Horst Haenisch über die Forderung nach einem AfD-Verbot, die Gefahr eines neuen Faschismus und Lehren aus der Vergangenheit
Am 10. Januar veröffentlichte die Recherche-Gruppe Correctiv das Protokoll eines Geheimtreffens unter Beteiligung hochrangiger AfD-Politiker. Wenige Stunden später formierte sich eine spontane Millionenbewegung, deren wichtigste Forderung ein Verbot der AfD war. Auf über 1300 Kundgebungen und Demonstrationen in über 1000 Städten und Gemeinden protestierten zwischen drei und vier Millionen Menschen gegen die AfD.
Der Adlon-Plan der AfD
Keiner hat diese Massenbewegung vorhergesehen. Diese Demonstrationen gegen die AfD sind größer als die Demonstrationen in Deutschland gegen die Notstandsgesetze, größer als die gegen den Vietnamkrieg, gegen die NATO-»Nachrüstung«, gegen den Irak-Krieg, und sie können sich messen mit jenen, die den Zusammenbruch der DDR begleitet haben. Schon vor den Demonstrationen hatten mehr als 400.000 Menschen eine Petition für das Verbot der AfD Landesverbände in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen unterzeichnet.
Was passiert da? Die Wucht dieser neuen Bewegung wird gut durch die Kräfteverhältnisse zwischen dem neuen Antifaschismus und dem herkömmlichen linken Antifaschismus symbolisiert. In Dresden brachte ersterer 40.000 auf die Straße, letzterer 600.
Auslöser ist das Geheimtreffen von CDU-Vertreter:innen aus der Werte-Union und führenden AfDler:innen, mittelständischen Unternehmer:innen, einem Verfassungsjuristen, der die AfD berät und vertritt, mit Martin Sellner, dem Ideologen und Strategen der Identitären Bewegung aus Österreich am 25.11.2023 im Gästehaus »Adlon« bei Potsdam, das am 10.01.2024 öffentlich bekannt wurde. Die zwei Dutzend Teilnehmer:innen diskutieren die Machbarkeit und die Etappen eines von Sellner vorgelegten Planes, alle Einwanderer:innen und die Kinder von Einwanderer:innen, unabhängig davon, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, nach Afrika zu deportieren, sobald die AfD an die Macht kommen sollte. Politische Gegner:innen ohne Migrationshintergrund sollen ebenfalls vertrieben werden. So wie bisher die Grenzen des Sagbaren von den Neonazis verschoben werden, sollen nach deren legaler Machtergreifung die Grenzen des Machbaren Schritt für Schritt verschoben werden.
Das ähnelt dem Madagaskar-Plan der Nazis, der sich als undurchführbar erwies und durch den Plan der Wannseekonferenz ersetzt wurde, 11 Millionen europäische Juden zu ermorden. Dieser Adlon-Plan der Neonazis von der AfD richtet sich gegen die doppelte Anzahl. Über 20 Millionen Deutsche und in Deutschland lebende Menschen sind betroffen. Hiergegen richtet sich die neue Empörung. Und das mit Recht. Denn mein Nachbar, der als Kind türkischer Zuwanderer in Deutschland geboren wurde und mit seiner Familie einen Lebensmittelladen betreibt, hat unrecht, wenn er meint, Deutschland könne auf seine Arbeitsleistung und die anderer Einwanderer nicht verzichten. Rassist:innen interessieren sich nämlich nicht vorrangig für Nützlichkeitserwägungen. Im Mai 1933 schickte die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der deutschen Wissenschaft den alten Geheimrat Max Planck vor, um Hitler die Schäden der antisemitischen Politik vor Augen zu halten, nämlich die Flucht der jüdischen Intelligenz, insbesondere die dadurch bedingte Schwächung des Aufbaus von Waffenforschung und Kriegswirtschaft. In der Tat geriet der Nazi-Staat bei der Entwicklung der Atombombe durch die Flucht und Vertreibung jüdischer Physiker entscheidend ins Hintertreffen. Hitler entgegnete Planck: »Ja, was liegt denn schon daran, wenn Deutschland einmal für eine Generation keine führenden Physiker hat? Die Rassenreinheit des deutschen Volkes liegt mir mehr am Herzen«.
Der faschistische Rassismus ist irrational in seinen Absichten, aber grausam rational und zielstrebig in seinen Methoden. Das sehen unsere migrantischen Nachbar:innen und ins Visier genommenen Opfer des Rassismus noch nicht. Deshalb halten sie sich noch abseits vom neuen Antifaschismus – leider. Ihnen müssen wir zurufen: Bürger:innen mit Migrationshintergrund kommt mit, verteidigt euch! Und uns! Verteidigt eure und unsere Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, Organisationsfreiheit, Pressefreiheit – gemeinsam mit uns! Wir müssen dafür eintreten, dass die migrantischen Nachbar:innen auf den Rednerpodien der Kundgebungen vertreten sind, auch wenn sie vielleicht Erfahrungen gemacht haben, die sie zur Zurückhaltung verleiten.
Der neue Antifaschismus der »Mitte«
Der Adlon-Plan hat Menschen alarmiert, die bislang dem Treiben der AfD zugesehen haben. Sie beginnen vielleicht zu verstehen, dass der Versuch ihrer politischen Führer:innen, der AfD mit eigener rassistischer Demagogie das Wasser abzugraben, ein Spiel mit dem Feuer ist, das nur die AfD stärkt und sie in ihren Adlon-Fantasien bestärkt. Deshalb appellieren diese Demonstrationen an CDU, SPD und Grüne: Hört auf damit!
Auf der Kundgebung in Hannover am 20.01. dieses Jahres gegen den Adlon-Plan mit 35.000 Teilnehmer:innen sprachen der SPD-Ministerpräsident, der Grüne Oberbürgermeister, die DGB-Vorsitzende, ein Kirchen- und ein Wirtschaftsvertreter sowie der Ex-Bundespräsident Christian Wulff. Letzterer erinnerte an seine Parole: Der Islam gehört zu Deutschland und fuhr fort, er habe immer hinzugefügt, dass die Zuwanderer:innen sich an die hiesigen Verhältnisse anzupassen hätten. Erst an dieser Stelle wurde er von heftigem Beifall unterbrochen.
An dieser Episode lässt sich erkennen, dass die Anti-AfD-Bewegung nach Potsdam ihre neue gewaltige Breite aus der bürgerlichen und sozialdemokratischen Mitte gewinnt, die nichts gegen eine restriktive Ausländer- und Asylpolitik hat, die aber erkennt, dass der Adlon-Plan die Gefahr heftiger Konflikte, wenn nicht gar bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen heraufbeschwört. Dieser neue Antifaschismus hat nichts gegen eine restriktive Einwanderungspolitik oder konsequente Abschiebungen. Aber er hat etwas gegen eine rassistische Politik, in der der neue Antifaschismus keinen Nutzen, keine Zweckmäßigkeit erkennen kann. Der neue Antifaschismus hat etwas gegen einen Rassismus um des Rassismus willen, wie er dem Adlon-Plan zugrunde liegt, ein Rassismus, der auch den ideologischen Kern der AfD-Führung ausmacht und wie er die NSDAP-Führung ausmachte.
Unter den mehr als 20 Millionen Bürger:innen mit »Migrationshintergrund« werden sich einige Millionen gegen ihre Deportation zur Wehr setzen, auch wenn der Adlon-Plan noch so clevere Abstufungen und Etappen der Verfolgung vorsieht, um sein Endziel zu verschleiern. Die Zeichen wurden bereits erkannt! Marine LePen hat sich angesichts der explosiven Stimmung in den französischen Banlieues mit Millionen von Französinnen und Franzosen nordafrikanischer Herkunft vom Adlon-Plan, von Alice Weidel und der AfD distanziert. Hier würde eine Zustimmung zum Adlon-Plan unmittelbar Aufstände auslösen.
Man muss die zeitgleiche Gründung einer deutschen Partei mit türkisch-nationalistischem Programm, DAVA, in diesem Zusammenhang verstehen. Diese Partei will türkischstämmige Deutsche zur Verteidigung ihrer Rechte und zur Verteidigung ihrer muslimischen Identität auf deutschem Boden organisieren. Fühlt sich mein türkischer Nachbar hier wohler, weil der linke Antifaschismus das Recht auf eine muslimische Identität nie geschlossen respektiert, ja in seiner Mehrheit abgelehnt hat? Kopftuchverbot! Ist er deshalb den Kundgebungen fern geblieben? Auch deshalb müssen wir fordern, dass die Vertreter:innen unserer migrantischen Nachbar:innen auf die Rednerpodien eingeladen werden.
Der Rassismus um des Rassismus willen geht dem neuen Antifaschismus zu weit. Dessen Protest für ein AfD-Verbot von mehreren Petitionen unterstützt, die bis zum 31. Januar 800.000, bzw. 475.000, bzw. 140.000 Unterschriften gesammelt haben. Und 1,6 Millionen fordern mit ihrer Unterschrift die Einschränkung oder Aufhebung von Höckes passivem Wahlrecht.
AfD-Verbot: Daneben stehen?
In einem kurz vor der Entstehung der spontanen Verbotsbewegung gegen die AfD verfassten Artikel in der Zeitschrift »Der Freitag« unter dem Ttiel »AfD-Verbot: Verbote stoppen Nazis nicht« argumentiert Yaak Pabst gegen Verbotsforderungen, weil »politische Überzeugungen sich nicht verbieten lassen.« (Der Freitag, 18.1.2024)
Ein merkwürdiges Argument: Politische Überzeugungen lassen sich nicht verbieten, Ok. Aber was machen wir dann damit? Wollen wir erreichen, dass die Neonazis von ihren Überzeugungen ablassen? Wollen wir sie bekehren oder umerziehen? Wollte die erfolgreichste Anti-Nazi-Kampagne der jüngeren deutschen Geschichte, wollte »Dresden nazifrei« den Neonazis ihre politischen Überzeugungen verbieten? Oder wollte sie den Nazis den politischen Bewegungsspielraum nehmen, sie demoralisieren und zernieren, ihnen ihre Organisationsfähigkeit nehmen? Eben weil Faschismus keine Meinung, sondern ein Verbrechen ist! Nichts anderes will die Forderung eines AfD-Verbots. Und deshalb müssen wir sie unterstützen!
In diesem Zusammenhang behauptet Pabst, dass das Verbot der faschistischen Partei und Schlägertruppe »Goldene Morgenröte« in Griechenland nichts gebracht habe, weil deren Nachfolgeparteien ähnlich hohe Wahlergebnisse einfahren. Richtig, Überzeugungen lassen sich eben nicht verbieten. Aber die bewaffnete Schlägertruppe, die SA der »Goldenen Morgenröte«, wurde verboten und ist von den Straßen verschwunden. Ihre Führer sitzen noch immer im Knast. Das ist ein großer Erfolg des antifaschistischen Kampfes, der bis heute nachwirkt. Und dieser Erfolg wurde nicht durch eine »falsche Hoffnung auf den Staat«, wie sie Pabst einer Verbotskampagne als zwangsläufig unterstellt, erreicht, sondern durch Streiks, die die Verbotskampagne und das Gerichtsverfahren begleiteten. Daraus lassen sich Lehren ziehen:
Das Bundesverfassungsgericht ist eine reaktionäre Institution. Man denke nur an den Kampf gegen das Abtreibungsverbot, der immer auf der Straße gegen dieses Gericht geführt werden musste, um ihm nur abzutrotzen, dass die Abtreibung unter bestimmten Umständen wenigstens straffrei, wenngleich verboten bleibt. Das Verbot der Sozialistischen Reichspartei, der ersten faschistischen Partei Nachkriegsdeutschlands, durch dieses Gericht kam wohl nur zustande, um das folgende KPD-Verbot nicht in ein noch schlechteres Licht zu rücken. Beim KPD-Verbot wurde auch das Kriterium der politischen Einflusslosigkeit nicht angewendet, mit dem dann später das Verbot der NPD abgelehnt wurde. Das Gericht verspricht, eine verfassungsfeindliche Partei erst zu verbieten, wenn sie in die Nähe der Machtergreifung kommt und alles zu spät sein dürfte. Mit dem Argument, erst aktiv werden zu wollen, wenn die Machtergreifung nahe ist, wird die wichtigste Erfahrung aus den schrecklichen zwölf Jahren geleugnet: Wehret den Anfängen!
Ob das Verfassungsgericht an seiner Tradition festhält, rechte Parteien in ihrer Entwicklung nicht zu stören, ist nicht ausgemacht. Vielleicht ist es ja so klug wie der neue antifaschistische Widerstand und erkennt die Gefahr. Hinweise darauf gibt es: die Parteigründungen Sahra Wagenknechts und des vormaligen Präsidenten des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen, der in diesem Amt die AfD beraten und beschützt hat und als Vorsitzender der Werteunion die reaktionärsten Elemente der CDU organisiert. Wagenknecht und Maaßen sind so gut vernetzt, dass sie das Gras wachsen hören können. Insbesondere Maaßens hastige Parteigründung macht nur Sinn, wenn sie bei einem Verbot der AfD als deren Nachfolgepartei die Wählerstimmen der AfD erbt. Aber um sie zu erben, kann er kein AfD-Verbot fordern. Denn das würde ihm diese Wählerschaft nicht verzeihen. In einem ähnlichen Dilemma steckt Wagenknecht. Eigentlich sind viele Menschen des neuen Antifaschismus ihr Wählerpotential. Aber zugleich kann sie darauf hoffen, eine verbotene AfD zu beerben. Nach einigem Zögern hat sie sich Yaak Pabsts Meinung angeschlossen, dass man politische Überzeugungen nicht verbieten kann, um bei der AfD-Klientel zu punkten, nicht aber beim neuen Antifaschismus.
Die Forderung nach einem AfD-Verbot wird in der neuen Bewegung überhaupt nur auf selbstgemalten Pappschildern, nicht auf den Transparenten der teilnehmenden Organisationen oder in deren Redebeiträgen vertreten. Bei der CDU war die Sache bisher klar. Sie ging davon aus, dass sie früher oder später um eine Zusammenarbeit mit der AfD in den Ländern und im Bund, wie sie sie schon jetzt in den Kommunen und im Europaparlament praktiziert, nicht herumkommt. Sie hat die AfD akzeptiert. Das war die Position von Merz. Die neue antifaschistische Bewegung führt auch zu neuen Überlegungen in der CDU. Denn ein AfD-Verbot könnte ja das Straußsche Ideal wieder Wirklichkeit werden lassen, wonach es keine Partei rechts von der Union geben soll. Andererseits erschwert die neue antifaschistische Bewegung eine Zusammenarbeit mit der AfD und Merz flirtet mit den Grünen, die gestern noch sein Hauptfeind waren. Aber die SPD, die Grünen, DIE LINKE? Warum äußern die sich nicht entschieden? Mit ihrem Gerede, wonach es der neuen antifaschistischen Bewegung um die Demokratie gehe, entwaffnen sie diese Bewegung geradezu.
Die Lage ist brandgefährlich
Wie dem auch sei: Wehret den Anfängen. Wir müssen die Gewerkschaften daran erinnern, dass ihre Mitglieder die ersten waren, die in den noch improvisierten KZ gefoltert und ermordet wurden und dass ihre Organisationen sich kampflos den Nazis ergeben haben. Das zu verhindern, ist diesmal noch möglich. Und wenn die Gewerkschaften das verhindern wollen, dann sollten sie jetzt, wo es noch möglich ist, die Kampagne um ein AfD-Verbot mit Kundgebungen, Demonstrationen und vor allem mit Warnstreiks unterstützen. Vorbild Griechenland!
Alles »übertrieben« sagt Yaak Pabst dazu. Denn »es droht keine faschistische Machtübernahme«, weil die AfD noch keine SA, noch keine bewaffnete Bande in den Kampf führen könne. Das sehe man doch an der FPÖ in Österreich und den »Fratelli« in Italien. Blicken wir auf Österreich, genauer, auf die zweite Koalition zwischen FPÖ und ÖVP ab 2017: Da hatte die FPÖ als Juniorpartnerin in einer Koalitionsregierung mit der konservativen ÖVP das Innenministerium und das Ministerium für Landesverteidigung mit entschiedenen faschistischen Kadern besetzt. Und diese begannen mit dem Umbau des Staates, der Einschleusung von Nazi-Kadern in Geheimdienst und Polizei. Die Inserate, um über 4.000 neue Polizist:innen zu rekrutieren, wurden auf rechtsextremen Websites platziert, darunter der des Führers der Identitären Bewegung, Martin Sellner, des Adlon-Strategen. Ein Genosse, der das damals aus der Nähe beobachtet hat, sagt zu dem Argument, dass es noch keine parteieigene Terrorbande gibt: »Es ist ebenso denkbar, dass die zukünftige SS – also eine den Faschisten völlig loyale Polizeitruppe – nicht von außen in den Staatsapparat kommt, sondern von innen entsteht.«
Die Lage ist brandgefährlich. Die AfD befindet sich, was Wählerstimmen angeht, in der Position der NSDAP vom September 1930. Wer die Bedrohung durch eine faschistische Machtübernahme von der Existenz einer SA abhängig macht, muss sich fragen, wozu diese SA da war und ob sie heute ebenso gebraucht wird. Diese Frage ist nur zu beantworten, wenn man versteht, was Faschismus ist. Im übrigen ist das, was die FPÖ in Österreich versucht hat, auf Punkt und Komma das, was die Nazis in deutschen Ländern, vor der endgültigen Machtergreifung im Reich, als Juniorpartner reaktionärer Parteien auch schon gemacht haben: Innen- und Bildungsressort besetzen, eigene Kader einschleusen, die Politik in diesen Ressorts nach rechts drehen, die Inkonsequenz des konservativen Koalitionspartners bloßstellen, um auf dessen Kosten weiter zu wachsen. Das ist noch nicht die faschistische Diktatur, aber schon schlimm genug, nämlich die erste Etappe zum rassistischen Bürgerkrieg, wie sie im Adlon vorgestellt wurde.
Wer sich damit tröstet, dass es noch keine SA gebe, der übersieht auch, dass die Neonazis schlecht beraten wären, würden sie jetzt eine mehr oder weniger bewaffnete Truppe aufstellen. »Noch nicht«, wie Höcke gerne sagt, wenn er auf die Fortentwicklung seiner Partei angesprochen wird. Wer wie Pabst argumentiert, der übersieht zweitens dass es eine SA im Wartestand in Form des faschistischen Untergrunds längst gibt, ebenso wie ein weites Rekrutierungsfeld für eine SA bei Pegida und ähnlichen Vorfeldorganisationen der AfD. Und wo sind eigentlich die bei Polizei, Spezialeinheiten und Bundeswehr dauernd verschwindenden Waffen? Was schließen wir daraus, dass Staatsdiener, die Waffen im Untergrund verschwinden lassen, amnestiert werden?
Wer sich damit tröstet, dass es noch keine SA gebe, der hat die Strategie der Nazis – alt und neu – nicht verstanden. Nach dem gescheiterten Marsch auf die Feldherrenhalle hat Hitler eben diese Geringschätzung von Wahlerfolgen aufgegeben und in »Mein Kampf« die neue Linie entwickelt, vermittels von Wahlerfolgen ein politischer Faktor zu werden, der nicht übergangen werden kann. Ohne die Wahlerfolge der NSDAP wäre Hitler nicht Reichskanzler geworden. Und ohne Hitlers Reichskanzlerschaft hätte es keinen Staatsstreich und keine Nazi-Diktatur gegeben. Mit einer einseitigen Einschätzung der faschistischen Bewegung lenkt man geradezu von der Gefahr ab, die sich aus Wahlerfolgen der Nazis ergaben und aus Wahlerfolgen der AfD ergeben werden.
Im Übrigen war die – bewaffnete – faschistische Bewegung nicht nur dazu da, die Arbeiterbewegung zu terrorisieren. Sie sollte verhindern und hat verhindert, dass die Enthauptung der Arbeiterbewegung durch eine Militärdiktatur vorgenommen wurde, die die Nazis von der Macht ferngehalten hätte. Die Reichswehrführung hat diese Möglichkeit durchgespielt mit dem Ergebnis, dass im Falle eines Militärputsches die Nazis dagegen aufstehen würden und große Teile der Offiziere und Mannschaften der Reichswehr – einer Berufsarmee – zu den Nazis überlaufen würden. Der Militärputsch war deshalb keine Option. Die Nazis haben immer den alten Eliten, Kapitalist:innen und der Militärführung gedient und sie zugleich mit ihren eigenen bewaffneten Truppen in Schach gehalten, um in allen Fragen das letzte Wort zu haben, erst mit der SA, danach mit der Waffen-SS. Das ist die Basis des faschistischen Doppelstaates und die Voraussetzung für die halsbrecherische Blitzkriegsstrategie wie für den Holocaust.
Wo stehen wir?
Ohne Weltwirtschaftskrise kein Aufstieg der Nazis und kein Faschismus. Die Weltwirtschaftskrise hat erstens die Wahlerfolge der Nazis ausgelöst von 2,6 Prozent vor der Weltwirtschaftskrise auf 18,3 Prozent 1930 bis 37,3 Prozent im Juli 1932 indem sie am Ende die Stimmen aller konservativen Parteien, außer denen für den politischen Katholizismus, auf sich vereinigte. Zweitens veränderte der Zusammenbruch der Weltwirtschaft die Ziele der Großindustrie. Hatte zuvor nur eine Minderheit der Schwerindustrie für einen neuen imperialistischen Krieg plädiert, so gewann diese Perspektive nun an Boden. Ihr stand die Arbeiterschaft entgegen, die erneut den Blutzoll würde bezahlen müssen. Zu lebendig war noch die Erinnerung an das Gemetzel des Ersten Weltkrieges in ihren Reihen. Sollte ein neuer Krieg vorbereitet werden, musste zuvor die Arbeiterklasse ihrer politischen Handlungsfähigkeit beraubt werden. Das hieß: Zerschlagung ihrer Organisationen, Verfolgung, Wegsperren, Ermordung, Vertreibung ihrer Kader. So wie die Dinge lagen, ging das nicht ohne die Nazis.
Die jüngste Finanzkrise ist anders ausgegangen. Der Casino-Kapitalismus wurde gerettet. Der »Shareholder Value« dominiert, die Realeinkommen der abhängig Beschäftigten sinken, die Reichen werden immer reicher, weil nicht besteuert, der Staat wird so verarmt. Steuerpolitik und Schuldenbremse sorgen dafür, dass dies so bleibt. Das bisschen, was, gemessen an der Aufgabe, gegen den Klimawandel gemacht wird, kostet viel und wird den kleinen Leuten aufgebürdet, ebenso die Kosten für ein militärisch stärkeres Deutschland. Da braucht es keinen faschistischen Staatsstreich. Da muss man keinen Höcke die Macht ergreifen lassen. Im Gegenteil, eine an den Wahlurnen erfolgreiche faschistische Partei, eine der Voraussetzungen für den Staatsstreich, stört eher, wie man an den Reaktionen aus Unternehmerkreisen sieht. In solchen Zeiten scheint eine kleine, scheinbar bedeutungslose faschistische Partei im Wartestand, wie sie das Verfassungsgericht bisher vorhalten will, auf den ersten Blick viel sinnvoller.
Also keine Gefahr? Was spricht eigentlich gegen eine große faschistische Partei, die sich, bezogen auf den Staatsstreich und die Errichtung der faschistischen Diktatur, zurückhält, bis sie wirklich benötigt und gerufen wird? Und bis dahin ihre Ziele im Rahmen der parlamentarischen Demokratie verfolgt? Ist das die Blaupause für LePen, Wilders, Meloni und Höcke?
Was hier zur Debatte steht, ist der unmittelbare Abwehrkampf gegen den Vormarsch des Neofaschismus. Wenn die Sozialist:innen in diesem Kampf in die Offensive kommen sollen, dann müssen wir die Frage beantworten, warum nicht wir zum Sprecher der von der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Krise ausgelösten Unzufriedenheit geworden sind.
Schlagwörter: AfD, Antifaschismus, Faschismus, Inland