet aus den USA über die Welle der Solidarität für die Opfer der Massenschießerei – und die Notwendigkeit, der rassistischen Anschuldigung Einhalt zu gebieten.
Worte alleine reichen nicht aus, um das Gefühl zu beschreiben, das herrschte, als die Nachricht von der verheerendsten Massenschießerei der modernen US-Geschichte die Runde machte. In den frühen Morgenstunden des 12. Juni hatte der 29-jährige Schütze Omar Mateen 3 Stunden lang im Pulse, einem beliebten LGBT-Nachtclub in Orlando, Florida, gemordet (LGBT steht für Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle). Als er sich schließlich selbst das Leben nahm, waren 49 Menschen tot und mindestens 53 weitere verletzt – ein Drittel aller Menschen, die sich im Club aufgehalten hatten.
Reaktionen auf das Massaker von Orlando
Die Reaktionen waren unmittelbar und überwältigend. Inmitten von Schrecken und Trauer machten sich Tausende in Orlando und andernorts auf, um Blut zu spenden (entgegen Vorgaben der US-Regierung, die homo- und bisexuellen Männern untersagen, Blut zu spenden) oder anderweitig jede mögliche Hilfe anzubieten. Landesweit fanden in der Nacht des erschütternden Verbrechens Mahnwachen statt, mancherorts mit Dutzenden, mancherorts mit Hunderten Menschen – jedoch stets mit einer nüchternen Entschlossenheit, sich jedem Hass entgegen zu stellen. Vielfach kämpfte die muslimische Community in erster Reihe gegen die rechte Version der Dinge, die bereits Gestalt annahm, mit nur einer Bitte: Macht aus einer schrecklichen Tragödie keinen Vorwand für Islamhass – wir sind keine Sündenböcke.
Handelte Mateen im Auftrag des IS?
Verständlicherweise war die drängendste Frage in den Köpfen der meisten, wie man nur eine so schreckliche Tat begehen kann. Und einzelne Akteure sowie Organisationen mit kriegstreiberischen und rassistischen Hintergedanken hatten sofort eine Antwort parat. Sie führten die von den Medien dankbar aufgegriffene These ins Feld, dass Mateen – wohnhaft in Port St. Lucie in Florida, geboren in New York City von aus Afghanistan eingewanderten Eltern – Verbindungen zum »islamistischen Terrorismus« hatte.
Die Polizei gab an, Mateen sei auf den Angriff gut vorbereitet gewesen, ausgestattet mit einem Sturmgewehr des Typs AR-15. Aussagen zufolge war er von G4S Secure Solutions, einer der größten Firmen für Söldner und Sicherheitskräfte der Welt, als Wärter in einem Jugendgefängnis beschäftigt gewesen. Er hatte eine Erlaubnis zum Führen von Feuerwaffen und hatte in der vergangenen Woche legal eine Handfeuerwaffe sowie eine weitere Waffe erworben, bislang ist allerdings nicht geklärt, ob es sich dabei um dieselben Waffen handelte, die bei dem Angriff eingesetzt wurden. Fotos von Mateen in sozialen Netzwerken zeigen ihn, wie er in Hemden mit Logos der New Yorker Polizei (NYPD) posiert.
Als dieser Artikel verfasst wurde, war noch unklar, inwieweit Mateen Verbindungen zu reaktionären Organisationen wie dem Islamischen Staat (IS) hatte. Ordnungskräfte gaben an, dass er direkt vor dem Angriff in Orlando den Notruf 911 angerufen und dem Führer des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, seine Treue geschworen und außerdem die Zarnajew-Brüder erwähnt hatte, die 2013 den Bombenanschlag auf den Boston Marathon verübt hatten. Aber aktuell gibt es allerdings keine Beweise dafür, dass Mateen vom IS gesteuert worden wäre.
Neue lückenhaften Theorien der »Terrorexperten«
Die Theorie, die nun propagiert wird, ist der neueste Schrei unter »Terrorexperten« – Mateen hätte sich »selbst radikalisiert« und sei eine isolierte Person gewesen, die sich von der fundamentalistischen Ideologie und Gewalt angezogen gefühlt und auf dieser Grundlage gehandelt hätte. Diese Theorie allerdings ist lückenhaft. Laut Mateens Ex-Ehefrau hatte er sich ihr gegenüber in der Zeit, in der sie zusammen gelebt hatten, gewalttätig verhalten und sie misshandelt. Sie gibt weiterhin an, er sei nicht besonders religiös gewesen und hätte keinerlei Anlass zur Annahme gegeben, er hätte sich einem radikalen Islamismus zugewandt. Ein Freund hatte der Washington Post gegenüber angegeben, Mateen sei nach seiner Scheidung und seiner Pilgerfahrt nach Saudi-Arabien gläubiger geworden, hätte jedoch keinerlei Sympathien für den IS oder andere terroristische Vereinigungen zum Ausdruck gebracht.
Der Imam der Moschee, die Mateen besuchte, Shafiq Rahman, gab Reportern gegenüber an, Mateen sei »sehr ruhig« gewesen, er hätte »nie mit jemandem geredet« und auch nicht um spirituelle Anleitung ersucht. Rahman betonte mehrfach, dass gewalttätige Ideologien keinerlei Platz in der Moschee hätten. Bundesbehörden legten offen, dass es gegen Mateen bereits zwei Ermittlungen des FBI gegeben hatte, 2013 und 2014, diese jedoch keine Beweise erbracht hätten, die für eine Anklage ausgereicht hätten.
Hass auf Homosexuelle
Nach den Morden gab sein Vater Mir Seddique gegenüber NBC News an, der Amoklauf hätte »nichts mit Religion« zu tun gehabt, sondern sei Ausdruck der fanatischen Reaktion seines Sohns darauf gewesen, dass er zwei Männer beobachtet hatte, die sich küssten. Dies stützt die Aussage eines ehemaligen Arbeitskollegen, Daniel Gilroy, der laut New York Times angegeben hatte, Mateen hätte oft darüber gesprochen, Menschen zu töten und regelmäßig rassistische und fanatische Schimpfworte benutzt.
Das Massaker von Mateen wird vielfach als eine »Wahnsinnstat« bezeichnet – was ignoriert, dass geistig Erkrankte wesentlich häufiger Opfer von Gewalt werden, als sie sie selbst anwenden – und doch ist klar, dass sein Handeln in einer Gesellschaft verwurzelt ist, die von Fanatismus und Hass geradezu trieft. Unabhängig von seinen Verbindungen zu Terrorgruppen, sofern es solche gibt, ging Mateens Wut – woher auch immer sie genau gekommen sein mag – in einer giftigen Gewaltmasse auf, die in einem Blutbad mündete.
Nach Orlando: Reaktionen der muslimischen Community
Im Gegensatz zu anderen Massenschießereien in den USA wird der Anschlag von Orlando jedoch bereits benutzt, um die Schuld auf den Islam zu schieben – und damit auf alle Muslime. Führende muslimische Größen und Organisationen reagierten in Erwartung einer Welle der Islamophobie mit entschiedener Verurteilung. »Wir verurteilen diesen ungeheuerliche Anschlag und möchten den Familien und Angehörigen aller Toten und Verletzten unser tiefstes Beileid ausdrücken«, so Rasha Mubarak, regionaler Koordinator des Council on American-Islamic Relations, in einer Presseerklärung. »Die muslimische Community schließt sich unseren amerikanischen Mitbürgern an und weist jede Person oder Gruppe entschieden zurück, die eine solch schreckliche Gewalttat rechtfertigen oder entschuldigen möchte.«
Es sollte sich von selbst verstehen, dass die Taten einer Einzelperson, religiös oder nicht, keineswegs repräsentativ für alle 1,6 Milliarden Muslime weltweit oder die 3,3 Millionen Muslime in Amerika sind. Allerdings sorgt das politische Klima in den USA dafür, dass einige Prominente versuchen werden, ihnen eine kollektive Schuld zuzuweisen.
Wie Rechte nach dem Orlando-Attentat den Hass auf den Islam schüren
Die wohl vorhersehbarste Reaktion kam von Donald Trump, dem voraussichtlichen Nominierten der Republikaner für die Präsidentenwahl, der Fanatismus, Islamophobie und schamlosen Opportunismus zu den Markenzeichen seiner Kampagne gemacht hat. Stunden nach dem Massaker in Orlando lauteten Posts von Trump in sozialen Netzwerken unter anderem: »Danke dass ihr mir gratuliert weil ich Recht hatte, was radikalen islamischen Terrorismus angeht, ich will keine Glückwünsche, ich will Härte und Wachsamkeit. Wir müssen schlau sein!« und »Wird Präsident Obama endlich die Worte ‚radikal-islamischer Terrorismus‘ aussprechen? Wenn nicht, sollte er direkt in Schande abdanken!«.
In einer längeren Stellungnahme seiner Kampagne legte Trump noch einmal nach bezüglich seines Aufrufs Ende 2015, Muslime nicht mehr in die USA einreisen zu lassen – ungeachtet der Tatsache, dass Mateen in genau der Stadt geboren ist, die Trump sein Zuhause nennt. Trump weiter: »Seit dem 11. September waren hunderte Migranten und ihre Kinder in den USA in Terrorismus involviert.« Dabei handelt es sich um eine glatte Lüge, die jedoch zweifelsfrei zu Gewalt und Selbstjustiz gegen Muslime führen wird, »ihre Kinder« eingeschlossen.
Auch Hillary Clinton nutzt das Orlando-Attentat für ihren Wahlkampf
Im Vergleich dazu klang Hillary Clinton ein wenig menschlicher in ihrer Reaktion auf die Morde. Sie konnte es jedoch nicht lassen, das Massaker als politische Chance zu nutzen, indem sie nicht nur ohne jeden Beweis die Verbindung zu Terrorismus herstellte, sondern auch ihr Vertrauen in den »Krieg gegen den Terror« zum Ausdruck brachte und versprach, »Versuche, Menschen hier und überall auf der Welt zu rekrutieren« zu unterbinden und »unsere Verteidigung hier im eigenen Land zu verstärken«.
Bernie Sanders schwache Reaktion
Sogar Bernie Sanders, der linke Kandidat der Demokraten für die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten, von dem viele gehofft hatten, er würde eine neue Perspektive zum Thema Orlando beitragen, konzentrierte sich auf Waffengesetze und die »Vernichtung des IS« – und ließ nichts dazu verlauten, dass Hass auf Homosexuelle abgewehrt und gegen die Dämonisierung von Muslimen angekämpft werden müsste.
Die Heuchelei der rechten
Im Kern des Massakers von Orlando steckt eine unangenehme Realität, mit der sich die wenigsten medialen Kanäle und Politiker beschäftigen wollen: die Art und Weise, wie das Gift des Fanatismus in Gewalt ausschlägt – besonders in einer Gesellschaft, in der tödlichste Waffen einfach erhältlich sind. Als Beispiel kann Marco Rubio dienen, der erfolglos für die Nominierung der Republikaner angetretene Senator aus Florida. Rubio sorgte für Schlagzeilen, als er beklagte, dass LGBT-Menschen in Orlando angegriffen wurden da »in der radikal-islamischen Community gewisse Ansichten über die homosexuelle Community bestehen«, wie er CNN gegenüber angab.
Ein Zuhörer könnte annehmen, dass Rubio sich um die Rechte der LGBT-Community sorgt. Das tut er jedoch nicht. Rubio und zahlreiche andere Politiker in Florida wollen die Rechte von LGBT-Menschen einschränken – oftmals auf der Grundlage ihrer eigenen fundamentalistischen Religiosität, auch wenn es sich dabei um eine christliche handelt. Rubio ist nicht nur Gegner der gleichgeschlechtlichen Ehe, er befürwortet auch das »Recht« von Unternehmen darauf, LGBT-Menschen im Sinne »religiöser Freiheit« zu diskriminieren. Das Adoptionsrecht für LGBT-Eltern bezeichnete er in der Vergangenheit bereits als »soziales Experiment«. Und Rubio engagierte sich im Rahmen von Spendensammlungen für das Florida Family Policy Council, eine rechtskonservative Organisation, in der Homosexualität als »Geisteskrankheit« eingestuft wird und die für LGBT-Menschen eine »wiederherstellende Therapie« empfiehlt.
Die rechte Solidarität mit der LGBT-Community ist geheuchelt. Gerade aus der Partei der Republikaner kamen in den letzten Monaten immer wieder hysterische Angriffe auf LGBT-Menschen, beispielsweise als Mitglieder der Partei von einer angeblichen Bedrohung sprachen, wenn LGBT-Menschen, die Toiletten gemäß dem Geschlecht nutzen, mit dem sie sich identifizieren.
Obama kritisiert die Waffengesetze und schweigt über die unerbittliche Gewalt der US-Machtinstanzen
Barack Obama seinerseits gab in einer Pressekonferenz nach der Schießerei an, es sei ein »Akt des Hasses« gewesen. »Und wir als Amerikaner stehen vereint für die Entschlossenheit, unser Volk zu beschützen.« Dabei war genau Omar Mateen »unser Volk« – ein Amerikaner, dessen Meinung von LGBT-Menschen gründlich durch Fanatismus verzerrt war, ungeachtet des Auslösers. Im Rahmen seiner Pressekonferenz sprach Obama folgende Warnung aus: »Dieses Butbad ist (…) eine weitere Erinnerung daran, wie einfach es ist, einfach so an eine Waffe zu kommen, mit der man in einer Schule, einem Gebetshaus, einem Kino oder einem Nachtclub einfach Menschen erschießen kann.«
Allerdings hinterfragt Obama nicht die unerbittliche Gewalt, die amerikanische Machtinstanzen sowohl außergerichtlich als auch staatlich ermächtigt gegen die Unterdrückten im eigenen Land und weltweit ausüben – sei es in Form von Bomben, die im Ausland abgeworfen werden, oder in Form ungezügelter Polizeigewalt und Gewaltausübung durch Gefängniswärtern wie, genau, Omar Mateen. Diese Art der Gewalt liegt fest verankert im Fundament der US-amerikanischen Gesellschaft. Selbst wenn Mateen seinen Massenmord im Namen eines pervertierten Verständnisses muslimisch-religiöser Doktrin begangen hätte, so wäre dies keine Entschuldigung dafür, die dominante Ideologie anzunehmen, die von akademischen und politischen Eliten über einen »Kulturkampf« zwischen westlichen Gesellschaften und denen des mittleren Ostens gesponnen wird.
Reaktionäre Organisationen wie der IS können durch die Förderung dieses Konflikts nur gewinnen. Tatsächlich richteten sich seine Anschläge des vergangen Jahrs in Paris sowie des laufenden Jahres in Brüssel nicht in erster Linie gegen diejenigen, die Macht oder staatliche Gewalt ausüben. Die Anschläge, die vom IS inszeniert wurden – wobei erneut zu sagen ist, dass es bisher keinerlei Beweise für eine Verbindung von Mateen zum IS gibt – dienen dazu, Islamophobie zu provozieren und Muslime letztlich davon abzubringen, auf ein friedliches Dasein im Westen zu hoffen.
Eine Alternative zu Hass und Fanatismus
Es gib eine Alternative zu Hass und Fanatismus. In vielen Städten des gesamten amerikanischen Kontinents, von San Francisco bis New York und darüber hinaus, gingen viele Menschen spontan auf die Straße, um der Opfer zu gedenken und zu beraten, was nun zu tun ist. In New York City fanden sich um die 400 Menschen am Stonewall Inn ein – der historischen Geburtsstätte des Freiheitskampfes der LGBT-Menschen. »Kein Hass!« und »Orlando, wir stehen hinter euch!« wurden skandiert. Eine junge homosexuelle Muslima erzählte der Menschenmenge: »Ich erlebe Menschen, die auf der Straße rufen ‚bringt alle Muslime um‘. Ich bin in dieses Land gekommen, um sicher zu sein, und ich habe in dieser Community, der LGBT-Community, Sicherheit gefunden. Wir müssen uns diese Liebe erhalten. Ereignisse wie dieses lassen sich nicht dadurch verhindern, dass wir den Hass noch steigern.«
Der US-Autor Steven W Thrasher, der von National Lesbian and Gay Journalists Association[Nationalen Vereinigung lesbischer und schwuler Journalisten] als Journalist des Jahres 2012 ausgezeichnet wurde, schreibt: »Terrorismus funktioniert, weil er Menschen Angst vor anderen Menschen macht. Lasst uns diesmal verhindern, dass er funktioniert. Wir müssen der Angst widerstehen, wie unsere Vorfahren im Stonewall.«
Zum Text: Veröffentlicht zuerst auf socialistworker.org. Dieser Artikel entstand unter Mitwirkung von Sean Larson. Übersetzung ins Deutsche von Marion Wegscheider.
Foto: tedeytan
Schlagwörter: Amoklauf, Anschlag, Attentat, Barack Obama, Donald Trump, Hillary Clinton, Homophobie, Islam, Islamhass, marx21, Republikaner, Sozialismus, Terror, Terrorismus, USA, Waffen