Der Rassismus gegen Muslime und Muslima nimmt in Frankreich immer bedrohlichere Ausmaße an. Der in Paris lebende Autor Nick Riemer erklärt die Hintergründe der zunehmenden Islamfeindlichkeit und fordert einen Kurswechsel der Linken: Sozialistische Politik heißt, Muslime gegen Diskriminierung zu verteidigen
Das »Burkiniverbot« in Cannes und ca. 30 anderen Städten wurde vom französischen Verwaltungsgericht vorerst gestoppt, es war aber nur die neueste und absurdeste der islamfeindlichen Schikanen, denen die Muslime in Frankreich ausgesetzt sind. Der französische Staat hat seine muslimischen Bürger seit Jahrzehnten in unterschiedlichem Maße ausgegrenzt und benachteiligt.
Die neue Islamfeindlichkeit
Die dschihadistischen Anschläge in Paris im Januar und Dezember des letzten Jahres sowie 2016 in Nizza und Rouen haben die Situation jetzt eskalieren lassen. Von 3500 Razzien in diesem Zeitraum haben gerade mal sechs zu Ermittlungen geführt. Im Dezember gaben die Behörden in Eure und Loire zu, dass sie gegen Muslime auf rein »präventiver« Basis vorgehen, ohne dass ein spezieller Verdacht vorliegen würde. Kinder mussten zusehen, wie schwerbewaffnete Polizisten ihren Eltern Handschellen anlegen oder sie aus ihren Betten zerren. In den ersten drei Monaten des Ausnahmezustandes, den der Staat nach den Bataclan-Anschlägen im letzten Jahr ausgerufen hatte, wurden 274 Personen unter Hausarrest gestellt, grösstenteils Muslime. Die Polizei geht vermehrt nach rassistischen Kriterien vor (Racial Profiling). Moscheen wurden gewaltsam gestürmt, die Besucher gedemütigt und erniedrigt, teilweise mit Polizeihunden bedroht. Ungefähr zwanzig Moscheen mussten bereits schließen, bald werden weitere folgen.
Auch politische Organisationen mit Verbindung zum Islam sind von der Auflösung bedroht; Demonstrationen, z.B. für Palästina, wurden verboten, die BDS-Bewegung [AdÜ Boycott, Divestment and Sanctions/ Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen] kriminalisiert. Muslimische Flüchtlinge sind noch stärker bedroht, die Regierung verbreitet antiislamische Parolen, in Calais und anderswo werden Flüchtlingslager aufgelöst. Inzwischen hat auch Frankreich den Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei abgesegnet, so dass syrische Flüchtlinge, die mit dem Boot auf den griechischen Inseln ankommen, in die Türkei abgeschoben werden.
Die Wurzeln der Islamfeindlichkeit
Politikerinnen und Politiker in Frankreich ignorieren dabei die Tatsache, dass die langjährige staatlich geförderte Islamfeindschaft sowie die Militäreinsätze in islamischen Ländern dem Extremismus in die Hände gespielt haben.Die politische Klasse weigert sich zu sehen, dass ihre ökonomische und soziale Politik die Ausgrenzung vorantreibt, die eine Minderheit von Muslimen dazu bringt, sich dschihadistischen Organisationen wie ISIS anzuschließen.
In ihrem Buch »Wie die französischen Eliten das ,muslimische Problem‘ geschaffen haben« beschreiben die beiden Soziologen Abdellali Hajjat und Marwan Mohammed wie es in allen Bereichen der französischen Kultur und Politik zu einem massiven Anstieg von islamfeindlicher Propaganda kam. Nach ihnen ist »die Konstruktion eines ‚Islamproblems‘ in den letzten Jahren für die französischen und europäischen Eliten einer der größten gemeinsamen Bezugspunkte« über das gesamte politische Spektrum hinweg. Islamfeindlichkeit, so sagen sie, ist »die Bühne, auf der die strukturelle und ideologische Zukunft der französischen Rechten vorgeführt wird«.
Doch wenn es darum geht, die Rechte der muslimischen Bevölkerung in Frankreich zu schützen, ist von der Linken, und selbst einem Großteil der radikalen Linken, wenig zu sehen. Die mangelnde Bereitschaft, sich für Religionsfreiheit einzusetzen, verhindert die Solidarität der Linken mit muslimischen Flüchtlingen, mit dem Ergebnis, dass eines der dringlichsten Probleme Europas von vielen Aktivistinnen und Aktivisten ignoriert wird.
Eine Tradition der Gewalt
Heute leben ungefähr fünf Millionen Muslime in Frankreich. Das sind ca. 7,5 Prozent der Bevölkerung, mehr als in irgendeinem anderen europäischen Land. Davon gibt nur ein Drittel an, die Religion tatsächlich zu praktizieren, seit einigen Jahrzehnten steigt dieser Anteil . Die ersten muslimischen Zuwanderer kamen im Zuge von Frankreichs gewalttätiger Kolonialpolitik in Nordafrika. Die gegenwärtige Beziehung zwischen dem Staat und seiner muslimischen Bevölkerung, die größtenteils der Unterschicht angehört, ist geprägt von Imperialismus und wirtschaftlicher Ausbeutung.
Im Gegensatz zu anderen Kolonien war Algerien offiziell ein Teil von Frankreich, so dass Algerier problemlos nach Frankreich kommen konnten. Dort erwartete sie jedoch systematische und manchmal brutale Repression. Tatsächlich ist der Konflikt mit einer unterdrückten muslimischen Bevölkerungsgruppe in Frankreichs politische Struktur eingeschrieben: Die gegenwärtige Verfassung, welche die‚ fünfte Republik‚ hervorgebracht hat, war eine Antwort auf die Staatskrise, die der Widerstand in den muslimischen Kolonien ausgelöst hatte.
Als General De Gaulle 1958 eine Verfassungsreform anstrebte, tat er dies, um die Autorität des Präsidenten zu sichern, die in den Wirren des algerischen Unabhängigkeitskriegs geschwächt worden war. Die FLN (Front de Libération Nationale, Nationale Befreiungsfront, sozialistisch geprägt) hatte dem französischen Staat erheblichen Schaden zugefügt. 1958 war ein Treibstofflager bei Marseille gesprengt worden und brannte mehrere Tage lang.
Als Antwort darauf verstärkte der Staat seine repressiven Maßnahmen. 1961 – ein Jahr vor Algeriens Unabhängigkeit – starben mindestens einhundert Algerier bei einem Polizeimassaker, als sie gegen die Ausgangssperren, die ihnen auferlegt worden waren, protestierten. Ein Konflikt dieser Größe ist nicht leicht zu vergessen. Nach der Unabhängigkeit lehnten weite Teile der in Frankreich lebenden Algerierinnen und Algerier die französische Staatsbürgerschaft ab, weil sie sich dadurch mit der Nation, die sie verfolgt hatte, identifiziert hätten.
Selbst heute noch gibt es unter den französischen Rechten Befürworter der alten Kolonialpolitik. Viele »Pieds-noirs« (»Schwarzfüße«, ehemalige französische Kolonisten) und Veteranen der Kolonialkriege leben im Südosten Frankreichs. Diese Region ist, wenig überraschend, eine der Hochburgen der extremen Rechten, mit einer langen Tradition rassistischer Gewaltverbrechen. Landesweit haben Studien gezeigt, dass in den Regionalwahlen 2015 über fünfzig Prozent von Polizei und Armee die FN (Front National) – die aufstrebende Partei der extremen Rechten – gewählt haben.
Muslime und die Arbeiterbewegung
Um die politische Geschichte der Muslime in Frankreich zu verstehen, muss neben dem postkolonialen Kontext auch deren ökonomische Bedeutung und ihre Beziehung zur Arbeiterbewegung betrachtet werden. 1904 arbeiteten bereits fünftausend Muslime in der französischen Industrie und im Bergbau. Im Gegensatz zur heutigen Zeit wurde in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts das Ausüben einer Religion von Staat und Arbeitgebern gefördert, obwohl man gerade die Trennung von Staat und Kirche vollzogen hatte.
Das politische Establishment sah Religion als nützliches Werkzeug gegen den Einfluss der Gewerkschaften auf nordafrikanische Arbeiterinnen und Arbeiter. Teilweise wurden Gebetsräume bereit gestellt, ein bemerkenswerter Kontrast zu unserer Zeit, in der der private Sektor und der Staat jegliche Darstellung des Islams in der Öffentlichkeit verhindern wollen. Das den muslimischen Beschäftigten, die in Elendsvierteln leben mussten, ihr Gebet erlaubt wurde, war eine symbolische Geste, die den Staat nicht viel kostete – die Verbesserung der Lebensumstände wurde erst durch militanten Widerstand erkämpft.
Tatsächlich unterstützten viele Muslime in den 1930er Jahren die linke Volksfront-Regierung (Front Populaire). Auch heute haben viele Muslime progressive Ansichten zu den meisten sozialen Fragen (Sozialhilfe, Umverteilung, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit) und wählen eher links. 1982 rückte der Islam, im Kontext von Streiks gegen Massenentlassungen in der Automobilindustrie, in den Fokus der französischen Politik. Beschäftigte mit Migrationshintergrund lösten einen bedeutenden Konflikt aus, als sie in Aulnay und Poissy die Werke von Citroen und Talbot besetzten, mehr oder weniger unterstützt durch die Gewerkschaften. Die Fabrikbesitzer glaubten, die migrantischen Arbeiterinnen und Arbeiter wären von den Gewerkschaften manipuliert worden, und drängten auf Polizeieinsätze und Entlassungen. Dies war das erste Mal, dass das Wort »Muslim« im öffentlichen Diskurs für einen Teil der Bevölkerung verwendet wurde und die zuvor gebräuchlichen klassenbasierten Bezeichnungen ersetzte.
Die islamfeindlichen Impulse der Eliten
Die Einführung dieses Begriffs wird manchmal mit der Ausbreitung neoliberaler politischer Ideen in Frankreich in Verbindung gesetzt. Oft wird der wachsende Hass auf Migranten der Verbreitung rassistischer Vorurteile zugeschrieben – dies wird auch als Grund für die steigenden Wahlerfolge der Front National angegeben. Den Autoren Marwan Mohammed und Abdellali Hajjat zufolge trifft diese Erklärung nicht den Kern des Problems. Sie beschreiben, dass es der Staat selbst, von dem die islamfeindlichen Impulse ausgehen und nicht unabhängige soziale Entwicklungen.
Als Beispiel führen sie die Einwandersungspolitik nach der algerischen Unabhängigkeit an: Seit 1966 setzt sich eine neue Einrichtung – die DPM (Direction de la population et des migrations – Direktion für Bevölkerung und Migration AdÜ) für eine Einschränkung algerischer Einwanderung nach Frankreich ein, für eine Reduzierung von Familienzusammenführungen und für eine verstärkte bürokratische Erfassung von Migranten. Unter Präsident Valéry Giscard d’Estaing — gewählt 1974 — wurde jegliche Einwanderung von außerhalb Europas unterbunden. Zwischen 1978 und 1980 versuchte Giscard angesichts steigender Arbeitslosigkeit sogar, Hunderttausende von Algerierinnen und Algeriern auszuweisen, und ihre Kinder – französische Staatsbürger – gleich mit. Das Parlament konnte dies verhindern.
Hajjat und Mohammed glauben, »dass diese feindselige Haltung der Regierung nicht eine Reaktion auf die Ölkrise 1973 war. Sie war hauptsächlich das Ergebnis einer Initiative von Politikern, die davon überzeugt waren, dass die Einwanderung ein Problem war, das kontrolliert werden musste… Der Einwandersungsstop wurde nicht in erster Linie mit Arbeitslosigkeit oder der Wirtschaftslage gerechtfertigt, sondern durch das demografische Ungleichgewicht zwischen Frankreich und den Ländern der Dritten Welt (die französische Gesellschaft wurde angeblich von »anarchischer Einwanderung« bedroht) [und] das mögliche Risiko eines neuen Mai 68, unterstützt durch eine Masse von ausländischen Arbeitskräften…«. Sie schließen daraus, dass der Anstieg der Islamfeindlichkeit in Frankreich nicht von einem organischen Rassismus innerhalb der französischen Öffentlichkeit kommt. Statt dessen entstand diese nach einem altbekannten Muster aus dem Bedürfnis der Eliten, den Widerstand der Arbeiterklasse zu kontrollieren.
Rechtliche Grundlagen der Islamfeindlichkeit
Die Repression gegen Muslime wird ideologisch begründet durch drei miteinander verbundenen Schlüsselwörter: Säkularismus (Laizismus), Republikanismus und Feminismus. Politischer Säkularismus – niedergelegt 1905 in dem berühmten Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat – ist tief in der französischen Gesellschaft verwurzelt, sein Ursprung liegt in dem Kampf gegen die reaktionäre Macht des Katholizismus nach 1789. Antiklerikalismus, der sich ursprünglich gegen katholische Priester richtete, ist Teil der französischen Kultur, und ist jetzt oft ein Freifahrtschein für antimuslimische Tiraden.
Wenn Charlie Hebdo rassistische Karikaturen von Muslimen veröffentlicht, was regelmäßig der Fall ist, werden diese erklärt – und in der Tat gefeiert – als Behauptung eines unverwechselbar französischen Säkularismus und Antiklerikalismus. Das Recht, den Islam lächerlich zu machen, ist zu einem De-facto-Symbol der Republik selbst geworden.
Der Laizismus entspringt in direkter Linie dem Republikanismus, der Ideologie der Revolution von 1789, die Freiheit und Gleichheit forderte. Im Gegensatz zu anderen bürgerlichen Demokratien ist der französische Republikanismus an einen starken zentralistischen Staat gebunden und fühlt sich noch immer den ursprünglichen Idealen der Revolution verpflichtet – zu deren Zeit der Islam natürlich noch kein »politisches Problem« darstellte.
Die aktuelle französische Verfassung drückt das so aus: »Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik. Es garantiert die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, ungeachtet deren Herkunft, Rasse oder Religion. Es respektiert alle Überzeugungen.« Wenn sich französische Politikerinnen und Politiker heute auf den Republikanismus berufen, tun sie dies oft, um die Neutralität des Staates angesichts individueller Unterschiede zu betonen, und die Allgemeingültigkeit der Ideale der Republik zu bekräftigen. Diese Neutralität, so argumentieren sie, führt dazu, dass allen als Bürgerinnen und Bürger die gleiche Behandlung zukommt. In der Praxis jedoch können diese Appelle an den Republikanismus soziale Ungerechtigkeiten verschleiern und somit festigen. Sie rationalisieren die Dominanz der herrschenden Klasse, indem sie deren Vertretern ein maßgeschneidertes Argument für jegliche politische Entscheidung liefern.
Manuel Valls, derzeitiger Premierminister, hat sich immer wieder als ein Meister genau dieser Form von ideologischer Manipulation erwiesen. 2013 gab er als Innenminister »Republikanismus« als Begründung für die Zerstörung von Roma-Siedlungen und die Ausweisung von Tausenden Roma an. Auch seine radikale Reaktion auf die Anschläge im November wurde mit »Republikanischen« Argumenten gerechtfertigt.
Ungleichheit vor dem Gesetz
Wie Säkularismus und Republikanismus jeweils ausgelegt werden, hängt natürlich von der Religiosität der einzelnen Bürgerinnen und Bürger ab. In der Vergangenheit hat der Säkularismus es Priestern ermöglicht, ins Parlament gewählt zu werden und dort in religiöser Kleidung zu erscheinen. Tatsächlich hatte das Parlament, als es 1905 das Gesetz verabschiedete, gegen eine Änderung gestimmt, die es Priestern verbieten sollte, ihr Priestergewand öffentlich zu tragen.
In den letzten Jahrzehnten erhielt der Säkularismus allerdings eine repressive Neuinterpretation: Er besagt jetzt, dass der Staat das Recht hat, den Bürgerinnen und Bürgern die Symbole ihrer kulturellen oder religiösen Zugehörigkeit abzunehmen. Das Resultat: Muslime müssen auf ein zentrales Element ihrer Identität verzichten, wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegen wollen.
Der Streit um das Kopftuch
Das 2004 verabschiedete Gesetz zum »säkularen Charakter der Schulen« ist das berühmteste Beispiel dieser andauernden Ausgrenzung des Islam. Dieses Gesetz verbietet es Schülern, »auffällige« religiöse Zeichen zu tragen, wird aber je nach Religion verschieden durchgesetzt. Tatsächlich versicherte der damalige Premier, Edouard Balladur, als dieses Gesetz 1994 in einer frühen Version vorgeschlagen wurde, den Repräsentanten des französischen Judentums, dass man nicht gegen Studierende, die eine Kippa tragen, vorgehen würde.
Junge Muslimas, die in der Schule kein Kopftuch mehr tragen dürfen, sind am stärksten betroffen. Als direktes Echo der öffentlichen Entschleierungen, wie sie die Franzosen in Algerien durchführten, wurden 2014 hundertdreißig Fälle von Schülerinnen bekannt, die für das Tragen eines Kopftuchs vom Unterricht ausgeschlossen wurden. Sogar lange Röcke wurden als religiöse Symbole interpretiert, die einen Schulverweis rechtfertigen.
Die staatlich sanktionierte Missachtung des Säkularismus
Die Heuchelei dieses Gesetzes und seine Funktion als Instrument antimuslimischer Repression sind offensichtlich: In den östlichen Departements Elsass und Mosel, die 1905 noch zu Deutschland gehörten, gib es nicht mal die Trennung von Staat und Kirche. Rabbis, Priester und Pfarrer bekommen dort ihre Gehaltschecks von der Regierung – aber eine muslimische Schülerin kann von einer öffentlichen Schule verwiesen werden, wegen der Wahl ihrer Kopfbedeckung. Die Regierung toleriert nicht nur diese Eigenartigkeit in Elsass-Mosel, sie feiert sie sogar. Valls hat bei mehreren Gelegenheiten verkündet, »Der Präsident, der Premierminister und die Regierung setzen sich für die Besonderheit der bestehenden Regelungen in Elsass-Mosel ein.«
Die staatlich sanktionierte Missachtung des Säkularismus geht oft noch weiter. Im Jahre 2013 stellte im siebten Stadtbezirk der Mittelmeer-Metropole Marseille der Bezirksbürgermeister Stéphane Ravier vom rechtsradikalen Front National provokativ eine Weihnachtskrippe in einem staatlichen Gebäude auf , – ein direkter Gesetzesverstoß – und kam ohne Strafe davon. Nur bei muslimische Frauen, so scheint es, wird die Trennung von Kirche und Staat durchgesetzt. Das ursprüngliche Gesetz von 1905 sollte den Einfluss des Katholizismus auf den Staat unterbinden. In den Schulen ist seine offensichtlichste Anwendung, Lehrerinnen und Lehrer als Vertreter des Staates daran zu hindern, offen ihre religiöse Identität zu zeigen. Inwiefern Schülerinnen den Staat repräsentieren und damit den Säkularismus durch das Tragen von Kopftüchern bedrohen ist nie angemessen erklärt worden.
Die Vorstellung, das dies so ist, ist neu: 1989 wiesen die Gerichte ein Kopftuchverbot für Schülerinnen zurück. Das Gesetz von 2004 wird üblicherweise als direkte Antwort auf die Anschläge in den USA am 11. September und dem darauffolgenden »Krieg gegen den Terror« gesehen. Wie viele Kritiker bemerkt haben, schließt das Gesetz von 2004 paradoxerweise bestimmte Teile der Öffentlichkeit – muslimische Schülerinnen – von öffentlichen Schulen aus.
Instrumente staatlicher Repression
Darüber hinaus normalisiert das Verbot den Einsatz des Bildungsapparates als Instrument staatlicher Repression. Zum Beispiel hielt die Regierung nach den Charlie Hebdo Anschlägen die Lehrerinnen und Lehrer dazu an, Schüler zu melden, die Zeichen von islamistischer Unterstützung für diese Anschläge zeigten, und führte so die Logik des Kopftuchgesetzes fort. Wenn das nationale Schulwesen wirklich alle jungen Menschen gleich behandeln soll, macht dieses Gesetz keinen Sinn. Stattdessen beweist es, dass die wahre Bedeutung des Schulsystems darin liegt, die Schülerinnen und Schüler so umzuformen, dass sie sich der französischen Gesellschaft und Kultur anpassen.
Anders ausgedrückt: die Behörden haben den Republikanismus als Einheitsschablone für französisches Bürgertum verordnet – dieser Schachzug gewährleistet die ideologische Herrschaft des Establishments über den Rest einer natürlicherweise vielfältigen Gesellschaft. Die Schulen sind in diesem Fall ein wichtiges Instrument staatlicher Kontrolle über muslimische Frauen. Dies ist nur ein weiteres Beispiel für die symbolische Unterdrückung, die seit langem von dem französischen Bildungswesen mit seinem zentralistischen und autoritären Charakter ausgeht.
Niemand, der Erfahrung mit französischen Schulen oder Universitäten hat, wird bestreiten, in welchem Ausmaß diese ihre Schülerinnen und Schüler und Studierende an gewissen starren Normen ausrichten. Dabei unterstreichen sie ein zentrales Element der republikanischen Ideologie: Das mit den Worten von Joan Wallach Scott, Gleichheit von Gleichförmigkeit kommt. Anstatt die Schülerinnen und Schüler zu ermutigen, ihr individuelles Potenzial für das Gemeinwohl einzusetzen, formt sie das französische Bildungssystem zu akzeptablen Bürgerninnen und Bürgern – ein Prozess, der die eigenen sozialen und intellektuellen Fähigkeiten der jungen Menschen genauso oft unterdrückt, wie er sie fördert. Das dreiste Selbstbewusstsein dieser Ideologie scheint 1989 in einem offenen Brief der Feministin Elizabeth Badinter an den Bildungsminister durch, der darauf drängt, dass Kopftuch tragende Schülerinnen aus den Schulen entfernt werden:
»Sie sagen, Herr Minister, dass das Ausschließen von Menschen [von der Schule wegen Kopftuchtragen] nicht akzeptabel ist. Wir sind von Ihrer Güte berührt, aber unsere Antwort . . . ist, dass es akzeptabel ist, Dinge zu verbieten. Ein Ausschluss ist nur diskriminierend, wenn er sich gegen einen Schüler richtet, der den Regeln einer Schule gehorcht. Wenn es einen Schüler betrifft, der gegen diese Regeln verstoßen hat, hat es Disziplinarcharakter. Die aktuelle Verwirrung von Disziplin und Diskriminierung ruiniert die Disziplin.
Und wenn Disziplin nicht mehr möglich ist, wie können die Disziplinen gelehrt werden? Wenn das Gesetz nur für jene gilt, die bereit sind, es zu erfüllen, wie soll ein Lehrer seinen Beruf ausüben?«
Für Badinter und ihre Mitunterzeichner, sind also Staatsautoritarismus und Kontrolle ein wesentlicher Bestandteil der öffentlichen Bildung. Oder vielleicht auch nur eine effektiver Deckmantel für Bigotterie: im Januar dieses Jahres sagte Badinter, dass die Menschen keine Angst haben sollten; als islamfeindlich bezeichnet zu werden.
Die Linke und die Islamfeindlichkeit
Vielleicht weniger bekannt ist, dass führende Mitglieder der wichtigsten revolutionären Organisationen des Landes – Arbeitskampf (LO) und die Revolutionäre Kommunistische Liga (LCR) – eine wichtige Rolle bei den Ereignissen gespielt haben, die zu dem Gesetz von 2004 führten. Denn auch sie befürworteten den Ausschluss von zwei Kopftuch tragenden jungen Erwachsenen aus der Schule. Daraus sollte sich lawinenartig das wichtigste politische Ereignis in Frankreichs Beziehung zum Islam vor ISIS entwickeln.
Der Fall Lévy und die Linke
Alma und Lila Lévy, die Schülerinnen, um die es ging, waren nicht beispielhaft für die stereotypischen Probleme bei der Integration von Muslimen im zeitgenössischen Frankreich, wie häufig angenommen wird. Sie wuchsen nicht in einer streng muslimischen Familie auf: Ihre Mutter, eine Lehrerin, hatte einen muslimischen Hintergrund, war aber katholisch getauft worden, der Vater war ein linker jüdischer Anwalt.
Keiner der Eltern praktizierte eine Religion, und die Entscheidung der Mädchen, das Kopftuch zu tragen, war persönlich. Die nationale Kontroverse, die durch ihre Entscheidung ausgelöst wurde, ist in vielerlei Hinsicht bis heute zu spüren. Wie ihr Vater, Laurent Lévy, betont, überwindet die Frage der Islamfeindlichkeit und insbesondere jene des Kopftuches in der Schule, die sonst übliche politische Spaltung der Linken. Auch der kommunistische Bürgermeister von Aubervilliers, dem Pariser Vorort, in dem sie lebten, unterstützte die Vertreibung der Schülerinnen.
In der Tat ist der Versuch, muslimische Kleidung zu verbieten, fast schon eine Tradition in kommunistischen Kreisen geworden: Ein Gesetz von 2010, den Niqab (vollständiger Gesichtsschleier) in der Öffentlichkeit zu verbieten, wurde durch einen kommunistischen Abgeordneten, André Gerin, vorgeschlagen, zusammen mit einem anderen, rechtsgerichteten Abgeordneten. Die Debatte geht weiter: Im Zuge der jüngsten Angriffe in Nizza hat sich eine Reihe von rechten Politikern für das völlige Verbot des Kopftuchs im öffentlichen Raum und die Erweiterung des Kopftuchverbots an Universitäten stark gemacht, und natürlich herrscht an einigen französischen Stränden seit kurzem ein Burkiniverbot. Wenn auch einige prominente Mitglieder von linken Organisationen die Anti-Kopftuch Attacken anführten, sind sich ihre Genossinnen und Genossen bei weitem nicht einig.
Die Spaltungen in der NPA
Linke Gruppen und zivile antirassistische Organisationen sind in der Frage gespalten. Im März 2010 kam diese Spannung an einen Höhepunkt, als die junge Neue Antikapitalistische Partei (NPA) – der Nachfolger des LCR – Ilham Moussaid, die ein Kopftuch trägt, bei den Regionalwahlen aufstellte. Die Spaltungen in der NPA, die durch Moussaids Kandidatur aufgedeckt wurden, sind noch immer vorhanden und waren ein wichtiger – vielleicht sogar der wichtigste – Faktor in der bis heute sichtbaren Schwächung der Partei. Ein führendes Mitglied, Denis Godard, kritisierte die Dogmatik des Anti-Kopftuch Lagers mit dem Argument, dieses würde es vorziehen, dass »die kollektive Energie der NPA mehr auf allgemeine programmatische Debatten und propagandistisches Profilieren orientiert wird als auf praktische und politische Interventionen in der Bewegung.«
Jene, die eine kopftuchtragende Frau von der Mitgliedschaft in einer revolutionären Partei ausschließen würden, missachten die Grundsätze der marxistischen Tradition. Rosa Luxemburg, um nur ein Beispiel zu nennen, stellte eindeutig fest, dass der bürgerliche Antiklerikalismus bekämpft werden muss, nicht unterstützt:
»Die Sozialisten müssen gegen die Kirche kämpfen, die eine anti-republikanische und reaktionäre Macht darstellt, nicht um sich dem Antiklerikalismus der Mittelklasse anzuschließen, sondern um diese abzuschaffen. Der unablässige Guerillakrieg, der in den letzten zehn Jahren gegen die Priester geführt wurde, ist für die französischen Republikaner der Mittelklasse eines der besten Mittel, die Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse von sozialen Fragen abzulenken, und so den Klassenkampf zu schwächen«.
Die Politiker des Mainstreams haben Luxemburg offenbar gründlicher studiert als einige Revolutionäre. Bei verschiedenen Gelegenheiten hat die Regierung den Islam benutzt, um ihre Agenda durchzusetzen, indem die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von neoliberalen Reformen und ähnlich sensiblen Themen abzulenken. Ein Beispiel, mit der Kopftuchaffäre von 2003 gingen die umstrittenen Reformen des Rentengesetzes unter der Regierung von Jean-Pierre Raffarin einher.
Nuit Debout: Die verpasste Chance
Wenn schon die militante Linke beim Thema Islamophobie ein trauriges Bild abgibt, stehen die Dinge näher an der Mitte noch schlimmer. Die bekannte linke Persönlichkeit, der Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon, vertritt eine stark republikanisch-nationalistische Position. 2011 ging er so weit, Gebete auf der Straße verbieten zu wollen. Somit fehlt ihm die politische Glaubwürdigkeit für eine ernsthafte Opposition gegen anti-muslimische Angriffe.
Was die Sozialistische Partei betrifft, stellt die Normalisierung antimuslimischer Tendenzen nur ein Element ihrer langjährigen ideologische Auflösung dar. Die offizielle antirassistische Bewegung – von den Sozialisten in großen Teilen kontrolliert – hat so gut wie keine Unterstützung für Muslime angeboten. Liberale Intellektuelle haben auch eine wichtige Rolle bei der Stärkung der staatlichen Feindseligkeit gegenüber dem Islam im In- und Ausland gespielt: Nach dem Anschlag im November 2015, reihten sich zahlreiche Schriftsteller und Wissenschaftler in die Parteilinie ein und lieferten ideologische Grundlagen für die Ankündigung einer militärischen Antwort seitens der Regierung.
2003 führte die Unzufriedenheit mit dem latenten Rassismus der liberal-feministischen Linken zur Gründung einer neuen Gruppe, der Bewegung – und später Partei – der indigenen Volksrepublik (PIR). Diese verschreibt sich dem »Kampf gegen alle Formen der imperialen, kolonialen, und zionistischen Herrschaft, auf denen sich die Überlegenheit der Weißen gründet in Frankreich und auf internationaler Ebene.« Das Hauptziel der PIR wird folgendermaßen dargestellt:
»Die Vereinigung aller Räume des Widerstands, die von Migranten und ihren Kindern geschaffen wurden, mit den Bewohnern der Arbeitervierteln, und den ursprünglichen Bewohnern der Territorien und Kolonien in einer einzigen antirassistischen und dekolonialisierenden Dynamik. Unser Ziel ist die Gründung einer Autonomen indigenen politischen Kraft, die fähig ist, die Entwicklung der französischen Gesellschaft und der öffentlichen Politik zu beeinflussen.«
Autonomie von der bestehenden Linken ist eines der Gründungsprinzipien der PIR. Ihre Schwierigkeit, andere linke Akteure zu beeinflussen, wurden in diesem Jahr deutlich sichtbar, im Rahmen der »Nuit Debout«-Bewegung. Nuit Debout’s nächtliche Versammlungen in Paris und im ganzen Land zogen Tausende von Menschen zu ihren offenen Debatten, in denen es um die Entfremdung der Menschen von der Politik ging und um die Forderung, den Einfluss großer Firmen auf die Demokratie zu beenden. Für eine kurze, aber dynamische Periode bildete die Bewegung eine herausragende Opposition sowohl zu der sozialistischen Regierung als auch zu dem Rest des politischen Mainstream.
Aber die Tatsache, dass es Nuit Debout nie gelang, den migrantischen Teil der Bevölkerung zu erreichen, welcher die Basis der PIR stellt, unterstreicht die politische Spaltung in Frankreich. PIR kommentierte: »Nuit Debout hatte die »Regionen«, die »Vorstädte« und »rassistisch benachteiligten« Menschen aufgefordert, sich der sozialen Bewegung anzuschließen. Nuit Debout wollte Protestmärsche in die Vorstädte organisieren, so dass endlich der Traum einer Vereinigung von Beschäftitigen, Unterdrückten und Unter-Unterdrückten Realität werden würde. Wir entgegneten: Dieser Generalzusammenschluss kann nicht verordnet werden, er wird stattfinden, wenn ihr euch unserem Kampf anschließt«.
Islamfeindlichkeit: Das Versäumnis der französischen Linken
Das Versäumnis der französischen Linken, sich diesem Kampf anzuschließen, ist in diesem Zusammenhang besonders schwerwiegend, da Nuit Debout in Reaktion auf ein repressives neues Arbeitsgesetz ins Leben gerufen wurde, welches auch muslimische Frauen zum Ziel hat. Artikel L.1321-2-1 erlaubt es beispielsweise dem privaten Sektor, diskriminierende Praktiken wie das Kopftuchverbot auf die eigenen Mitarbeiter anzuwenden.
Seit der Verabschiedung des Gesetzes ist die islamfeindliche Repression weiter eskaliert: Im Juli hat der Bürgermeister von Cannes den Burkini an den Stränden seiner Stadt verboten. Die Entscheidung wurde in rund dreißig anderen Gemeinden vor allem im Süden kopiert und vom Premierminister wortreich verteidigt, bevor das Verwaltungsgericht sie am 26. August für unrechtmäßig erklärte. Sowohl Ensemble, ein Zusammenschluss der Linken Front mit einer Reihe von revolutionären Aktivistinnen und Aktivisten, und die NPA hatten das Verbot sofort verurteilt.
Wie weit die französischen Eliten mit ihren Attacken noch gehen werden, bleibt abzuwarten. Wie von vielen Seiten bemerkt wird, ist es dringend notwendig, dass die Linke in der Frage der antimuslimischen Unterdrückung eine klare Stellung bezieht, um dieser Herausforderung zu begegnen.
Zum Text: Eine frühere Version dieses Artikels von Nick Riemer wurde auf solidarity.net.au veröffentlicht. Die Übersetzung von Hannes Busch stamm von jacobinmag.com
Foto: brunosan
Schlagwörter: Arbeiterbewegung, Frankreich, Front National, Islam, Islamfeindlichkeit, Islamophobie, Linke, marx21, Muslima, Muslime, Polizei, Säkularismus, Terror