Der jüdische Marxist Abraham Léon wurde 1944 in Auschwitz von den Nazis ermordet. Eine Erinnerung an Leons kurz zuvor geschriebenes Buch »Die jüdische Frage. Eine marxistische Darstellung«. Von Stefan Ziefle
Abraham Léon war Vorsitzender einer kleinen revolutionären Gruppe im von Nazis besetzten Belgien. Er wurde gejagt, verhaftet und schließlich in Auschwitz ermordet. Unter diesen Bedingungen von Krieg und Besatzung hat Léon in den Jahren nach 1940 das Manuskript „Die jüdische Frage« geschrieben. Es ist ein Verdienst der 68er, besonders des marxistischen Akademikers Maxime Rodinson, diesen Text ausgegraben und veröffentlicht zu haben.
Materialistische Geschichte
Zu Léons Lebzeiten sprachen die meisten Historiker vom „jüdischen Wunder«: Ein Volk hätte, nach gewaltsamer Verstreuung, über fast zweitausend Jahre seine nationale Identität gegen alle Widerstände verteidigt und behalten. Als Begründung wurde die jüdische Mentalität oder die religiöse Inspiration genannt. Diese Vorstellung bezeichnete Léon als idealistisch.
Er hielt dem einen Satz von Marx entgegen: „Das Judentum hat sich nicht trotz der Geschichte, sondern durch die Geschichte erhalten.« Sein Anspruch war, eine materialistische, marxistische Geschichte des Judentums zu schreiben – eine Geschichte, die in der Lage wäre, zu erklären, wieso Juden nicht gleichberechtigt leben durften, wie Antisemitismus entstehen konnte, und natürlich, wie eine Emanzipation von Juden von statten gehen könne.
Der Judaismus war entstanden als die Religion einer städtischen Oberschicht am Schnittpunkt der wichtigsten Handelsrouten der Antike. Er verbreitete sich schnell entlang der Handelsrouten, so dass bereits lange vor der Zerstörung Jerusalems durch die römischen Besatzer (ca. 70 n. Chr.) die große Mehrheit der Juden außerhalb der römischen Provinz Palästina lebten. Alleine in Alexandria, der bedeutendsten Handelsmetropole der Zeit, lebten mehr Juden als Jerusalem Einwohner hatte.
Léons Erklärung hierfür ist einfach: Handel, insbesondere Fernhandel, war zwar profitabel, aber nicht wesentlich für den Prozess der Ausbeutung und Mehrwertverwertung vorkapitalistischer Gesellschaften. Es war für die Herrschenden also nicht nötig, ihn selber zu übernehmen. Viel einfacher war es, diese den Produktionsverhältnissen fremde Tätigkeit, die Kontakt mit fremden Leuten und Waren herstellt, einer isolierbaren gesellschaftlichen Gruppe zu übertragen.
Juden boten sich dafür an. Einerseits gab es bereits, aufgrund der Entstehungsgeschichte der Religion, jüdische Händler mit Handelskontakten in der ganzen bekannten Welt. Andererseits war der Monotheismus und seine Riten deutlich anders als die Religionen und Riten aller anderen Menschen.
Volksklasse
So wurde es im Römischen Reich üblich, jüdischen Gemeinden spezielle Handelsprivilegien zu erteilen. Das führte zu Konvertierungen zum Judaismus und einem Anwachsen der Gemeinden in den Handelsmetropolen. Léon spricht in diesem Zusammenhang von der Entstehung einer „Volksklasse«, was die Überschneidung einer gesellschaftlichen Funktion („Klasse«) mit einer Volksgruppe betont.
Diese Entwicklung war aber nicht risikofrei für Juden. Der Fernhandel hatte fast immer mit Luxus zu tun, die Händler selbst waren nicht arm. So konnten die Herrschenden in sozialen und politischen Krisen immer auf „die Fremden«, die Juden deuten, um von ihrer Rolle in der Gesellschaft, beziehungsweise von den Mängeln der Gesellschaft an sich, abzulenken.
Juden wurden, ohne selbst zu den Herrschenden zu gehören, zu vorgeschobenen Vertretern der Herrschenden. Der Preis für ihre Privilegien war, dass sie als erstes die Ausbrüche sozialer Kämpfe zu spüren bekamen. Diese antiken „Pogrome« waren etwas völlig anderes als die modernen antisemitischen Pogrome. Juden wurden nicht aufgrund ihrer Religion oder ihrer angeblichen „Rasse« angegriffen, sondern aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung. Anders als beim modernen Antisemitismus konnten Juden den Folgen dieses Verteilungskampfes durch Aufgabe der gesellschaftlichen Stellung und Konversion, letztlich durch Assimilation, entgehen – was viele auch taten.
Der Untergang des Weströmischen Reiches (5. Jahrhundert) und der Übergang ins feudale Mittelalter bedeuteten auch einen Rückgang des Handels und eine Stärkung der Subsistenzwirtschaft. Das allerdings stärkte die Rolle der Juden, deren Anteil am Handel noch zunahm. Geld wurde in dieser Zeit praktisch nur für den Fernhandel benötigt. Die jüdischen Händler, mit ihren Verbindungen zu den fortgeschritteneren Zivilisationen Asiens, dienten dem europäischen Adel zunehmend auch als Kreditgeber. Ihre Situation war weiterhin wechselhaft. Wie in der Antike waren sie privilegiert und exponiert zugleich, und wurden immer wieder Opfer sozialer Unruhen. Für die gesamte Periode bis dahin aber wäre es falsch, von einer Geschichte „jüdischen Leidens in der Diaspora« zu sprechen.
Die Entstehung des Antisemitismus
Dies ändert sich in der frühen Neuzeit. Erhöhte Produktivität in der Landwirtschaft, Wachstum der Städte und Zunahme handwerklicher Produktion veränderten die Gesellschaft. Handel und Geld gewannen an Bedeutung – nicht nur für den Luxuskonsum der Reichen, sondern für den Ausbeutungsprozess insgesamt. In der Folge wurden jüdische Privilegien beschnitten und Juden durch Christen aus ökonomisch relevanten Bereichen verdrängt. Vielen Juden blieb nur der Rückzug aus dem großen Geschäft ins kleine – vom Fernhändler und Bankier des Adels zum Wucherer und Krämer.
Es gab ganze Vertreibungswellen, zum Beispiel im Spanien und England des 15. Jahrhunderts, um diesen Prozess zu erzwingen. Wo es nicht zu Vertreibungen kam, verarmten die jüdischen Viertel. Der Prozess fand nicht einheitlich und zeitgleich statt. Während Spanien die jüdische Bevölkerung vertrieb, suchte der polnische König Hände ringend nach Juden für sein noch feudales Land. Dort sollten sie als Händler und Bankiers die Rolle spielen, die sie in den Jahrhunderten zuvor in den westeuropäischen Ländern eingenommen hatten. So entstanden neue jüdische Gemeinden in Polen und der heutigen Ukraine.
Erst die bürgerlichen Revolutionen im späten 18. Jahrhundert (Nordamerika, Frankreich) beseitigten die Ständegesellschaft und die den Juden auferlegten formalen Beschränkungen. Zudem trennten sie Staat und Kirche. Religion wurde Privatsache des Individuums, Juden gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft – zumindest theoretisch. Aber die Entwicklung des industriellen Kapitalismus ging einher mit dem Kolonialismus und der Entstehung des modernen Rassismus einerseits und der periodischen Wiederkehr ökonomischer und sozialer Krisen andererseits.
Das war die Geburtsstunde des modernen Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die verarmten jüdischen Viertel, ständig angewachsen durch den Zuzug von Wirtschaftsflüchtlingen aus den ländlichen Regionen Osteuropas, boten den Stoff, aus dem die Rassisten eine „jüdische Rasse« phantasierten. Die frühere ökonomische Rolle der Juden, die Ressentiments der Armen gegen Krämer und Pfandleiher, die fremdartigen Riten der osteuropäischen Migranten – alles vermischte sich zu einem antisemitischen Klischee. In diesem Sinne ist der Antisemitismus ein Produkt zweier kombinierter Krisen: der osteuropäischen Aggrargesellschaften und des westeuropäischen Kapitalismus.
Die Lösung
Für ein Ende der Unterdrückung der Juden wäre nach Léon die Aufhebung der besonderen Rolle von Juden in der Gesellschaft nötig. Dies würde auch die komplette Integration der Juden in die Gesellschaft, die Assimilation, bedeuten. Angesichts der großen Depression der 30er Jahre und des Terrors der Nazis schlussfolgerte er allerdings: „Der Kapitalismus hat die jüdische Frage gestellt, d.h. er hat die gesellschaftlichen Grundlagen zerstört, auf denen das Judentum sich seit Jahrhunderten erhielt. Aber er hat sie nicht gelöst, weil er den von seinem bisherigen gesellschaftlichen Rahmen befreiten Juden nicht in sich aufnehmen konnte. Der Kapitalismus im Niedergang hat den Juden ins Nichts geworfen.«
Auch das zionistische Projekt eines jüdischen Staates in Palästina verwarf Léon. Denn selbst wenn ein solcher Staat gegründet werden könnte, würde er niemals eine Heimat für alle Juden bieten. „Also weder Assimilation noch Zionismus? Dann gibt es keine Lösung?«, fragte Léon, um zu antworten: „Nicht innerhalb des kapitalistischen Systems«.
Bürger jüdischen Glaubens sind heute in vielen Ländern vollständig gleichberechtigt. Dennoch scheint die fortdauernde Existenz des Antisemitismus Léon Recht zu geben. Seine Analysen sind, auch wenn sie in einzelnen historischen Details nicht mehr ganz dem Stand der Forschung entsprechen, allein schon deswegen wertvoll. Mehr noch: Sein Buch widerlegt weit verbreitete Mythen über das Judentum und liefert Linken eine ideologische Waffe für den Kampf der Emanzipation aller Menschen, unabhängig ihrer Religion, Staatsangehörigkeit oder Hautfarbe.
Das Buch:
Abraham León: »Die jüdische Frage. Eine marxistische Darstellung«, 205 Seiten, ISBN 3-88634-064-3 , Arbeiterpresse Verlag, 14,90 Euro.
Zum Autor dieses Artikels:
Stefan Ziefle ist Historiker und Mitglied des Koordinierungskreises der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden und internationale Politik der LINKEN.
Bild: Chajm Guski / Wikimedia
Schlagwörter: Bücher, Kultur