Die Revolution geht weiter, berichteten Aktivisten aus Ägypten bei einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Ende Juni in Berlin. Von Irmgard Wurdack und Joelle Crema
»Die Energie der Revolution ist spürbar – auch im ganz normalen Alltag,« beschrieb Hala Shukrallah, Mitbegründerin des Frauenzentrums Die neue Frau die derzeitige Situation in Ägypten. »Zum Beispiel finden plötzlich Revolutionäre Graffiti-Tage oder Konzertfestivals statt. Und wie in den ersten Tagen der Revolution schließen sich auch heute noch Menschen zu allen erdenklichen Solidaritätsgruppen und Komittees zusammen, um ihre Forderungen zu formulieren und den Alltag zu organisieren.«
Der Maschinenbauingenieur Akram Ismail, der als Vorsitzender der linken Partei Tagamo mehrere Jahre lang eng mit der lokalen Bevölkerung zusammenarbeitete, nannte als Beispiel Nachbarschaftskomittees. Diese kontrollieren in ihren Vierteln Preisentwicklungen und organisieren Schutz vor Plünderungen.
Polizei verschwunden
»Was wir erlebt haben, hat nichts damit zu tun, was man aus Büchern lernt,« erläuterte Hala. »Dank der Entschlossenheit des Volkes ist der stärkste Machtapparat binnen drei Tagen kollabiert und die Polizei verschwunden. Plötzlich standen die Menschen vor der Frage, wie sie sich und ihre Nachbarschaft schützen sollten. Wir haben ja keinen Staat, um den alten zu ersetzen.«
Aus diesem Grund habe es nach Mubaraks Sturz keine Alternative dazu gegeben, dass der Militärrat bis zu Neuwahlen die Regierungsgeschäfte weiterführt. Die Rolle des Militärs sei allerdings widersprüchlich: »Im Januar war entscheidend, dass sich das Militär auf die Seite der Revolution stellte,« sagte Hala. »Davor wurden 4000 Menschen von Soldaten verletzt, 1000 getötet – viele durch Schüsse in den Kopf. Und heute ist eines der wichtigsten Themen, dass die Militärregierung die Revolution ausbremst.«
Misstrauen gegen Militär
Hala berichtete, dass einige Gerichtsverfahren wegen Korruption eröffnet worden seien. Die Militärregierung lasse jedoch zu, dass die Prozesse erst Monate später eröffnet würden. Korrupte Politiker und Geschäftsleute haben so genügend Zeit, ihr Vermögen außer Landes zu schaffen. Auf diese Weise seien bereits mehrere Milliarden Euro »verschwunden«.
Zudem seien viele Aktivisten der Bewegung erschüttert darüber, dass das Militär auch nach Mubaraks Sturz weiter Oppositionelle inhaftiert, foltert und an weiblichen Gefangenen so genannte »Jungfräulichkeitstest« durchführt. »Die Feierstimmung, als das Militär sich der Bewegung anschloss, schlägt zunehmend um in Misstrauen und Unmut,« schloss Hala.
Streiks waren entscheidend
Dies treffe besonders auf die ägyptische Arbeiterbewegung zu, die weiter für ihre Rechte kämpft. Mai Choukri von der Vereinigung der progressiven Jugend der Revolution (Al Rabta) erläuterte, warum: »Die Arbeiterbewegung war und ist tief verwurzelt in der Revolution: Die Streiks und Sit-ins der Arbeiter waren entscheidend.
Doch die Forderungen der Arbeiterbewegung sind längst nicht umgesetzt. Bis heute hat der Militärrat die Gesetze nicht angepasst. Der alte staatliche Gewerkschaftsdachverband existiert weiter, noch immer sind die Arbeiter per Gesetz zur Mitgliedschaft gezwungen und die Mitgliedsbeiträge werden ihnen vom Lohn abgezogen. Der Kampf für unabhängige Gewerkschaften ist nach wie vor eine zentrale Auseinandersetzung.«
Brutal gegen Arbeiter
Dies gelte umso mehr, als das Militär brutal gegen Proteste und Streiks von Arbeitern vorgehe. Selbst Arbeiter, die auf die Straße gingen, weil ihre Bosse die Löhne nicht ausbezahlten, würden kriminalisiert und als Landesverräter gebrandmarkt.
Die Arbeiter erhalten jedoch viel Solidarität, wie Mai erzählte: »Die Jugend beispielsweise unterstützt Kämpfe der Arbeiter sehr aktiv. Als kürzlich ein Landarbeiter eine Strafe von 10.000 Ägyptischen Pfund bezahlen sollte, versammelten sich Jugendliche vor dem Gericht. Ihr Protest entfaltete solchen Druck, dass der Kollege freigesprochen wurde.«
Wahlgesetz stellte Hürden auf
Mit Blick auf die bevorstehenden Neuwahlen berichteten die Aktivisten, dass die Militärregierung ein neues Wahlgesetz erlassen habe, wonach nur Parteien mit mindestens 5000 Mitgliedern kandidieren dürften. Doch einzig die Gegner der Revolution seien entsprechend organisiert. Insbesondere die »Sofa-Partei«, also all jene, die sich nicht (oder nicht mehr) aktiv an Protesten beteiligen, sei anfällig für die Propaganda der Konservativen.
Die Sofa-Partei sei besonders empfänglich für die Versuche der konterrevolutionären Kräfte, den alten Polizeistaat erneut zu stärken. Ihre »Mitglieder« seien »besessen von der Frage nach Sicherheit und Ordnung,« so Akram. Sicherheit werde es jedoch niemals geben, solange 60 Prozent der Bevölkerung in Ägypten arm und die Herrschenden nicht bereit seien, soziale Privilegien abzutreten.
Frauenrechte unter Druck
Mai berichtete außerdem, dass konservative Kräfte versuchten, die Revolution und den Sturz von Mubaraks Clan für einen Backlash in der Frauenfrage zu instrumentalisieren: »Suzanne Mubarak, die Ehefrau von Mubarak etwa hat sich immerhin für Gesetze eingesetzt, die Scheidungen erleichtern, also auch Frauen der herrschenden Klasse nutzten. Die Konservativen behaupten jetzt, dass diese Gesetze im Sinne der Revolution gestrichen werden müssten, weil es Suzanne Mubaraks Gesetze seien.«
Zu den Konservativen zählten die Referenten das Militär, die Liberalen und die Muslimbruderschaft. Allerdings seien viele Anhänger etwa der Muslimbruderschaft durchaus gewinnbar für linke Politik. Die Muslimbruderschaft sei zwar groß und breit verankert, aber keineswegs ein monolithischer Block. Akram erläuterte: »Die Muslimbruderschaft ist derart geprägt von internen Auseinandersetzungen, dass sie sich in 10, 12 verschiedene Parteien aufteilen könnte. Tausende ihrer jungen Mitglieder sind bereits ausgetreten, weil sie – neidisch auf andere Gruppen – nicht auf ihre konservative Führung warten wollten.«
Linke vor Herausforderung
Laut Akram steht die Linke in Ägypten derzeit vor einer historischen Chance und Herausforderung. Sie müsse die unzähligen in den vergangenen Monaten spontan gegründeten Oppositionsgruppen vernetzen, sich gemeinsam auf eine linke Liste bei den Wahlen verständigen und breit mobilisierbare Kampagnen entwickeln. Das Potential dafür sei vorhanden.
»Nachdem sie die Initialzündung gegeben haben,« so Akram »ist die Jugend heute enttäuscht, dass die Revolution stagniert. Viele Jugendliche sind bereit, auf der Straße zu bleiben und für ihre Forderungen zu kämpfen. Wenngleich es nicht leicht ist, sie davon zu überzeugen, ist es unsere Aufgabe als Linke heute, diese Aktivisten für den Aufbau einer Partei zu gewinnen.«
Hala appellierte an die Teilnehmer der Veranstaltung, die Revolutionen in den arabischen Ländern als Teil eines gemeinsamen weltweiten Kampfes gegen die neoliberale Politik von G8, IWF, Weltbank zu verstehen. »Mit internationalen Handelsverträgen, etwa dem zum Schutz geistigen Eigentums (TRIPS) sorgen die Industriestaaten dafür, dass die transnationalen Konzerne immer reicher und die Bauern immer ärmer werden. Denn die Bauern müssen den Multis neben dem Saatgut selbst auch deren Patentrechte bezahlen. Der Sturz von Ben Ali und Mubarak hat die Multis und ihre Staaten bis aufs Mark erschüttert – immerhin sind damit die mächtigsten Diktaturen, die sie aufgebaut und jahrzehntelang gestützt haben, plötzlich wie die Fliegen umgefallen.«
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