Im Herbst 1992 wird die Heidelberger Hip-Hop-Crew Advanced Chemistry deutschlandweit bekannt. Kurz nach den rassistischen Pogromen in Rostock-Lichtenhagen veröffentlichen sie ihre Single »Fremd im eigenen Land«. Die Mischung aus offensiver, wütender persönlicher Erzählung und radikaler politischer Stellungnahme gegen die herrschenden rassistischen Zustände trifft einen Nerv und der Song wird zum Geburtshelfer für Rap in deutscher Sprache. Von Yaak Pabst
Zu Beginn der 1990er Jahre steckt die konservative Regierung unter Kanzler Helmut Kohl in einer tiefen Krise. Hunderttausende in Ostdeutschland werden durch die Politik der Privatisierung in die Armut getrieben. Von dem CDU-Wahlkampfversprechen der »Blühenden Landschaften« bleiben nur industrielle Ruinen. Im Jahr 1992 sind erstmals in der Nachkriegsgeschichte mehr als drei Millionen Menschen ohne Arbeit. Die Kosten der Wiedervereinigung werden auf die Bevölkerung in Ost und West abgewälzt.
Um von ihrer unpopulären neoliberalen Politik abzulenken, initiiert die Regierung Kohl eine rassistische Kampagne gegen Flüchtlinge. Am 16. August 1991 schreibt die Wirtschaftswoche: »So konnte es wirklich nicht mehr weitergehen: Alle Welt redete nur noch von Inflation und Rezession, höheren Steuern (…) Die Wähler wandten sich in Scharen der Opposition zu (…) Es musste etwas geschehen (…) Und es geschah: Bundesinnenminister Schäuble schob ein neues Thema ins Rampenlicht der Öffentlichkeit: Die Asylantenfrage«.
Schäuble lenkt ab
Im Fadenkreuz der Christdemokraten befindet sich Artikel 16 des Grundgesetzes. Ihr Ziel: die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl. Unterstützt von den Medien sprechen Unions-Politiker vom »offenkundigen Asylmissbrauch« und fordern »entschlossene Maßnahmen gegen den Zustrom von Scheinasylanten und Wirtschaftsflüchtlingen«. Springers Bild titelt am 2. April 1992 unter der Dachzeile »Die Flut steigt – wann sinkt das Boot?«, in fetten Lettern: »Fast jede Minute ein neuer Asylant«.
Kanzler Kohl will wegen der angeblich steigenden Zahl von Asylbewerbern sogar den »Staatsnotstand« ausrufen. Auch prominente SPD-Vertreter wie der nordrhein-westfälische SPD-Fraktionschef Friedhelm Farthmann hetzen mit: »Gegebenenfalls Überprüfung nur durch einen Einzelrichter, am besten an Ort und Stelle, dann an Kopf und Kragen packen und raus damit.«
Nazis greifen an
Die von oben dirigierte »Asylflut«- Kampagne ermutigt die Nazis, in die Offensive zu gehen. In Rostock-Lichtenhagen kommt es im August 1992 zu den schwersten rassistischen Ausschreitungen seit Bestehen der Bundesrepublik. Über mehrere Tage greifen hunderte Neonazis die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Mecklenburg-Vorpommern an.
Sie grölen, sie prügeln, sie zündeln: »Jetzt werdet ihr geröstet«, »Ausländer raus«, »Sieg Heil« und »Wir kriegen euch alle«. Unter dem Beifall von 2000 Anwohnern steckt der Mob ein Hochhaus in Brand, in dem 100 Vietnamesen und einige Deutsche eingeschlossen sind. Nur weil die Eingesperrten sich selbst befreien können, wird niemand getötet.
Der Staat räumt das Feld
Die Polizei, die Stadt, das Land und die Bundesregierung überlassen den Neonazis das Feld – nicht nur in Rostock. Allein im Jahr 1992 werden 2639 gewalttätige Übergriffe von Faschisten registriert. Zwei Jahre zuvor waren es gerade einmal 309. Nur zwei Monate nach den Krawallen in Rostock verüben Neonazis einem Brandanschlag auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln. Dabei verbrennen ein zehn- und ein vierzehnjähriges Mädchen sowie ihre Großmutter. Nazis töten in dem Jahr insgesamt 27 Menschen – so viele wie nie zuvor.
Dass in diesem Klima auch die SPD ihre ursprüngliche Position der strikten Ablehnung einer Asylrechtsänderung über Bord wirft, hinterlässt nicht nur unter Migranten ein Gefühl der Ohnmacht. Obwohl 200.000 Menschen unmittelbar vor dem SPD-Sonderparteitag im November 1992 gegen die Zustimmung zum Asylkompromiss demonstrieren, setzt sich der rechte Parteiflügel durch. Am 6. Dezember 1992 beschließt der Deutsche Bundestag mit den Stimmen von CDU, FDP und SPD die Abschaffung des individuellen Grundrechts auf Asyl.
Kampf den Zuständen
Der Song »Fremd im eigenen Land« ist eine Kampfansage gegen diese rassistischen Zustände. Torch, einer der Rapper der Band »Advanced Chemistry«, ist damals 21 Jahre alt. Rückblickend erzählt er: »Noch während wir im Studio waren, gab es die rassistisch motivierten Anschläge in Rostock. Daraufhin haben wir im Studio den Nachrichtensprecher live aufgenommen und als Intro eingebaut.« Den Text hatte die Band schon zwei Jahre zuvor geschrieben.
Im Fokus stehen Erfahrungen einer ganzen Generation von Migrantenkindern: Rassismus, Polizeibrutalität, Armut, Arbeitslosigkeit, die Einseitigkeit der Medien. Die fünf Gründungsmitglieder von Advanced Chemistry wissen, wovon sie sprechen. Torch (Frederik Hahn), Toni L. (Toni Landomini), Linguist (Kofi Yakpo), Gee-One (Gonzales Maldonado) und DJ Mike MD (Michael Jean Pierre Dippon) sind fast alle Kinder von Migranten. In ihrem Song schlagen sie zurück:
Advanced Chemistry: Wütende Worte
»Ich habe einen grünen Pass mit ’nem goldenen Adler drauf, / doch mit italienischer Abstammung wuchs ich hier auf. / Somit nahm ich Spott in Kauf / in dem meinigen bisherigen Lebensablauf. / Politiker und Medien berichten, ob früh oder spät / von einer ›überschrittenen Aufnahmekapazität‹. / Es wird einem erklärt, der Kopf wird einem verdreht, / dass man durch Ausländer in eine Bedrohung gerät«
»Kaum einer ist da, der überlegt, auf das Wissen Wert legt, / warum es diesem Land so gut geht, / das der Gastarbeiter seit den 50ern unentwegt / zum Wirtschaftsaufbau, der sich blühend bewegt, / mit Nutzen beitrug und noch beiträgt, / mit einer schwachen Position in der Gesellschaft lebt, / in Krisenzeiten die Sündenbockrolle belegt (…) / Nicht anerkannt, fremd im eigenen Land / Kein Ausländer und doch ein Fremder.«
HipHop auf Deutsch
Advanced Chemistry gründen sich 1987 in Heidelberg. Gemeinsam mit anderen Hip-Hop-Begeisterten treffen sie sich bei Hip-Hop-Jams in den Jugendzentren und Vorstadttreffs. Der Mitmach-Charakter dieser multiethnischen Subkultur zieht besonders die Kinder aus Einwandererfamilien an. Neben Advanced Chemistry sind es Bands wie Fresh Family, Microphone Mafia oder die Rapperin Cora E, die die Szene mitprägen. Durch die Veranstaltungen bilden sich Netzwerke, die Community wächst. Doch zuerst wird fast nur in englischer Sprache und über die Beats der Vorbilder aus den USA gerappt. Advanced Chemistry brechen das Tabu, als Rapper Torch beginnt, während der Jams auf Deutsch zu freestylen. Das Publikum ist begeistert und schnell spricht sich der Name der Band innerhalb der Szene herum.
Doch den ersten Charterfolg mit Rap in deutscher Sprache landen im Sommer 1992 Die Fantastischen Vier mit ihrem Party-Song »Die Da!«. Obwohl ihnen der Rückhalt innerhalb der Szene fehlt, bekommt die Band einen Major-Plattenvertrag. Die Pioniere der Vorstädte sehen sich ihrer Musikkultur beraubt. Im Gegensatz zu den unpolitischen Stuttgarter Spaßrappern ist der Song »Fremd im eigen Land« kein netter Radiosong. Torch erinnert sich: »Der Song war wirklich polarisierend. Aber den Leuten hat das alles aus der Seele gesprochen, sie sind scheinbar so sehr auf den Text angesprungen, dass sie überall bei den Radiosendern angerufen und das Teil in die Hörercharts gewählt haben.«
Advanced Chemistry: Viele inspiriert
Mit dem Lied inspiriert Advanced Chemistry eine neue Generation von Rappern, die Rap auf Deutsch als die Stimme der Stimmlosen weiterentwickeln. Deutlichstes und spektakulärstes Beispiel für diese Entwicklung ist der Zusammenschluss von heute 90 Künstlerinnen und Künstlern in den Projekten Brothers Keepers (BK) und Sisters Keepers (SK).
Anlässlich der Ermordung des Mosambikaners Alberto Adriano durch Nazis im Jahr 2000 veröffentlichen sie die Single »Adriano (Letzte Warnung)«, die auf Platz 4 der Charts klettert. Im Refrain heißt es: »Und was wir reichen sind geballte Fäuste und keine Hände / Euer Niedergang für immer.«
Der Autor:
Yaak Pabst ist Redakteur von marx21. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über die Hintergründe berühmter Songs.
Mehr im Internet:
- Das Problem heißt Rassismus: Auch 20 Jahre nach den rassistischen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen fehlt es an Empathie gegenüber den Opfern. Mehr noch: Die Flüchtlinge wurden selbst für die Angriffe verantwortlich gemacht. An dieser »Täter-Opfer-Umkehr« hat sich bis heute nichts geändert, schreibt Patrick Gensing auf publikative.org
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Schlagwörter: Asyl, Deutschrap, Geschichte, Helmut Kohl, Hip Hop, Kultur, marx21, Musik, Pogrom, Rap, Rassismus