Der Abschiebestopp im letzten Winter in Thüringen hat Hoffnungen geweckt, dass DIE LINKE an der Regierung einen Unterschied machen kann. In den Sammelabschiebungen der vergangenen Wochen offenbaren sich nun ihre Grenzen. Von Martin Haller
Zwanzig Demonstrierende setzen sich um fünf Uhr morgens auf die Magdeburger Allee in Erfurt, um die Abfahrt eines Polizeifahrzeugs zu verhindern. Die Beamten wollen die Familie darin nach Serbien abschieben. Die Blockade scheitert: die Polizei löst sie gewaltsam auf. Der Transport setzt seinen Weg fort. Sein Ziel ist der Flughafen Halle-Leipzig, wo bereits der Flieger nach Belgrad wartet. Es ist der 16. Dezember 2015 und diesen Winter bereits die dritte Sammelabschiebung von Flüchtlingen aus Thüringen in den Westbalkan. Insgesamt zwingen die Behörden in dieser Nacht 135 Menschen, das Land zu verlassen.
Noch im Dezember 2014 hieß es in einer Anordnung aus dem Thüringer Innenministerium: Gerade bei Abschiebungen in den Wintermonaten könne in vielen Ländern eine Aufnahme in Sicherheit und Würde nicht gewährleistet werden. Die rot-rot-grüne Landesregierung erließ als eine ihrer ersten Amtshandlungen einen Winterabschiebestopp für abgelehnte Asylbewerber aus fünfzehn Ländern mit kalten Wintern.
»Sicherheit und Würde« sind jedoch nur ein Jahr später nicht mehr als Bedingungen einer möglichen Aufenthaltsbeendigung erkennbar. Stattdessen reißt die Polizei Menschen, darunter auch Kinder, in landesweit koordinierten Aktionen aus dem Schlaf und bringt sie aus dem Land. In ihren Herkunftsländern droht ihnen häufig nicht nur Obdachlosigkeit, sondern viele von ihnen sind als Angehörige der Roma auch Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt. Laut Bundesregierung waren im ersten Quartal 2015 91 Prozent der Asylbewerber aus Serbien Roma, gefolgt von Mazedonien mit 72 Prozent.
Kehrtwende in der Abschiebepraxis
Auf die Frage, was der Winterabschiebestopp koste, sagte der frisch ins Amt gewählte Ministerpräsident Bodo Ramelow 2014: »Das kostet zunächst erst einmal Menschlichkeit.« Rund 150 Asylbewerberinnen und Asylbewerber profitierten von der Entscheidung. Die verhältnismäßig geringe Zahl zeigt, dass die Anweisung vor allem symbolischen Charakter hatte. Trotzdem war sie wichtig: Nicht nur die große bundesweite Aufmerksamkeit und das Lob von Flüchtlings- und Helferinitiativen, sondern auch die Tatsache, dass die AfD-Landtagsfraktion Klage vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof gegen die Entscheidung einreichte, zeugen von der Signalwirkung dieses Schrittes.
Während das Gerichtsurteil noch aussteht, ist es jedoch im Grunde bereits hinfällig. Denn im Oktober erfolgte die Kehrtwende: »Es wird keinen pauschalen Abschiebestopp geben«, sagte Ramelow nun. »Dazu stehe ich.« Lediglich humanitäre Einzelfälle würden geprüft. »Den Menschen, die keine Bleibeperspektive haben, muss dies auch klar gemacht werden«. Er rechne damit, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schon in den folgenden Wochen eine vierstellige Zahl von Asylanträgen von Geflüchteten, die sich in Thüringen aufhalten, ablehnen werde. Dementsprechend werde auch die Zahl der Rückführungen steigen. Angesichts der hohen Zahlen von Asylbewerbern sehe sich die rot-rot-grüne Landesregierung zur Durchführung von Abschiebungen auch während der Wintermonate gezwungen.
Scharfe Kritik und begrenzte Spielräume
Der Flüchtlingsrat Thüringen kritisierte die Entscheidung scharf und forderte »unverzüglich eine Verwaltungsanweisung an die Ausländerbehörden und die Abschiebestelle im Landesverwaltungsamt, die eine derartige Praxis verbietet und auch zu Fragen einer möglichen Aufenthaltsbeendigung einen respektvollen Umgang festschreibt.« Dazu gehöre insbesondere, dass »Geflüchtete nachts noch beruhigt schlafen können und nicht permanent ihren Kindern erklären müssen, dass sie nicht wissen, ob diese Nacht vielleicht die Polizei kommt und ob sie morgen noch in die Schule gehen können.« Außerdem müsse die Situation von diskriminierten Minderheiten aus den Balkanstaaten berücksichtigt werden.
Die Spielräume, um allein auf Landesebene eine andere Flüchtlings- und Abschiebepolitik umzusetzen, sind allerdings begrenzt. So wird das Asylverfahren von der Bundesbehörde BAMF durchgeführt. Für die Unterbringung und soziale Betreuung Asylsuchender sind wiederum die Bundesländer zuständig. Und auch Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern liegen in der Zuständigkeit der Länder – wenngleich an der Umsetzung auch die Bundespolizei beteiligt ist. Würde sich die Thüringer Landesregierung entschließen keine Abschiebungen durchzuführen, müsste sie sich über Bundesrecht hinwegsetzen. Denn dieses sieht im Fall von abgelehnten Asylbewerbern, die nicht freiwillig ausreisen und bei denen keine Gründe für eine Duldung vorliegen, die Zwangsabschiebung vor. Eine generelle Aussetzung von Abschiebungen käme damit einer offenen Konfrontation mit der Bundespolitik gleich.
Mehr als Symbolpolitik wäre möglich
Dennoch besteht auch für die Landespolitik ein Spielraum und diesen hat Rot-rot-grün in Thüringen teilweise auch genutzt. So ist, trotz der steigenden Zahlen abgelehnter Asylanträge, die Zahl der Abschiebungen im Vergleich zum Vorjahr bis November 2015 kaum gestiegen. Während im gleichen Zeitraum die Regierungen in Bayern oder Hessen drei Mal so viele und Baden-Württemberg doppelt so viele Flüchtlinge abgeschoben haben, stieg die Zahl in Thüringen nur geringfügig von 234 auf 240. Erst wegen der im Dezember durchgeführten Sammelabschiebungen von 135 Menschen nach Serbien und 63 nach Mazedonien ist die Zahl gegenüber dem Vorjahr deutlich gestiegen. Vor allem aber die Tatsache, dass die Abschiebungen in Form von nächtlichen Polizeiaktionen erfolgen, hätte durch die Landesregierung verhindert werden können. Beispielsweise hätte Ramelow die Landespolizei anweisen können, sich nicht an den Abschiebungen zu beteiligen und damit den Konflikt mit der unmenschlichen Asylpolitik der Bundesregierung markiert, anstatt sich daran die Hände schmutzig zu machen.
Mit dem Abschiebestopp im vergangenen Winter haben Rot-rot-grün in Thüringen wie auch die von der SPD geführte Landesregierung von Schleswig-Holstein bewiesen, dass es auch auf Landesebene Möglichkeiten gibt, dem Ziel einer menschlichen Flüchtlingspolitik zumindest näher zu kommen. Diesen Winter hätte Thüringen zeigen können, dass dies mehr als Symbolpolitik war und weiterhin gilt, obwohl die Zahl der Betroffenen 2015 deutlich größer ist. Gerade jetzt wäre angesichts der rassistischen Diskussion nach den Übergriffen in Köln der richtige Zeitpunkt, alle Mittel gegen den Kurs der Bundesregierung in der Flüchtlingsfrage auszuschöpfen und eine Alternative zu ihrer Abschottungs- und Abschiebepolitik aufzuzeigen.
Eine Welle von Abschiebungen steht bevor
Doch mit dem Aussetzen des Winterabschiebestopps und den nächtlichen Sammelabschiebungen verspielt sich DIE LINKE in Thüringen die Sympathien, welche sie unter Flüchtlingsinitiativen, Helferinnen und Helfern sowie antirassistischen Gruppen gewonnen hatte. Obwohl mit Einsetzen des Winters weniger Flüchtlinge ankommen, werden in den kommenden Wochen und Monaten mehr Asylanträge abgelehnt und damit auch mehr Menschen abgeschoben werden. Damit wird sich auch der Widerspruch zu dem Ziel einer menschlichen Flüchtlingspolitik in Thüringen verschärfen.
In Erfurt und Jena wurden infolge der Abschiebungen vom 16. Dezember bereits kleinere Demonstrationen organisiert. Auf einem Flyer der Jenaer Aktivistinnen und Aktivisten heißt es enttäuscht: »Auch die linke Thüringer Landesregierung verhält sich in der Flüchtlingsverwaltung in keiner Weise anders als andere Bundesländer.« Diese Kritik ist sicher überzogen – so liegt Thüringen bei der Kostenerstattung für die Kommunen in der Spitzengruppe der Bundesländer und gehört zu den wenigen Ländern ohne Zeltstädte für Flüchtlinge. Der Flyer spiegelt jedoch das verlorengegangene Vertrauen in einen Politikwechsel durch die von der LINKEN geführte Regierungskoalition wider.
Vorbildlich im Kampf gegen rechts
Dabei kommt der LINKEN in Thüringen eigentlich eine Vorbildfunktion im Umgang mit der Flüchtlingsfrage zu, gerade angesichts der zunehmenden rassistischen Hetze. Es war ein starkes Zeichen, als Bodo Ramelow Anfang September die am Bahnhof in Saalfeld ankommenden Flüchtlinge mit einem Megafon auf Arabisch willkommen hieß, während wenige Tage zuvor noch die Bilder vom rechten Mob aus dem sächsischen Heidenau die Medien bestimmten. »Ich könnte weinen vor Freude«, zeigte sich Ramelow überwältigt von der Hilfsbereitschaft der Saalfelder.
Von Beginn an war DIE LINKE in Thüringen nicht nur engagiert in der Flüchtlingshelferbewegung, sondern kämpfte auch in der Gesamtbevölkerung gegen Vorurteile und warb für Solidarität und dafür, Geflüchtete nicht als Last, sondern als Bereicherung für Thüringen zu sehen. Immer wieder betonte Ramelow, dass das Land aufgrund der Bevölkerungsabnahme und Überalterung auf Zuwanderung angewiesen sei und dass die Flüchtlinge eine Chance darstellen.
Auch im Kampf gegen die Rassisten des Thüringer Pegida-Ablegers und des Landesverbandes der AfD unter Björn Höcke spielte DIE LINKE eine gute Rolle. So war sie eine der treibenden Kräfte der Gegenproteste bei den Aufmärschen und Kundgebungen der AfD in Erfurt. Gerade im Vergleich zum eher zahmen Auftreten der sächsischen LINKEN gegen die Rassisten hat der thüringische Landesverband hervorragend agiert.
DIE LINKE schwächt ihr antirassistisches Profil
So ist der Kursschwenk in der Abschiebungspraxis auch nicht einer inhaltlich falschen politischen Orientierung der Landespartei in der Flüchtlingsfrage oder im Kampf gegen Rassismus geschuldet. Vielmehr ist er Ausdruck der grundsätzlichen Grenzen linker Regierungspolitik unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Trotz der Tatsache, dass sie die stärkste Kraft in der Thüringer Regierungskoalition ist und den Ministerpräsidenten stellt, ist DIE LINKE nicht in der Lage, ein Minimum an Humanität in der Abschiebepolitik zu gewährleisten, geschweige denn Abschiebungen gänzlich zu verhindern, wie es im Erfurter Programm der Bundespartei von 2011 gefordert wird. Wieder einmal zeigt sich: Der kapitalistische Staatsapparat dient der Unterdrückung und lässt sich nicht einfach für fortschrittliche Politik instrumentalisieren, indem Linke die Regierung übernehmen. Mit der »Eroberung« der Schaltstellen der Macht ist nicht das System ausgewechselt, sondern lediglich das steuernde Personal, wie es der französische Marxist Henri Lefebvre ausdrückte.
Dadurch, dass sie sich zum Erfüllungsgehilfen der Bundespolitik macht, droht die Thüringer LINKE nicht nur ihre eigenen Überzeugungen und Ziele zu verraten, sondern schwächt auch das antirassistische Profil der Gesamtpartei. Diese hat sich mehrfach gegen die unmenschlichen Asylgesetze ausgesprochen und die jüngsten Verschärfungen insbesondere dafür kritisiert, dass die Balkanstaaten zu sicheren Herkunftsländern deklariert wurden. Auf dieser Grundlage werden Asylanträge von Sinti und Roma jetzt abgelehnt und Abschiebungen begründet. Beteiligt sich nun aber eine Landesregierung unter Führung der LINKEN an solchen Abschiebungen, dann macht sie sich unglaubwürdig. Letztendlich profitieren davon nur die AfD und andere Rassisten. Nicht nur, weil es ihnen in die Hände spielt, wenn sich selbst ein linker Ministerpräsident dazu bekennt, dass Flüchtlinge »ohne Bleibeperspektive« das Land verlassen sollen, sondern auch weil dadurch DIE LINKE als Motor für die antirassistischen Mobilisierungen geschwächt wird.
Konfrontationskurs gegen Abschiebungen
DIE LINKE ist in Thüringen nicht allein an der Regierung, sondern Teil einer Koalition. Gerade die SPD hat nach dem Auslaufen des Winterabschiebestopps bereits im März 2015 massive Bedenken dagegen geäußert, einen solchen Schritt auch in diesem Winter zu gehen. Landeschef Andreas Bausewein sagte nun, er freue sich, dass der Ministerpräsident und die linken und grünen Kabinettskollegen auf die Bedenken der SPD eingeschwenkt seien. Es sei wichtig, dass das Land zu einer »konsequenten Abschiebepolitik« übergehe. Obwohl die SPD lediglich der Juniorpartner der LINKEN in der Regierungskoalition ist, kommt ihr aufgrund der schwachen Mehrheitsverhältnisse im Thüringer Landtag eine bedeutende Rolle zu. Nur ein einziger Abweichler aus den Reihen der Koalition genügt, um die rot-rot-grüne Mehrheit zu verlieren.
Ein erneuter Winterabschiebestopp oder gar eine der Parteiposition der LINKEN folgende konsequente Verweigerung Menschen abzuschieben, würde in jedem Fall einen Konfrontationskurs gegen die Bundesregierung bedeuten und könnte einen Bruch der Koalition hervorrufen. Davor schreckt Bodo Ramelow zurück. Es ist aber fatal, wenn sich DIE LINKE, sei es um den Koalitionsfrieden zu wahren oder dem Druck von außen nachzugeben, zum Mittäter bei der menschenverachtenden Abschottungs- und Abschiebepolitik der Bundesregierung macht. Dagegen muss sie sich mit allen verfügbaren Mitteln wehren – selbst wenn es das Ende der ersten Landesregierung mit einem Ministerpräsidenten der LINKEN bedeutet.
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