Libyens Revolution steht auf Messers Schneide. Simon Assaf beschreibt die Grundpfeiler von Gaddafis Regime und die Problematik der westlichen Intervention
Libyen steht am Scheideweg. Der Aufstand vom 17. Februar wird von zwei Seiten bedroht. Er könnte durch eine Militäroffensive Gaddafis niedergeschlagen werden, es besteht andererseits die Gefahr, dass der Westen durch seine Intervention die Revolution untergräbt. Diese Krise ist keine von der Revolution angesteuerte. Sie wirft aber ein grelles Licht auf zwei mögliche Optionen: sich in die Abhängigkeit der Westmächte zu begeben, oder aber sich auf die Kräfte zu stützen, die in der gesamten Region um Veränderung kämpfen.
Libyens Revolution nahm ihren Anlauf unter schwierigen Bedingungen. In Tunesien hatten die Gewerkschaften unter dem alten Regime bereits einen begrenzten Spielraum und konnten so zum Brennpunkt für die Unzufriedenheit werden. In Ägypten konnte sich die Opposition um die politischen Bewegungen und eine mächtige Arbeiterklasse gruppieren. In Libyen hingegen hatte sich eine organisierte Opposition angesichts der Brutalität und der allgegenwärtigen Überwachung durch das Regime nicht formieren können. Daher musste sich die libysche Revolution zunächst mit den rudimenärsten Organisationsformen begnügen. Das Fehlen einer organisierten Opposition beschränkte zugleich den Handlungsspielraum des Regimes, in ein Dialog über Kompromisslösungen und Reformen zu treten.
Libyens Öl
Um ihres nackten Überlebens willen wurde die Revolution gezwungen, eine Reihe Zugeständnisse zu machen. Diese lieferten dem westlichen Imperialismus die Gelegenheit, die Bewegung zu vereinnahmen und von ihren Zielen abzubringen. Die Forderung nach einer »Flugverbotszone« und nach verstärkter Militärintervention des Westens wie Luftschlägen sind genuine Hilferufe eines durch Gaddafis Bataillonen bedrängten Aufstandes. Was aber von den Westmächten erwartet wird, und was diese zu liefern bereit sind, sind zwei paar Schuhe. Der Imperialismus interessiert sich für Libyens Öl. Um den ungehinderten Zugang dazu zu garantieren, sind sie zu allen erforderlichen Schritten bereit, einschließlich der Teilung des Landes.
Der Ruf nach westlicher Intervention eröffnet eine zweite Gefahrenquelle. Er ermöglicht es Gaddafi, als Gegner des Imperialismus zu posieren. Er könnte die Revolution von der Bewegung für Veränderung in der übrigen arabischen Welt isolieren und jene noch schwankenden Elemente des Regimes zu einer härteren Gangart bewegen. Die Widerstandsbewegung in den arabischen Ländern schöpft ihre Legitimation aus ihrem Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus. Jedes Bündnis mit dem Imperialismus kann ihre Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit nur untergraben.
Gaddafis Regime
Die Armeeoffiziere, die 1969 die Macht in Libyen ergriffen, waren Teil einer ganzen Welle von antikolonialen, von Gamal Abdel Nassers Revolution in Ägypten inspirierten Revolten in den 1950er und 1960er Jahren. Libyen hatte seit 1911 unter der brutalen Kolonialherrschaft Italiens zu leiden, und dann geriet das Land unter britischen Einfluss, der auch nach der formalen Unabhängigkeit im Jahr 1951 fortdauerte.
Die Jungoffiziere um Gaddafi strebten nach einem unabhängigen Nationalstaat, der die Resourcen des Landes, vor allem den Ölreichtum, einsetzt, um eine moderne Gesellschaft aufzubauen. Damals war Libyen größtenteils eine Stammesgesellschaft bestehend aus nomadischen oder agrarischen Gemeinschaften. Gaddafis Revolution bezog jedoch nicht die Masse der Menschen ein. Ihren Mittelpunkt bildete eine kleine Offiziersclique aus der Mittelschicht.
Ende des Kolonialismus
Das Ende des Kolonialismus bedeutete nicht das Ende des Kapitalismus, ganz unabhängig von Gaddafis Rhetorik. Sein Staat hatte nicht weniger Interesse, die Ausbeutung der Bevölkerungsmehrheit fortzusetzen, auch wenn er einen Fortschritt verglichen mit der formellen oder informellen Kolonialherrschaft darstellt.
In den 1970er Jahren unternahm Gaddafi eine massive Neuorganisation des Staates. Das von einem kleinen Zirkel seiner engsten Anhänger dominierte Regime schuf »Revolutionskomitees«, um die Stammesstrukturen zurückzudrängen. Diese Komitees spiegelten keineswegs die Bedürfnisse der Bevölkerung wider, sondern dienten dem Staat als neue Methode der Günstlingswirtschaft.
Gegner im Gefängnis
Sich vor Unzufriedenheit und potenziellen Rivalen fürchtend, benutzte Gaddafi die neuen staatlichen Strukturen, um seine Herrschaft zu stützen. Er ließ die meisten Behörden in seiner Heimatstadt Sirte umsiedeln, verteilte Jobs und Dienstleistungen, um seine Herrschaft über das Land zu zementieren und warf seine Gegner ins Gefängnis oder ermordete sie, auch wenn ihr Vergehen nur die moderateste Kritik war.
Die militärische Macht des Regimes konzentrierte sich auf einige wenige hochgerüstete und bestens trainierte Einheiten, die entfernt von den wichtigsten Bevölkerungszentren stationiert waren. Hinzu kamen bezahlte Schergen und der Staatssicherheitsdienst. Elemente der alten Stammesbeziehungen wurden in die Bundesarmee übernommen, aber dieser wurde lediglich die Aufgabe des Grenzschutzes und der Bewachung der Ölinfrastruktur übertragen.
Reine Rhetorik
Während der ganzen 1970er und 1980er Jahre griff Gaddafi auf die Rhetorik des arabischen Nationalismus zurück und nahm zugleich alle Aspekte der libyschen Gesellschaft immer mehr unter seine Kontrolle. Seine Opposition gegen den westlichen Imperialismus erntete Libyen den Ruf, eine Bastion des antiwestlichen Widerstandes zu sein. In Wirklichkeit war Libyens Einmischung in genuine Widerstandsbewegungen in der Region nie willkommen. Seine Agenten heimsten sich den Ruf von Mördern und Autobombern ein. Gaddafis Regime ging mit aller Härte gegen Kritiker seiner Einmischungspolitik vor und scheute nicht davor zurück, den einflussreichen und beliebten Reformer Musa Sadr im Libanon zu entführen und zu ermorden.
In den Augen der meisten Menschen der arabischen Welt blieb Libyen ein in Dunkelheit gehüllter Ort, deren Bewohner unter einem zügellosen Despoten zu leiden hatten. Aber für die Westmächte war Gaddafis Regime eines, mit dem man durchaus verhandeln konnte. Im Austausch für gute Ölgeschäfte vergaß man Gaddafis Vergangenheit, auch seine Angriffe auf westliche Ziele.
Krise des Regimes
In den letzten zehn Jahren hat sich das Gesicht Libyens auf andere Weise radikal verändert. Die Urbanisierung und die damit einhergehende Anstellung der großen Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung in staatlichen Behörden, Büros oder Fabriken hat alte Stammesbeziehungen untergraben. Alte Loyalitäten sind nicht ganz verschwunden und manche Würdenträger genießen immer noch ein gewisses moralisches Ansehen, aber ihr Einfluss ist begrenzt.
Diese sozialen Veränderungen haben dem Regime eine Krise beschert. Gaddafis nationale Ideologie – ein zusammenhangloses Konglomerat von »arabisch-nationalistischer Rhetorik«, »Panafrikanismus«, »Islamischem Denken« und »Sozialismus«, zusammengefasst in seinem Grünen Buch – konte keine lebendige Verbindung zwischen dem Regime und dem Volk unterhalten. Gaddafi ging dann dazu über, zukünftige Reformen unter der Obhut seines Sohns, Saif al-Islam, zu versprechen. Saifs »Vision« einer allmählichen Demokratisierung gab der jungen Generation neue Hoffnung.
Hohle Reformversprechen
Die »Reform«-Idee eröffnete die Aussicht auf ein sich dem Westen öffnendes Libyens, das einen Teil seiner gigantischen Öleinkünfte dazu verwendet, reale Veränderung zu bewirken. Das Regime lockerte in der Tag manche Aspekte ihrer Repression und nahm mit vielen seiner langjährigen Gegner unverbindliche und letztlich ergebnislose Gespräche über Veränderung auf. Die wirkliche Macht blieb aber das Privileg eines engen Zirkels um Gaddafi. Wie ehemals die Ideologie des Grünen Buchs erwiesen sich auch Saifs Reformen als hohles Versprechen.
Unter dem Einfluss der Ereignisse in Ägypten und Tunesien rief ein Netzwerk junger Aktivisten, dem sich manche Richter, anerkannte Rechtsanwälte und andere Honoratioren anschlossen, zu friedlichen Demonstrationen am 17. Februar auf. Diese Proteste hoben nur sehr moderate Forderungen, sie waren aber die erste öffentliche Bekundung von Regimegegnerschaft.
Palast angezündet
Die Antwort des durch die Revolutionen in seinen Nachbarstaaten verängstigten Regimes war es, das Feuer auf die Protestierenden zu eröffnen. Der Zyklus von Tötungen, Begräbnissen und weiteren Tötungen entwickelte sich zu einem landesweiten Aufstand. Die Ereigniskette, die in Tunesien und Ägypten den Erfolg errang, schien wieder am Werk: kleine Proteste, die sich in Massendemonstrationen verwandeln, das Verjagen der Sicherheitskräfte von der Straße, eine handlungsunfähige Armee, eine entscheidende Welle von Massenstreiks, die Trennung der Regimes von ihren alten Diktatoren.
Gebäude der Staatssicherheit wurden von wütenden Menschenansammlungen zerstört, Polizeireviere niedergebrannt und einer von Gaddafis Palästen angezündet. Millionen von Menschen gingen auf die Straße und trieben das Regime in die Enge, Teile der Landesarmee lösten sich auf oder gingen zu den Aufständischen über. Als es sich herumsprach, dass Gaddafi die Flucht ergriffen hatte, setzten sich Massen von Menschen in Bewegung, um den Grünen Platz in der Hauptstadt Tripoli zu besetzen. Dann gab das Regime seinen Anhängern, seinen Schergen und loyalen Truppen, freie Hand, um die Bewegung zu zerschlagen. Das Ausmaß und die Brutalität der Unterdrückung beschleunigte noch den Kollaps von Teilen des Regimes. Libysche Diplomaten gesellten sich zu der Revolte, Gruppen von Armeeoffizieren veröffentlichten Stellungnahmen, in denen sie die Truppen zur Befehlsverweigerung aufriefen, und ganze Städte und Dörfer riefen die Revolution aus.
Terror gegen Massenaufstand
Bedeutende Teile des Staates waren jedoch nach wie vor intakt. Gaddafis Anhänger versammelten sich erneut, begaben sich in allen zivilen und militärischen Behörden auf eine wahre Verfolgungsjagd und richteten alle, die sich gegen den Terror aussprachen oder Schießbefehle ignorierten, hin. Der genaue Hergang und das Ausmaß dieser Säuberungen sind noch unbekannt. Man geht aber davon aus, dass mehrere Hunderte hingerichtet wurden, auch enge Familienmitglieder Gaddafis und ehemalige Stützen des Regimes.
Es handelte sich um einen Massenaufstand von Millionen Menschen. Die Bevölkerung nahm in den befreiten Gegenden alle Staatsfunktionen in die eigenen Hände, auch die Verwaltung der Gefängnisse, der Polizei und der Gerichte. Basisräte organisierten die Lebensmittelverteilung entsprechend den Bedürfnissen der Menschen, eröffneten TV- und Radiosender, brachten revolutionäre Zeitungen heraus. Volkskomitees übernahmen wichtige Einrichtungen der Daseinsvorsorge wie Elekrizitätswerke, Häfen und andere. Alle wichtigen befreiten Groß- und Kleinstädte werden von diesen revolutionären Räten verwaltet. Beobachter, auch westliche Journalisten, bezeugen die Effizienz und große Energie dieser Räte und die entspannte »Freiheitsatmosphäre« in den Aufstandsgebieten.
Zwei Flügel
Die Volksräte bildeten einen landesweiten Übergangsrat, den Transnational National Council (TNC), dem die führende Rolle in der Revolution zufiel. Es sind jedoch zwei Flügel, die innerhalb des TNC wirken. Einerseits die im Volk verankerte revolutionäre Leitung aus zentralen Wortführern des Aufstandes, zum anderen die ehemaligen hochrangigen Regimestützen, die eine Interimsregierung mit Hilfe des Westens anstreben. Die Gründung des TNC war ein Kompromiss zwischen diesen beiden Flügeln. Eine der Bedingungen für sein Zustandekommen war, dass er dem Westen die Garantie gab, die von Gaddafi unterzeichneten Ölverträge zu erfüllen.
Die Geschwindigkeit der Gegenoffensive Gaddafis verkürzte die Zeit, die sogar die grundlegendste Reorganisation der Revolution benötigte. Fünfzehn Tage nach Beginn des Aufstandes kämpfte der TNC schon um seine Existenz. Die vorrangige Aufgabe war, die befreiten Gebiete im Osten mit den rebellierenden Städten und Ortschaften im Westen zu verbinden. Die Zeit drängte.
Revolution in Gefahr
Die Jugend im Osten, bewaffnet und von ihrem beinahe unglaublichen Sieg über die Kräfte des Regimes in den ersten Tagen des Aufstands befeuert, stürmte westwärts. Es war ein zum Scheitern verurteilter Versuch, die rebellierenden Gebiete miteinander zu verbinden. Die Revolution war jetzt in Gefahr, nicht nur im Westen des Landes, sondern sogar im befreiten Osten.
Die Revolutionen in Tunesien und Ägypten hinkten auf einmal in einer wichtigen Hinsicht hinter Libyen her. Die Staatsmaschinerie, die sie herausgefordert hatten, blieben weitgehend im Sattel, so dass sie keine großen Resourcen besaßen, um Libyen in materieller Hinsicht effektiv zu helfen. Dieses Missverhältnis öffnete der westlichen Einmischung eine Türspalt. Im Glauben, die Revolution würde erfolgreich sein, setzten westliche Führer auf den TNC. Aus der Belagerung heraus sah der TNC keinen anderen Ausweg, als sich in die westliche Abhängigkeit zu begeben.
Bauernfigur der Westmächte
Der TNC wollte keine fremden Truppen auf libyschem Boden zulassen, sah sich jedoch genötigt, eine Flugverbotszone und Luftschläge, um die Gegenoffensive des Regimes zu stoppen, zu fordern. Die militärischen Rückschläge bewegten den TNC zu immer weitergehenden Kompromissen. Er lief Gefahr, im Gegenzug für kurzfristige Unterstützung die Unabhängigkeit der Revolution westlichen Interessen zu opfern.
Auf den ersten Blick ist die Forderung nach westlicher Intervention durchaus nachvollziehbar. Das Regime bombardiert die Rebellen von der Luft aus. Die USA mit ihrer enormen Militärmacht haben die Fähigkeit, Gaddafis Kriegsflugzeuge zu zerstören und die militärische Balance zugunsten der Rebellen zu verschieben. Das ist jedoch eine falsche und gefährliche Vereinfachung der Situation. Denn das Interesse des Imperialismus deckt sich nicht mit dem der Revolution. Westliche Regierungen waren in der Vergangenheit bereit, mit dem Regime Deals zu schließen, und ist es auch heute. Auch eine praktische Teilung des Landes kommt für sie in Frage, und damit die Preisgabe der Revolution im Westen und die Reduzierung des Ostens zu einer Bauernfigur der Westmächte.
Interessen des Widerstandes
Viele stimmen dem Argument zu, dass westliche Einmischung nicht die ideale Lösung ist, sagen aber, dass eine Revolution, auch wenn sie dem Westen in der Pflicht steht, besser sei als ein Sieg des Regimes. Es ist aber nicht das erste Mal, dass Widerstandsbewegungen in der arabischen Welt sich mit scheinbar unüberwindlichen Hürden konfrontiert sehen. Die palästinensische Bewegung und der Widerstand im Libanon haben es mit einer weitaus mächtigeren Militärmacht zu tun als Gaddafis. Ihre Überlebensfähigkeit und, von besonderer Bedeutung hier, der Sieg Libanons über Israel im Krieg von 2006, gründeten auf ihrer Unterstützung im Volk und einer Führung, die in erster Linie die Interessen des Widerstandes zu vertreten versuchte, und nicht auf einer fremden Macht.
Die libysche Revolution genießt enorme Unterstützung unter den Menschen der Region. Sie führen einen wahrhaft historischen Kampf um Veränderung. Ihre Interessen decken sich mit denen der breiten Masse der libyischen Bevölkerung. Mit ihrem Versuch, ein Bündnis mit dem Westen zu schließen, läuft die libysche Revolution Gefahr, sich von diesen Kräften abzukoppeln. Die Aufstände, die die gesamte arabische Welt erfasst haben, konfrontieren Regimes, die zu unglaublicher Grausamkeit fähig sind. Um erfolgreich zu sein, müssen sich die Revolutionen an jene Kräfte wenden, die ungeachtet der widrigsten Umstände diese Region der Welt bereits erschüttert haben.
Zu diesem Text:
Dieser Artikel ist zuerst in der britischen Zeitschrift Socialist Review erschienen. Ins Deutsche von David Paenson.
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