Vergangene Woche wurde der Koalitionsvertrag der ersten grün-roten Regierung in Deutschland und der ersten Landesregierung in Baden-Württemberg ohne CDU-Beteiligung verabschiedet. Dirk Spöri analysiert den Koalitionsvertrag und meint: Auch unter Grün-Rot muss ein Politikwechsel von unten erkämpft werden.
Auf Sonderparteitagen haben Grüne und SPD den Koalitionsvertrag am 7. Mai angenommen. Mit dem Regierungswechsel, in Folge einer Welle großer Proteste gegen Stuttgart21 und Atomkraft, werden viele Hoffnungen auf einen grundlegenden Politikwechsel verbunden. Für viele Menschen wurde mit Mappus auch Stuttgart21, Atomkraft, Studiengebühren oder das dreigliedrige Schulsystem abgewählt.
Einige konkrete Punkte im Koalitionsvertrag greifen diese Hoffnungen auf: die Abschaffung von Studiengebühren zum Sommersemester 2012, die Wiedereinführung der verfassten Studierendenschaft, die Stärkung von Gemeinschafts- und Ganztagesschulen, mehr Geld für die Krankenhäuser und ein Tariftreuegesetz mit einem Mindestlohn von 8,50 Euro als wichtigste Forderungen. Diese Forderungen sind zu begrüßen und DIE LINKE sollte sich für deren baldige Umsetzung stark machen – auch und gerade gegen den Widerstand von CDU und FDP.
Auch bei Stuttgart21, wo der Koalitionsvertrag eigentlich eine mit wenig Erfolgsaussichten verbundene, landesweite Volksabstimmung vorsieht, ruhen weiterhin große Hoffnungen auf Grün-Rot. Dennoch gehen die Montagsdemonrationen, die monatlichen Großdemonstrationen und die Blockadevorbereitungen weiter (siehe auch: »Zum Koalitionsvertrag von Grün-SPD in Baden-Württemberg: Diktat der Haushaltskonsolidierung«).
Der Koalitionsvertrag hat jedoch zwei prinzipielle Probleme: Zum einen das »Ja« zur Schuldenbremse verbunden mit Kürzungslogik: Trotz versprochener Änderungen im Bildungssystem sollen Lehrerstellen abgebaut werden. Ein Umbau der Landesverwaltung soll dem Ziel der »Haushaltskonsolidierung« dienen.
Zum anderen sitzen auch bei Grün-Rot die Konzerne mit am Tisch: EnBW und Daimler waren schon Gäste beim Grünen-Landesparteitag am 7. Mai, als die Grünen den Koalitionsvertrag bestätigten.
Zur Zukunft der EnBW, die Mappus Anfang des Jahres nur zwecks teurem Weiterverkauf kaufte, steht nichts im Koalitionsvertrag. Im Gegenteil: trotz der Plätze im EnBW-Aufsichtsrat solle sich »EnBW am Markt neutral« verhalten. Ein grundlegender ökologischer Umbau der stark auf Export und Automobilindustrie basierenden Wirtschaft wird nicht angestrebt.
Atomausstieg? Fehlanzeige: Es sollen nur die vorübergehend stillgelegten AKWs Neckarwestheim 1 und Philipsburg 1 stillgelegt werden, anstatt über die in öffentlicher Hand befindliche EnBW alle AKWs im Südwesten jetzt abzuschalten. Und Privatisierungen, ausgenommen der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), werden nicht ausgeschlossen.
Weitere Kritikpunkte sind: keine Aufkündigung der Kooperation Bundeswehr an Schulen, keine Schaffung von Ausbildungsplätzen und keine – wie auch von der SPD versprochenen – kostenlosen Kitas. Keine Vorschläge zur Finanzierung der Forderungen, statt dessen Haushaltskonsolidierung und Schuldenbremse. Keine Verfassungsänderung zur Vereinfachung von Volksabstimmungen.
Dennoch: nach Jahrzehnten von CDU-Herrschaft werden viele Menschen Grün-Rot eine Chance geben wollen (»Zeit geben«, »man kann nicht von heut auf morgen alles anders machen«).
Für DIE LINKE stellt sich deshalb die doppelte Aufgabe, den an vielen Stellen entäuschenden Koalitionsvertrag zu kritisieren und drohende Kürzungen und Stellenabbau zu bekämpfen, aber gleichzeitig an den mit der neuen Regierung verbundenen Hoffnungen anzuknüpfen. Die Anti-Atom-Bewegung, die Bildungsproteste und natürlich die S21-Proteste unterstützend können die Hoffnungen und Erwartungen auch den Druck auf Grün-Rot erhöhen. Wenn es gelingt, diesen Druck auch nach der Wahl auf die Straße zu tragen und – sollten die ersten Bagger den S21 bauen fortsetzen – auch Blockaden zu organisieren, kann Grün-Rot den Druck auch zu spüren bekommen. Denn auch unter Grün-Rot gilt: ein Politikwechsel muss erkämpft werden.
Stuttgart21, eines der bestimmenden Themen des letzten Jahres, wird der erste Lackmus-Test für die neue Regierung. Die Hoffnung der neuen Regierung: der Stresstest der Bahn führt zu zusätzlichen Kosten, die niemand zahlen will und deshalb das Projekt zum scheitern bringen. Es kann jedoch sein, daß Bahn und Bund sich die Mehrkosten teilen und der Bau fortgesetzt wird. Der im Koalitionsvertrag beschlossene Volksentschied ist aufgrund des Quorums – fast drei Millionen müssten gegen S21 stimmen – leider nur schwer zu gewinnen. Ein Scheitern ist alles andere als unwahrscheinlich.
DIE LINKE wird auch im Bundestag versuchen, die Finanzierung des Milliardengrabs S21 zu verhindern. Sie bleibt auch bei ihrer Forderung nach einer regionalen Volksbefragung. Natürlich müssten sich alle S21-Gegner auch am landesweiten Volksentscheid beteiligen, aber die alleinige Orientierung auf einen solchen wäre falsch. Zentral für den Stopp von Stuttgart21 bleiben weiterhin die regelmäßigen Demonstrationen und die Blockade der Bauarbeiten, sollten diese fortgesetzt werden.
Zum Autor:
Dirk Spöri ist Mitglied im Landesvorstand der LINKEN Baden-Württemberg