Während Grenzen über Jahrzehnte an Bedeutung zu verlieren schienen, sind sie im Zuge der »Flüchtlingskrise« wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte gerückt. Aber welche Rolle spielen Staatsgrenzen für das Funktionieren des Kapitalismus? Eine Spurensuche. Von Martin Haller
Noch vor Kurzem sah es so aus, als würde die Globalisierung alle Grenzen überwinden und die Menschheit zusammenrücken lassen. Angesichts eines weltweit vernetzten Kapitalismus schwand die Bedeutung der Nationalstaaten. Grenzen erschienen als ein Relikt aus der Vergangenheit, die Bewegungsfreiheit von Waren und Menschen die unaufhaltsame Zukunft.
Obwohl diese Wahrnehmung schon immer an den »richtigen« Pass und die entsprechende Zahlungskraft gebunden war, führen erst die Ereignisse der letzten Monate sie offensichtlich ad absurdum. Nicht nur, dass die EU ihre Außengrenzen immer schärfer gegenüber den vor Krieg und Elend flüchtenden Menschen abriegelt, auch innerhalb des Schengenraums stehen plötzlich wieder Zäune und Stacheldraht.
Die Frage des »Schutzes« der Staatsgrenzen ist wieder aktuell. Die Strategien der Herrschenden in Europa unterscheiden sich zwar im Detail, was sogar teilweise zu offenem Streit führte. Doch ihnen ist letztendlich das Ziel gemein, die Flüchtenden von Europa fern halten zu wollen: »Grenzen dicht« lautet das Motto. Die Frage ist lediglich, ob in der Ägäis, auf dem Balkan oder im Berchtesgadener Land.
Territoriale Integrität als schützenswertes Gut
Selbst manchen Linken gilt plötzlich die territoriale Integrität wieder als schützenswertes Gut. So schreibt etwa der slowenische Philosoph und Popstar der europäischen Linken Slavoj Žižek, natürlich müsse Europa helfen, es könne aber nicht einfach seine Grenzen öffnen: »Wir müssen dafür sorgen, dass die Flüchtlingsströme in geordneten Bahnen verlaufen.« Die unkoordinierte Zuwanderung gefährde den Kern Europas, so Žižek. Die EU müsse daher klare Regeln für ihr Migrationsregime schaffen, den Geflüchteten die Erlaubnis verweigern, sich in dem Land ihrer Wahl niederzulassen, und darauf bestehen, dass sie sich der »westeuropäischen Lebensweise« anpassen.
Was bringt einen linken Philosophen dazu, solch reaktionäre Maßnahmen zu fordern? Die Antwort findet sich in seinen Überlegungen zu den Widersprüchen des modernen Kapitalismus: Geflüchtete, so schreibt er, seien »der Preis, den wir für eine globalisierte Wirtschaft zahlen, in der Waren – aber nicht Menschen – die freie Zirkulation erlaubt ist«. Der ungebundenen und grenzenlosen Bewegung von Kapitalströmen stehen die restriktiven Gesetze der Nationalstaaten bezüglich der Bewegung der Arbeitskräfte gegenüber. Da die Bewegung des Kapitals diejenige der Arbeitskräfte stimuliere, liege eine möglichst großen Mobilität der Lohnabhängigen im Interesse der Kapitalisten, im Interesse der Arbeitskräfte liege hingegen der Schutz des nationalstaatlichen Rahmens. Doch stehen die Interessen eines zunehmend globalen Kapitalismus und der historisch gewachsenen Nationalstaaten tatsächlich im Widerspruch?
Grenzen sind ein relativ junges Phänomen
Hinter dieser These stecken falsche Vorstellungen: Obwohl Staatsgrenzen heute als in Stein gemeißelt erscheinen, sind sie erst ein relativ junges Phänomen. Während es Migration schon immer gegeben hat, entstand das Konzept moderner Nationalstaatlichkeit und eines territorial fest begrenzten Staatsgebiets erst mit dem Aufkommen des Kapitalismus. Scharfe Grenzziehungen, wie sie auch historische Karten suggerieren, waren bis in die Neuzeit weitgehend unbekannt.
Den Großteil der Menschheitsgeschichte über herrschte eine nomadische Lebensweise vor. Migration war nicht Ausnahme, sondern Regel. Die Menschen mussten ständig weiterziehen, um ihre Lebensgrundlage erwirtschaften zu können. Erst vor etwa 10.000 Jahren wurden die ersten dauerhaft sesshaft und gründeten kleine Siedlungen. Aus Jägern und Sammlern wurden nach und nach Ackerbauern und Viehzüchter. Erst mit der Etablierung längerfristiger Besitzansprüche auf ein Gebiet begann Migration von außen zu einem Problem zu werden. Doch bis es zu einer vollständigen Aufteilung des Lands und zu entsprechenden Grenzziehungen kam, vergingen noch viele Jahrtausende.
Funktion von Grenzen in der Antike
Auch die ersten Staaten der Antike verfügten nicht über Grenzen, wie wir sie heute kennen. Zwar war es nicht jedem erlaubt innerhalb der Stadtmauern zu siedeln, dennoch herrschte für alle »freien« Menschen eine weitgehende Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit. Im antiken Athen genossen Metöken (Ansiedler) zwar nicht die Bürgerrechte der gebürtigen männlichen Athener, niederlassen ließ man sie dennoch. Allerdings betraf dies nur eine Minderheit der Gesamtbevölkerung, denn die übergroße Mehrheit waren »unfreie« Sklaven. So ergab eine Volkszählung in Attika im vierten Jahrhundert vor Christus, dass 21.000 Bürgern und 10.000 Metöken 400.000 Sklaven gegenüberstanden. Sklaven waren Eigentum ihres Herrn, Migration war für sie keine Option. Für Grenzen im heutigen Sinn gab es daher in den antiken Sklavenhaltergesellschaften keine Notwendigkeit.
Und auch die Grenzanlagen der frühen Imperien taugen nicht als Vergleich zu den modernen Staatsgrenzen. Sowohl die Befestigungswälle und Palisaden des Römischen Reichs als auch die Chinesische Mauer erfüllten vor allem eine militärische Funktion. Zwar stellten sie längst keine undurchdringliche Verteidigungslinie dar und gerade die römischen Limes hatten auch eine Funktion als bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Steuerungs- und Kontrolllinien, jedoch waren es keine feststehenden Grenzen. Imperien wie das Römische Reich oder das Kaiserreich China besaßen keine klaren Grenzen, sondern einen beweglichen, verschwommenen Grenzraum. Die römischen Herrscher zögerten lange, überhaupt Grenzanlagen zu errichten, mussten sie dafür doch ihren universalen imperialen Anspruch aufgeben. Die Ein- und Auswanderung ins Römische Reich dürfte trotzdem nicht allzu problematisch gewesen sein. Generell galten alle Bewohner des Reichs, die nicht den Status eines römischen Bürgers hatten, sowie auch die gesamte Provinzbevölkerung in den eroberten Gebieten als Peregrine, »Fremde«. Sie konnten jedoch recht unbehelligt leben und weitgehend ihre eigene Kultur und Religion ausüben.
Feudalismus und die Dezentralisierung politischer Macht
Nach dem Zerfall des Weströmischen Reichs und dem Aufkommen der mittelalterlichen Ständegesellschaften in Europa wandelten sich die politischen Landkarten. Allerdings trügt das Bild des entstehenden Flickenteppichs von Kleinststaaten. Die Herzog-, Fürsten- und Königtümer des Mittelalters waren keine Staaten im heutigen Sinn mit festem Staatsgebiet. Herrschaft beruhte nicht auf dem Anspruch auf ein klar umrissenes Territorium, sondern auf einem gegenseitigen, persönlichen Abhängigkeitsverhältnis zwischen Lehnsherrn und Vasallen. Zudem konnten diese unmittelbaren Abhängigkeiten unterschiedlichen Obrigkeiten gelten: Wem etwa der Zehnt abzuliefern, Kriegsdienst zu leisten oder geistige Gefolgschaft zu erbringen war, konnte sich durchaus unterscheiden.
In Deutschland lebten diese komplexen Rechts- und Herrschaftsverhältnisse bis zum Untergang des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation Anfang des 19. Jahrhunderts fort. Vor allem hierzulande war der Feudalismus durch eine Dezentralisierung politischer Macht gekennzeichnet, die von einer großen Zahl regionaler Fürsten ausgeübt wurde, die ihrerseits lediglich einem sehr schwachen Machtzentrum unterworfen waren. Daneben bestanden die wirtschaftlich unabhängigen mittelalterlichen Städte, in denen sich allmählich einflussreiche Zünfte und Gilden entwickeln konnten. Sie entschieden auch darüber, wer sich in ihrem Einflussraum niederlassen durfte. Der großen Masse der leibeigenen Bauern, die von einem Adligen abhingen, war es in den feudalen Ständegesellschaften jedoch verboten, ihr Land zu verlassen.
Absolutismus und die Herausbildung von Nationalstaaten
Die Herausbildung von Nationalstaaten mit klaren Grenzen begann in Europa erst mit dem Aufkommen des Absolutismus und dem Niedergang der ständischen Ordnung. Karl Marx beschrieb diesen Prozess in seinem Werk »Bürgerkrieg in Frankreich«: »Die grundherrlichen Vorrechte der mittelalterlichen Feudalherren, Städte und Geistlichkeit wurden in Attribute einer einheitlichen Staatsgewalt verwandelt.« Die bürgerlichen Revolutionen trieben diesen Prozess der Herausbildung von Nationalstaaten voran. »Die erste französische Revolution mit ihrer Aufgabe, die nationale Einheit zu begründen (eine Nation zu schaffen), mußte jede lokale, territoriale, städtische und provinzielle Unabhängigkeit beseitigen. Sie war daher gezwungen, das zu entwickeln, was die absolute Monarchie begonnen hatte, die Zentralisation und Organisation der Staatsmacht«.
Im Lauf des 19. Jahrhunderts setzte sich nach und nach der Verfassungsstaat als Personenverbund von formell gleichen Bürgern mit bestimmten Rechten und Pflichten unter Ausschluss der »Ausländer« durch und mit ihm das Konzept der Staatsangehörigkeit. Erst im Zuge der Entstehung bürgerlicher Gesellschaften entwickelten sich moderne Staaten, in denen das Territorialprinzip vollständig verwirklicht wurde und die Staatsbürgerschaft die persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse ersetzte.
Die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise
Der Grund für diesen Wandel der Herrschaftsordnung war das Entstehen eines neuen Systems der gesellschaftlichen Organisation der Produktion: Die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise führte nicht nur zu einem raschen Anstieg der Produktivkräfte, also der technischen, organisatorischen und geistig-wissenschaftlichen Ressourcen einer Gesellschaft, sondern veränderte auch die ökonomischen und schließlich die politischen Herrschaftsbeziehungen. Damit einher ging eine Veränderung der Gründe für Migration: Waren es in früheren Gesellschaftsformen insbesondere die Schranken der Produktivkräfte, die Menschen zur Migration zwangen, so bedeutete das Aufkommen kapitalistischer Produktionsverhältnisse, dass prinzipiell alle Menschen überall eine ausreichende Lebensgrundlage erwirtschaften konnten.
Dennoch bedeutete das Entstehen des Kapitalismus keine Abnahme von Migrationsbewegungen. Ganz im Gegenteil: Die Auflösung der alten persönlichen Herrschaftsbeziehungen setzte Massen an Arbeitskräften frei, für die Migration in die Städte häufig die einzige Alternative zum Verhungern darstellte.
Die Grundlage des kapitalistischen Systems ist die beständige Akkumulation von Kapital durch die Ausbeutung von Arbeitskraft. Sie setzt voraus, dass Arbeitskraft die Form einer Ware annimmt, die frei veräußert und gekauft werden kann. Marx nannte dies den »doppelt freien Lohnarbeiter«, der einerseits frei von persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen ist, andererseits aber auch »frei« von Produktionsmitteln und damit angewiesen auf den Verkauf seiner Arbeitskraft. Anders als Sklaven oder leibeigene Bauern sind Lohnarbeiterinnen und -arbeiter also nicht an irgendeinen Herrn und Ort gebunden, sondern müssen dorthin gehen, wo sie Arbeit finden.
Migration und Kapitalismus
Die kapitalistische Produktionsweise beruht auf der Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln. Diese Trennung geschah im Europa des 19. Jahrhunderts in erster Linie durch die Vertreibung der Bauernschaft und die Einfriedung von Gemeindeland. Die Vertriebenen flüchteten in die Städte und bildeten dort die neu entstehende Klasse der Lohnabhängigen. Die Entstehung der Arbeiterklasse war ein gewaltsamer Prozess, der mit großen Flucht- und Migrationsbewegungen einherging. Allerdings war der Zwang zur Arbeitsmobilität nicht mit der Durchsetzung kapitalistischer Strukturen erschöpft. Kapitalismus basiert auf Konkurrenz und ist ein zutiefst krisenhaftes System. Anhaltende und immer wiederkehrende Wirtschaftskrisen führen bis heute zum Niedergang ganzer Regionen oder Wirtschaftszweige und zwingen Menschen immer wieder in großen Zahlen zur Migration.
Da sich der Kapitalismus zudem ungleichmäßig entwickelt, ist er immer wieder in bestimmten Regionen auf die Einwanderung von Arbeitskräften angewiesen, während in anderen Gegenden Arbeitskräfte freigesetzt werden. So gab es von der Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts bedeutende Wanderungsbewegungen über den Atlantik. Die ungleiche Entwicklung des Kapitalismus führte zur Verarmung und Vertreibung von Massen von Landarbeitern in Europa, die für das explosive Wachstum des Kapitalismus in Nord- und Südamerika gebraucht wurden. Allein zwischen 1870 und 1914 verließen etwa 50 Millionen Menschen den »alten Kontinent«.
Mit der Krise des globalen Kapitalismus nach dem Ersten Weltkrieg gingen diese Ströme zurück. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg brauchten die entwickelten kapitalistischen Wirtschaften, allen voran in Europa, Arbeitskräfte und warben diese aktiv an. Während Großbritannien, Frankreich und die Niederlande Arbeitskräfte aus ihren alten Kolonien heranzogen, rekrutierte Deutschland sie aus dem Süden Europas, der Türkei und Nordafrika. Bis zum Anwerbestopp 1973 kamen etwa 14 Millionen Arbeitskräfte nach Deutschland, etwa elf Millionen von ihnen kehrten wieder in ihre Herkunftsländer zurück.
Nationalstaaten und die Funktion von Grenzen
Kapitalismus stützt sich nicht nur auf die Ausbeutung von Arbeitskraft, sondern auch auf Nationalstaaten. Deren Machtausübung erstreckt sich, anders als in vorigen Herrschaftsformen, über ein bestimmtes, fest abgegrenztes Staatsgebiet. Grenzen dienen jedoch nicht generell dazu, Menschen von der Einwanderung abzuhalten. Im Zentrum der Einwanderungspolitik der kapitalistischen Staaten stand immer das Ziel, die Migration zu kontrollieren, um sie für die wirtschaftlichen Interessen des jeweiligen Lands nutzbar zu machen. Kapitalistische Staaten haben die Aufgabe, »ihrem Kapital« gute Verwertungsbedingungen zu sichern. Das kann während eines Wirtschaftsbooms die Förderung von Einwanderung bedeuten, während einer Flaute Begrenzungen bis hin zur Totalabschottung. Meist ist es eine Mischung aus beidem, indem ökonomisch verwertbare Arbeitskräfte hineingelassen und nichtverwertbare draußen gehalten werden.
Das nationale Kapital hat jedoch auch ein Interesse daran, dass mehr potenzielle Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, als es unmittelbar braucht. Marx nannte dies die »industrielle Reservearmee«. Ihre Existenz dient dem Kapital einerseits dazu, Schwankungen im Bedarf an Arbeitskräften abzufedern, andererseits dazu, die Konkurrenz zwischen den Lohnabhängigen zu verstärken und damit das Lohnniveau insgesamt zu drücken.
Grenzen als Grundpfeiler moderner Staatsgewalt
Die Kontrolle der Bevölkerungsbewegungen stellt einen Grundpfeiler moderner Staatsgewalt dar. Der Kapitalismus braucht Grenzen, um die Bevölkerungsbewegungen zu managen. Kapitalisten sind einerseits auf die ständige Bewegung von Arbeitskräften angewiesen, zugleich brauchen sie aber auch einen gewissen Grad an Stabilität und einen gesicherten Zugang zu Qualifikationen. Zudem schafft die Trennung der Menschen in Staatsbürger und »Ausländer« die Möglichkeit letztere verstärkt auszubeuten und damit die Löhne aller Beschäftigten zu drücken.
Grenzkontrollen sind ein Mechanismus, der die Ausbeutung von billiger Arbeit erleichtert, indem einem Teil der Arbeiterklasse der Status illegaler Einwanderer zugeschrieben wird. »Illegal« ist, wer formal nicht berechtigt ist, sich im Staatsgebiet aufzuhalten. Das heißt jedoch nicht, dass diese »Illegalen« real nicht im Land erwünscht wären. Im Gegenteil: Ganze Wirtschaftszweige, wie die Bauindustrie oder die Landwirtschaft, würden ohne deren billige Arbeitskraft zusammenbrechen. In den USA befinden sich Schätzungen des Arbeitsministeriums zufolge mehr als die Hälfte der 2,5 Millionen landwirtschaftlichen Arbeiterinnen und Arbeiter illegal im Land. Auf den riesigen Gemüseplantagen im Süden Spaniens oder den Baustellen in deutschen Großstädten dürfte das Verhältnis ähnlich sein. Der Einsatz illegaler Beschäftigter lohnt sich nicht nur wegen der erhöhten Ausbeutungsrate, sondern auch, weil man sich ihrer leicht entledigen kann, sollten sie nicht mehr gebraucht werden.
Die Linke und das Konzept der Staatsbürgerschaft
Die Einteilung der Bevölkerung in Staatsbürger, Ausländer und »Illegale« ermöglicht eine verschärfte Ausbeutung, indem sie die Einheit der Klasse untergräbt. Da sich auch der Kampf der Arbeiterbewegungen zu großen Teilen im nationalen Rahmen abspielt und der Staat Adressat sozialer und politischer Forderungen ist, sind auch die meisten sozialen Errungenschaften auf den Nationalstaat beschränkt und damit an die Staatsbürgerschaft gebunden. Daher gab es auch in der Linken von Beginn an Auseinandersetzungen über den Umgang mit Migration und der Frage des Schutzes der Grenzen. Genau wie Slavoj Žižek trat auch schon vor über einhundert Jahren der rechte Flügel der Sozialdemokratie für eine Begrenzung der Zuwanderung ein und begründete dies mit der Verteidigung des »Fortschritts« und des erreichten Lebensstandards der Arbeiter der fortgeschritteneren Industrieländer. So wie für Žižek unregulierte Migration heute ein neoliberales Projekt darstellt, waren auch für einen Teil der Sozialdemokratie damals die Bewegungs- und Migrationsfreiheit ein Projekt der Herrschenden.
Der linke Flügel argumentierte dagegen. Karl Liebknecht schrieb: »Die völlige Gleichstellung der Ausländer mit den Inländern auch in Bezug auf das Recht zum Aufenthalt im Inlande ist die erste Voraussetzung dafür, dass die Ausländer aufhören, die prädestinierten Lohndrücker und Streikbrecher zu sein.« Seine Worte haben bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Noch immer ist das kapitalistische Interesse, trotz der allgegenwärtigen Globalisierungsrhetorik, nicht die vollständige Bewegungsfreiheit der Arbeiterklasse, sondern deren Kontrolle und Spaltung. Das Interesse der »Proletarier aller Länder« hingegen ist noch immer ihre Einheit und der gemeinsame Kampf über alle Grenzen hinweg.
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Foto: noborder network
Schlagwörter: Einwanderungspolitik, Flucht, Globalisierung, Grenzen, Migration