Linke Parteien sollten sowohl gegen Antisemitismus kämpfen als auch Solidarität mit dem palästinensischen Volk üben. Beides stärkt sich gegenseitig, schreibt Michael Warschawski vom Alternative Information Center in Ostjerusalem über die umstrittene Erklärung der LINKEN
Roger Cukierman, zu Beginn des 21. Jahrhunderts Präsident der Jüdischen Gemeinde Frankreichs, erzählte der israelischen Tageszeitung Ha'aretz voller Stolz, dass er Ariel Scharon empfohlen habe, die heftige internationale Kritik an dem Massaker Israels im Gazastreifen im Oktober 2000 durch Eröffnung einer neuen Front zu bekämpfen: der Front des Antisemitismus. Das geschah nach dem weltweiten Schock über die im französischen Fernsehsender France 2 gezeigten Bilder von der Erschießung des palästinensischen Jungen Muhammad al-Dura, der auf der Straße in den Armen seines Vaters starb.
Der Regierung in Israel fiel zu den schrecklichen Bildern vom Mord an Dutzenden unbewaffneten Kindern und jungen Leuten durch Scharfschützen nichts ein. Cukierman sagte Ariel Scharon: »Statt den Versuch zu unternehmen, unbefriedigende Entschuldigungen abzugeben, sollten wir an einer neuen Front angreifen: Antisemitismus.« Alle, die sich gegen die Verbrechen Israels aussprechen, sollten des Antisemitismus bezichtigt werden, und der Erfolg dieser Strategie übertraf alle Erwartungen: Journalisten und Intellektuelle schwiegen, damit sie nicht als Antisemiten beschuldigt würden, und als sich doch jemand zu äußern traute, wurde er in einen Krieg gezwungen bis zu gerichtlichen Auseinandersetzungen, um zu beweisen, dass er nicht antisemitisch sei – eine schreckliche Beschuldigung in Europa, fünfzig Jahre nach Auschwitz.
Antisemitismus in Europa
Diese Waffe schien nach zehn Jahren übermäßigen Gebrauchs ihre Wirkung verloren zu haben und verschwand langsam wieder in der Versenkung. Und doch ist jetzt dieselbe inakzeptable Verbindung von Kritik an der israelischen Politik mit Antisemitismus zurückgekehrt, sogar in den Reihen einer linken Partei, die auf eine Geschichte des Kampfes für Menschen- und Arbeiterrechte zurückblicken kann.
Zunächst ein paar klärende Anmerkungen zur Frage von Antisemitismus. Erstens: Antisemitismus gibt es in Europa, auch wenn alle Untersuchungen darauf hindeuten, dass er im Vergleich zu den 1950er Jahren klar auf dem Rückzug ist. Antisemitismus ist Teil der Kultur Europas und ein kulturelles Phänomen, das nicht in einem oder zwei Jahrzehnten verschwindet.
Zweitens: Hier handelt es sich um christlichen und weißen Antisemitismus, nicht um das, was als »muslimischer Antisemitismus« von Einwohnern arabischer Herkunft, die in vernachlässigten europäischen Stadtvierteln leben, bezeichnet wird. In diesem Zusammenhang sind die Untersuchungen eindeutig: Antijüdische Äußerungen (Graffiti, Angriffe auf Juden) in diesen Stadtvierteln, in denen die Menschen sich machtlos fühlen, sind relativ vereinzelte Phänomene, vor allem sind sie eine dumme Reaktion Einzelner gegen das Vorgehen Israels im besetzten palästinensischen Gebiet.
Rassismus nimmt zu
Drittens: Es gibt Antisemitismus, wenn auch unbedeutend, in den Reihen der Linken und der Solidaritätsbewegung mit Palästina. Wie oben gesagt, verschwindet ein kulturelles Phänomen nicht innerhalb einer Generation durch einen Federstrich, auch wenn die Linke ihn in ihren Reihen im Großen und Ganzen am erfolgreichsten bekämpft hat.
Und viertens: Mit der Verschärfung der wirtschaftlich-sozialen Krise in Europa nehmen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu.
Vor diesem Hintergrund ist das Zusammenwürfeln von Kritik an Israel, einschließlich klarer antizionistischer Positionen, mit Antisemitismus eine Manipulation der Israel nahestehenden Lobby und muss entsprechend verurteilt werden, auch deshalb, weil es zur Verharmlosung von Antisemitismus führt.
Es ist sehr traurig zu sehen, dass die linken Parteien immer noch in diese für sie ausgelegte Falle tappen, so wie gerade in Deutschland. In einer besonders verwirrenden politischen Erklärung verwendet die politische Führung der Partei Die Linke den Vorwurf des Antisemitismus, um zu rechtfertigen, dass sie sich vor der Solidaritätsbewegung mit den Palästinensern drückt, der von Palästinensern angeführten Kampagne Boykott, Investitionsabzug und Sanktionen (Boycott, Divestment, Sanctions – BDS) und der Schiffsflottille, die gegen die Belagerung des Gazastreifens durch Israel organisiert wird.
Solidarität mit Palästinensern
Die Erklärung der Linke-Führung ist Ergebnis von zweierlei: Entweder leidet die Führung der Partei Die Linke unter besorgniserregender politischer Dummheit oder sie tut nur so, um mögliche Kritik der Freunde Israels abzuwehren, was ebenso dumm ist, denn eine linke Partei wird niemals die Sympathien Israels erwerben, selbst dann nicht, wenn ihre Mitglieder vor jedem Treffen die israelische Nationalhymne singen und auf Demonstrationen die israelische Fahne schwenken.
Der Kampf gegen Antisemitismus muss Teil des Kampfes sein, den jede linke Partei zu führen hat, ohne Kompromisse, gegen Rassismus, ob er sich gegen zugewanderte Arbeitskräfte, andere Einwanderer, Roma und so weiter richtet. Solidarität mit dem palästinensischen Volk ist Teil des antikolonialen Kampfes, zu dem jede linke Partei verpflichtet ist. Die beiden Arenen ergänzen und stärken einander, und wenn eine ihres Inhalts beraubt wird, verliert die zweite ihre moralische Begründung und politische Wirkung.
Es wäre angemessen, wenn die Führung der Partei Die Linke ihre Erklärung zurückzöge, der politische Weisheit ebenso fehlt wie moralische Integrität.
Zu diesem Text:
Michael Warschawski ist ein langjähriger israelischer Friedensaktivist und Kommunist, der die Idee eines binationalen Staates für Juden und Palästinenser vertritt. Sein Artikel erschien zuerst beim Alternative Information Center. Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning.
Mehr im Internet:
- Offener Brief linker Israelis an die Linksfraktion:
In einem Offenen Brief an die Fraktionsmitglieder der Partei DIE LINKE. kritisieren mehr als 100 israelische Aktivisten den Fraktionsbeschluss vom 7. Juli. Die Parteimitglieder sind aufgefordert, stattdessen die globale Solidaritätsbewegung für die Rechte der Palästinenser zu unterstützen, zu der sich auch die Unterzeichnenden zählen.
Mehr auf marx21.de:
- Zur Nahost-Erklärung der Linksfraktion: Unter der Flagge des Kampfes gegen Antisemitismus hat die Bundestagsfraktion der LINKEN eine problematische Erklärung zum Nahost-Konflikt verabschiedet. marx21 ordnet den Text ein und nimmt dazu Stellung