Derzeit bemüht sich die britische Regierung um ein UN-Mandat für eine Flugverbotszone über Libyen. Die US-Regierung schließt den Einsatz von Bodentruppen nicht aus. Paul Grasse bestreitet, dass eine Flugverbotszone den Aufständischen nützt. Er meint, dass im Interesse der Bewegungen im Nahen Osten jede militärische Intervention verhindert werden muss
Die Stimmen aus Libyen sind widersprüchlich. Zwar zitieren viele Medien Libyer, die eine Flugverbotszone fordern, aber es gibt keine offizielle Vertretung des Widerstandes, die um die militärische Hilfe des Westens bittet. Laut Frankfurter Rundschau hat die »neue politische Führung« des Ostens Libyens (wer auch immer das sein mag) kein Interesse an einem militärischen Eingreifen des Westens. Die libysche »Verfassungs-Union« warnt vor einer militärischen Intervention, weil diese genau den Plänen der US-Regierung entsprechen würde. Alle vermeintlichen Oppositionssprecher betonen, dass keiner von ihnen je direkt von westlichen Regierungen kontaktiert worden ist.
Jede Flugverbotszone wird militärisch durchgesetzt, ansonsten wäre sie wirkungslos. US-Verteidigungsminister Gates hat mit bemerkenswerter Offenheit festgestellt: »Eine Flugverbotszone beginnt mit dem Angriff auf Libyen, um die Flugabwehr zu zerstören.« Die jüngere Geschichte hat gezeigt, dass ein Flugverbot und seine Durchsetzung fast zwangsläufig einen Krieg nach sich ziehen. Die am 2. März aus »Personalfürsorgegründen« erfolgte Schließung der deutschen Botschaft in Tripolis kann als Kriegsvorbereitung verstanden werden.
Bewaffnete Fallschirmspringer
Selbst ohne die Einrichtung einer solchen Flugverbotszone sind verschiedene Staaten bereits dabei, militärische Missionen ins Land zu schicken. So sandte die Bundesregierung unter Umgehung des Bundestags Flugzeuge mit bewaffneten Fallschirmspringern an Bord nach Libyen, um deutsche Staatsbürger auszufliegen. Zwei britische Hercules-Maschinen evakuierten Ölarbeiter. Ein Einsatz britischer Kommandosoldaten flog auf, wie auch ein holländisches Team, das von libyschen Regierungstruppen festgesetzt wurde. Über die Bewaffnung libyscher Bürgerkriegsparteien als Alternative zu einem Angriff wird vor allem in der US-Regierung laut nachgedacht, auch die Entsendung von bewaffneten Zellen ist eine Option.
Jedes weitere militärische Eingreifen des Westens würde Gaddafi politisch stärken, weil dadurch seine Anschuldigungen, der Aufstand sei vom Westen gesteuert, untermauert würden. Die Opposition würde die Initiative verlieren und der Befreiungskampf würde sich auf die Erwartung von Luftschlägen durch die NATO reduzieren. Stattdessen hat es sich als Erfolg versprechend erwiesen, daran zu arbeiten, dass regierungstreue Truppen zu den Aufständischen überlaufen, die ihre militärischen Kenntnisse an die Zivilisten weiter geben können. Das ist bereits in vielen Fällen geschehen.
Türöffner für UN-Mandat
Derzeit scheut sich die NATO davor, ohne Mandat der UN einzugreifen. Ein Türöffner könnte das Welternährungsprogramm WFP (World Food Programme) sein: Schon für die Antipiratenmission Atalanta vor dem Horn von Afrika war ein Angriff auf ein WFP-Schiff der Vorwand für ein militärisches Eingreifen in einem Gebiet, das mittlerweile bis an die Seychellen heran reicht. Am 4. März vermeldeten Nachrichtenagenturen bereits, dass ein WFP-Schiff mit 1000 Tonnen Weizenmehl vor der libyschen Küste abdrehen musste. Gründe wurden nicht angegeben, und ebenso wenig ist klar, ob es überhaupt eine humanitäre Katastrophe innerhalb Libyens gibt. Am gleichen Tag bestätigte eine Depesche des Auswärtigen Amtes, dass die Lage in Bengasi stabil sei und humanitäre Organisationen vor Ort arbeiten können. Die UN hat laut derselben Depesche keine Präsenz in Libyen und kann so auch nicht wissen, ob es einen humanitären Notstand gibt.
Bei einer Schwäche der Rebellen könnte der Westen auf einen Angriff verzichten, bis klar ist, ob sich das Blatt zu Gunsten der Rebellion oder Gaddafis wendet, um die Verluste des Westens klein zu halten. Gaddafi weiter in Amt und Würden zu behalten würde zwar auf der einen Seite die Gier westlicher Unternehmen nach mehr und billigerem Öl ohne Abgaben an den libyschen Staat nicht befriedigen. Auf der anderen Seite aber wäre ein Verlust der Lizenzen, die die Mineralölkonzerne erworben haben, durch eine neue Regierung der Aufständischen sehr wahrscheinlich, weshalb der Westen in diesem Fall doch lieber weiterhin mit Gaddafi leben würde. Wenn es zu einem Angriff durch die NATO kommt, kann man sich darauf verlassen, dass der Westen angesichts der Revolten in den Ländern der Region dort bleiben wird, schon um einen Fuß in der Tür zu haben und die lange Grenze zu Ägypten zu kontrollieren.
Chávez‘ Fehltritt
Auch Gaddafi ist sich vollkommen bewusst, welche Gefahr für ihn von der arabischen Revolte ausgeht und ließ deshalb in der letzten Woche nicht nur eine große Anzahl Syrer, sondern vor allem Ägypter und Tunesier verhaften. Die Initiative des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, zwischen den Aufständischen und Gaddafi zu vermitteln, ist deshalb nur bei Gaddafi auf offene Ohren gestoßen, nicht bei seinen Gegnern. Chávez hat mit der Opposition keinen Kontakt, und diese hat kein Interesse daran, Gaddafi neue Legitimität zu verleihen. Verhandeln mit Gaddafi könnte nur eine Vertretung der bis jetzt befreiten Teile des Landes, was einer politischen Trennung gleich käme und dem Westen nützen würde. Gaddafi wird nicht für Verhandlungen zur Verfügung stehen, an deren Ende der Verlust seiner Macht, seiner Ämter und seines Reichtums stünde. Das aber ist das legitime Ziel des Aufstands.
Alle Mutmaßungen, die Opposition sei das Produkt westlicher Geheimdienste oder sie sei per se monarchistisch, sind ohne wirkliche Grundlage: Warum sollte der Westen den Verlust seines engen Bündnispartners in der Region riskieren, nicht wissend, was dann kommen würde? Weshalb, wenn alles von Geheimdiensten kontrolliert wird, haben die westlichen Regierungen offenbar keine Ahnung, wer in Libyen auf der Straße ist? Warum sind sie darauf angewiesen, im Geheimen Militärgrüppchen ins Land zu schicken, die Kontakt mit der Opposition aufnehmen sollen? Warum werden alle solchen Versuche von den Rebellen dann so brüsk zurück gewiesen? Im Falle von Gaddafi und der Opposition von der Wahl zwischen Pest und Cholera zu sprechen, ist zynisch. Massaker durch die Opposition an der Zivilbevölkerung wie auch Bombardierungen von Städten scheint es bislang jedenfalls nicht zu geben. Die Opposition sperrt auch keine Flüchtlinge in der Wüste ein oder versenkt ihre Schiffe im Mittelmeer.
Position beziehen
Die ägyptischen und tunesischen Revolutionäre solidarisieren sich mit dem libyschen Aufstand. Jede Verständnishuberei für Gaddafi ist ein Schlag ins Gesicht der Aufstandsbewegungen in den arabischen Ländern, im Iran oder auch in Simbabwe, wo die Solidarisierung mit Tunesien und Ägypten von dem von Gaddafi unterstützten Diktator Mugabe mit der Todesstrafe belegt wurde. Wer in dieser Situation keine Position bezieht, wendet sich effektiv gegen die Bewegungen und erlaubt es Regimes, wenn sie sich als antiimperialistisch darstellen und in Lateinamerika die richtigen Freunde haben, Oppositionelle zu verhaften, Streiks niederzuschlagen und Aufständische beschießen zu lassen.
Antiimperialismus muss von unten kommen und von sozialen Bewegungen, vor allem der Arbeiterbewegung, getragen werden. Er darf sich nicht in vermeintlichen Festungen einigeln. Die Linke darf sich nicht in dem Dilemma fangen lassen, das viele Linke Anfang der 90er Jahre angesichts der Kriegsdrohungen gegen den Irak dazu verführte, Saddam Hussein als Antiimperialisten zu idealisieren. Auch damals gab es eine Flugverbotszone und Massaker durch die NATO-Truppen an der irakischen Zivilbevölkerung. Aber um den schiitischen Aufstand niederzuschlagen, erlaubte die NATO Saddam Husseins Truppen das Niederbomben der Rebellen und hob die Flugverbotszone zu diesem Zwecke auf. Was einmal passiert ist, kann wieder passieren.
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