Die NATO, das westliche Militärbündnis, stellt sich gerne als »Friedensmacht« dar, während Russland als Kriegstreiber bezeichnet wird. Doch was Putin vorgeworfen wird, trifft auf die NATO und die Europäische Union ebenso zu. Vier Fakten zum 70. Nato-Jubiläum
1. Die Berichterstattung westlicher Medien, wonach der russische Präsidenten Wladimir Putin ein imperialistischer Kriegstreiber ist, trifft zwar einen wahren Kern, ist aber äußerst scheinheilig. Die NATO verfolgt eine aggressive Strategie, die einer friedlichen Entwicklung in Europa entgegen steht.
Das Verhältnis zwischen den Staaten Westeuropas und den USA auf der einen und Russland auf der anderen Seite hat sich deutlich verschlechtert. Schuld daran hat jedoch in erster Linie der Westen. In seinem Text: »Die 360°-NATO: Konfrontationskurs mit Russland und dem Rest der Welt« schreibt Jürgen Wagner: »Obwohl von NATO-Seite stets so getan wurde, als sei die frühere Feindschaft während des Kalten Krieges von einem partnerschaftlichen Vertrauensverhältnis abgelöst worden, bestand bereits unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges ein wesentliches Ziel darin, Russlands machtpolitischen Wiederaufstieg um jeden Preis zu verhindern«.
Condoleezza Rice, Nationale Sicherheitsberaterin von Präsident George Bush jr., beschrieb es später so: »Indem die Macht der Sowjetunion schwand, konnte sie ihre Interessen nicht länger verteidigen und ergab sich (dankenswerterweise) friedlich dem Westen, ein ungeheurer Sieg für die Macht des Westens und auch für die menschliche Freiheit.« Der ehemalige Machtbereich der Sowjetunion wurde zur Verfügungsmasse. Paul Wolfowitz, einer der bekanntesten Vordenker einer neoimperialistischen Außenpolitik der USA (»Das Neue Amerikanische Jahrhundert«), empfahl seiner Regierung schon im Jahr 1992, sie solle verhindern, dass eine »feindliche Macht« irgendeine Weltregion dominiere, die über genug Ressourcen verfügt, um ihr globale Macht zu verleihen.
Zu diesen Regionen zählte er unter anderem das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Um dieses unter ihre Vorherrschaft zu bekommen, setzten die USA vor allem auf die NATO, die sich für ehemalige Ostblockstaaten öffnete. Ziel der Amerikaner war es, Russland einzukreisen und es so davon abzuhalten, neue Großmachtansprüche zu erheben. »Die Message, die wir allen potenziellen Gegnern senden sollten«, schrieben Robert Kagan und William Kristol, zwei weitere Neokonservative aus der Bush-jr.-Ära, in der Zeitschrift »The National Interest«, »lautet: Denkt nicht mal daran.«
Die USA als Führungsmacht der NATO
Dafür waren die USA als unbestrittene Führungsmacht der NATO bereit, praktisch alle Zusagen zu brechen, die sie bei den Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung gegenüber dem damaligen sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow gemacht hatten. NATO-Truppen stehen nun direkt an den russischen Grenzen, seitdem Polen, die baltischen Staaten, Bulgarien und Rumänien dem Militärbündnis beigetreten sind. Zudem wurden schon im Jahr 1997 die Staaten Georgien, die Ukraine, Usbekistan, Aserbaidschan und Moldawien über das GUUAM-Abkommen (die Abkürzung steht für die Anfangsbuchstaben der Mitgliedsstaaten) in die euro-atlantischen Strukturen integriert. Gorbatschow entrüstete sich vor wenigen Jahren über diese Politik: »Warum braucht die NATO diese Länder? Um gegen den Iran zu kämpfen? Das ist lächerlich.« Putin bezeichnete die NATO-Osterweiterung in seiner Rede bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Jahr 2007 als »provozierenden Faktor«.
Die USA haben ihre aggressive Politik gegenüber Russland seitdem keineswegs abgemildert. Im Zuge des »Kriegs gegen den Terror« wurde sie sogar noch verschärft. Dass sich ausgesprochene und jahrelange Befürworter dieser Weltmachtpolitik der USA wie der »Zeit«-Herausgeber Josef Joffe nun über den Imperialismus Russlands beschweren, wirkt vor diesem Hintergrund alles andere als überzeugend.
Die Nato und die Strategie der Vorherrschaft
Als Ergänzung zur NATO-Osterweiterung verabschiedete der US-Kongress im Jahr 1998, noch während der Präsidentschaft Bill Clintons, das »Neue Seidenstraßengesetz«. Hierbei handelt es sich um eine langfristig angelegte Initiative, durch die Staaten auf einer Achse vom Balkan bis an die Westgrenze Chinas an die USA gebunden werden sollen. Zbigniew Brzezinski, einer der wichtigsten Stichwortgeber und Berater mehrerer US-Präsidenten, schrieb in seinem Buch »Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft«, dass Eurasien, also die aus Europa und Asien bestehende Landmasse, geostrategisch entscheidend für die globale Vorherrschaft der USA sei. Zentralasien, der ölreiche Raum um das Kaspische Meer und die Schwarzmeerregion sind zudem von großer Bedeutung, um die potenziellen Rivalen des amerikanischen Weltpolizisten in Schach zu halten, also Russland, aber auch die EU und China. Hier soll es keine zweite Macht geben, die den USA die Stirn bieten könnte.
2. Als Juniorpartner der USA, der bisweilen auch eigenständig agiert, setzte die EU in den 1990er Jahren zu ihrer Osterweiterung an. So konnte nicht nur die politische und militärische Zerstückelung des russischen Einflussbereichs bewerkstelligt werden, sondern auch die wirtschaftliche Einbindung und Ausplünderung der Transformationsländer Osteuropas.
Die beiden EU-Führungsmächte Frankreich und Deutschland vereinbarten, deutsche Unternehmen vor allem in den Osten, französische im Gegenzug eher gen Süden Richtung Nordafrika expandieren zu lassen. Der Weg nach Osten wurde westlichen Unternehmen über Assoziierungs- und Freihandelsabkommen geebnet. Beispiel Ukraine: Dort sind heute rund 4000 deutsche Firmen tätig, die bei ihren Investitionen politische Unterstützung und Fördergelder aus der EU erhalten. Die Mehrheit der in Osteuropa lebenden Menschen nahm die Aussicht auf eine Mitgliedschaft ihres Heimatlandes in der NATO und der EU anfangs mit Begeisterung auf. Doch ihre Hoffnungen wurden durch Jahre der Privatisierung, der Deindustrialisierung, des wachsenden sozialen Elends und der Korruption der neuen politischen Klasse herb enttäuscht.
Deutschland, die Nato und EU-Osterweiterung
Angesichts der anhaltenden globalen Krise drängen deutsche Unternehmen verstärkt auf politische Interventionen zur Unterstützung neuer Investitionsmöglichkeiten. Die große Abhängigkeit Westeuropas und gerade Deutschlands von russischen Gas- und Öllieferungen sowie die umfangreichen Investitionen deutscher Unternehmen in Russland sorgen im Unternehmerlager für Auseinandersetzungen über die Russlandpolitik der Bundesregierung. Ulrich Grillo, der vom Verantwortlichen des Bundes der Deutschen Industrie für Rohstofffragen zu dessen Präsidenten aufgestiegen ist, befürwortet Sanktionen gegen Russland. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag warnt hingegen vor der Gefahr für die deutsche Wirtschaft, die sich aus einer Verschlechterung der Beziehungen zu Russland ergeben könnte. Siemens-Chef Joe Kaeser traf sich Ende März sogar persönlich mit Putin und erklärte danach, sein Unternehmen lasse sich »von kurzfristigen Turbulenzen in unserer langfristigen Planung nicht übermäßig leiten«. Einzelne Unternehmen und Branchen wollen ihre Einnahmen aus dem Russlandgeschäft nicht durch eine politische Krise geschmälert sehen. Dem steht das Gesamtinteresse des deutschen Kapitals an der EU-Osterweiterung gegenüber.
3. Spiegelbildlich zur westlichen Blockbildung betreibt auch Russland die Anbindung benachbarter Staaten.
Über die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) bindet Moskau sie militärisch an sich und über die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG) auch ökonomisch. Nach dem politischen Durcheinander der 1990er Jahre haben Putin und sein langjähriger Wegbegleiter Dmitri Medwedew seit Anfang des neuen Jahrtausends eine Konsolidierung ihres Landes erreicht. Seither setzen sie auf das Ziel, Russland mindestens als Regionalmacht, am liebsten aber wieder zu »einem der führenden Staaten« in der Welt aufzubauen. Russland soll nach den Vorstellungen einer »Agenda 2020«, die Putin vor einigen Jahren entworfen hat, zu einem wesentlichen Knotenpunkt in der eurasischen Energiepolitik werden. Die neue nationale Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2008 zielt im Bereich der »strategischen Waffen« auf ein Gleichziehen Russlands mit den USA. Außerdem soll das russische Militär international einsatzfähig werden. Diese Stoßrichtung entspricht der nationalen Sicherheitsstrategie der USA aus dem Jahr 2006 und entsprechenden Strategiepapieren aus anderen Ländern.
Die Geostrategien Russlands
Auch wenn das Vorgehen des Westens in den letzten beiden Jahrzehnten eine offene Provokation gegenüber der russischen Führung darstellte, haben Putin und die Oligarchen kein Naturrecht auf die Länder, die von den russischen Geostrategen als Russlands »nahes Ausland« bezeichnet werden. Nach dem Ende der atomaren Konfrontation des Kalten Krieges, an die sich manche heute fast nostalgisch erinnern, ist das Ringen der Konzerne und ihrer Regierungen um Macht und Märkte in eine Periode übergegangen, die wieder mehr dem »Großen Spiel« ähnelt, das vor 100 Jahren in den Ersten Weltkrieg mündete. Auch dieser brach nicht von einem Tag auf den anderen aus, sondern ihm gingen viele kleinere Scharmützel und Stellvertreterkriege voraus. Wie wirkungslos internationale Verträge und Normen auch heute noch sind, solche Konfrontationen zu verhindern, zeigt das Agieren der großen Militärmächte jedes Mal, wenn es um das geht, was sie unter ihren »nationalen Interessen« verstehen: Zugang zu Märkten, Rohstoffen und billigen Arbeitskräften. Solange der Wohlstand unserer Welt nach dem Prinzip der Konkurrenz und der privaten Aneignung verteilt wird, werden die Kämpfe darum weitergehen.
4. Die deutsche und die europäische Linke muss gegen die aggressive Expansion von EU und NATO nach Osten kämpfen, ohne dabei den russischen Imperialismus zu verharmlosen.
Eine solche Verharmlosung würde sie gerade in den osteuropäischen Staaten nicht besonders glaubwürdig machen, die eine lange Zeit der Unterdrückung und Ausbeutung durch das stalinistische und poststalinistische Russland erlebt haben. Jahrzehnte des Kalten Krieges scheinen auch heute noch, über 20 Jahre nach der historischen Niederlage des »Ostblocks« unter russischer Führung, politisch nachzuwirken. Die große Mehrheit in Deutschland war antikommunistisch eingestellt, eine kleine Minderheit hingegen sah in der Sowjetunion und der DDR eine vermeintlich fortschrittliche, antikapitalistische Alternative. Nur eine ganz kleine Minderheit von Marxisten folgte damals der Losung »Weder Washington noch Moskau — für internationalen Sozialismus«.
Russlands Oligarchen, die Ukraine und Imperialismus
Nun wird niemand abstreiten, dass in Russland und den anderen ehemaligen Ostblockstaaten mittlerweile eine neue Bourgeoisie ökonomisch und politisch herrscht: die Oligarchen. Anders als die alten, untergegangenen Regimes haben sie nicht einmal mehr den Anspruch »sozialistisch« zu sein. Es handelt sich bei ihnen um ganz normale Kapitalisten, die sich wie ihre westlichen Brüder durch die Ausbeutung von Lohnabhängigen bereichern. Und trotzdem genießt Russland in Teilen der Linken noch immer den Ruf eines antiimperialistischen oder zumindest »nicht-imperialistischen« Staats.
Dabei hat die Regierung von Wladimir Putin das Gegenteil bewiesen, indem sie die zur Ukraine gehörige Halbinsel Krim besetzte. Sie begründet ihr Vorgehen damit, die dortige russischsprachige Minderheit schützen zu wollen. Gleichzeitig marschieren russische Truppen an der Grenze zur Ukraine auf. Lenin schrieb über das 1917 gestürzte russische Zarenreich, es sei ein großes »Völkergefängnis«. Seine Partei, die Bolschewiki, kämpfte gegen die Privilegierung der Russen als Staatsvolk, für das Recht der kleinen Nationen auf vollständige Gleichstellung, für das Recht auf nationale Selbstbestimmung einschließlich des Rechts auf staatliche Abtrennung. Unter Stalin und seinen Nachfolgern wurde Russland wieder zu genau so einem Völkergefängnis. Stalin ließ ganze Volksgruppen umsiedeln, so zum Beispiel die Krim-Tartaren im Jahre 1944. Der in der Ukraine wieder auflebende Nationalismus ist keine Erfindung von Angela Merkel. Angesichts fehlender linker Alternativen stellt er vielmehr eine ungesunde Reaktion auf Jahrzehnte der Unterdrückung der Ukrainer durch das Großrussentum dar. Richtigerweise bezeichnet die Gruppe Sozialistische Bewegung Russlands in einer Erklärung vom 1. März 2016 die Besetzung der Ukraine durch russische Truppen als einen »zynischen Akt des russischen Imperialismus«, dessen Ziel es sei, das Land »in ein russisches Protektorat zu verwandeln.«
Austritt aus der NATO
Zugleich findet in Russland Zensur gegen die Opposition statt, Kritiker Putins werden verhaftet. Der Hauptfeind steht im eigenen Staatenbündnis. Das ist in unserem Fall die vermeintlich so friedliche Europäische Union sowie das westliche Militärbündnis NATO. Für den Kurs der EU trägt Deutschland eine große Verantwortung. Die zahlreichen Auslandseinsätze und die Aufrüstung der Bundeswehr machen Deutschland nicht sicherer. Sie sind vielmehr Teil eines internationalen Wettlaufs um militärische Stärke und internationalen Einfluss zwischen den rivalisierenden kapitalistischen Mächten. In diesem wahnwitzigen Wettlauf muss sich die Linke in Deutschland gegen die Bundeswehreinsätze und die Aufrüstungspläne der Bundesregierung stellen. Unsere Bündnispartner sind dabei nicht die Herrschenden anderer Länder, sondern jene, die dort gegen Militarismus, Aufrüstung und Unterdrückung kämpfen. Deswegen sollten Linke alles tun, um die Bundesregierung unter Druck zu setzen, und für einen Austritt aus der NATO argumentieren. Trotzdem ist der Feind unseres Feindes, Putins Russland, nicht unser Freund oder Verbündeter. Russland ist Teil eines imperialistischen Weltsystems, das wir insgesamt bekämpfen müssen. Die Solidarität der LINKEN sollte der Linken in Russland gelten – und nicht der russischen Regierung.
Schlagwörter: EU, Imperialismus, NATO, Russland, Ukraine, USA