Über die aktuelle Lage in Afghanistan, wie sie sich für afghanische Frauen verschlimmert hat und weiter verschlimmern wird und darüberhinaus, dass die Klimakrise und der US-Imperialismus ihre Tribute unter den Ärmsten der Armen sucht. Von Nancy Lindisfarne und Jonathan Neale
Am 19. Dezember 2022 kündigte die Taliban-Regierung an, dass Frauen nicht mehr an Universitäten zugelassen werden sollen. Am 24. Dezember kündigte sie an, dass Frauen nicht mehr für vom Ausland finanzierte NGOs arbeiten dürfen. Dies sind schlimme Entwicklungen.
Wie so oft spielen sowohl die Taliban als auch die westlichen Mächte mit dem Leben der Frauen für ihre eigenen politischen Ziele. Dieser Text erklärt, wie und warum.
Erstens findet innerhalb der Taliban eine zunehmend erbitterte Debatte statt. Nachdem das US-Militär vertrieben worden war, spalteten sich die Taliban in der Frage der Bildung von Frauen.
Die Traditionalisten wurden von Haibatullah Akhundzada angeführt. Die beiden früheren Führer der Taliban, die beide von den Amerikanern ermordet wurden, waren Dorfmullahs, die an der Basis den bewaffneten Widerstand gegen die russische Invasion angeführt hatten. Akhundzada war ein höher gebildeter Kleriker, ein hochrangiger Richter im Gerichtssystem der Taliban.
Die Regierung befindet sich in Kabul. Akhundzada hält sich in Kandahar auf, wo er sich weitgehend versteckt hält, um Attentate zu verhindern. Er fungiert als geistiger Führer der Bewegung. Mit anderen Worten, seine Aufgabe ist es, sich um die Religion zu kümmern. Von Anfang an war er gegen die Bildung der Frauen.
Die Taliban, die die Regierung in Kabul leiten, haben andere Prioritäten. Vom ersten Tag an waren sie sich bewusst, dass sie mit einer schwierigen wirtschaftlichen Situation konfrontiert sind. Der Abzug der ausländischen Soldat:innen und der ausländischen Hilfe bedeutete einen Einbruch der Beschäftigung und der Einkommen. Darüber hinaus leidet das Land unter einer bitteren Dürre, die durch den Klimawandel verursacht wird.
In dieser katastrophalen Situation wussten die Taliban an der Regierung, dass sie unbedingt große Mengen an ausländischer Hilfe und ausländischem Getreide von den Vereinten Nationen, den Vereinigten Staaten und den westlichen Mächten brauchten. Sie sagten Akhundzada in Kandahar, dass die westlichen Mächte die Hilfe streichen würden, wenn er jegliche Bildung für Frauen verbieten würde.
Akhundzada und seine Anhänger nahmen dies zur Kenntnis. Sie warteten auf die Taliban in der Regierung, um den Westen zum Einlenken zu bewegen.
Uneinigkeit unter den Westmächten
Gleichzeitig kam es zu einer Spaltung zwischen den westlichen Mächten. Die US-Regierung versuchte, Afghanistan als Rache für die Kriegsniederlage wirtschaftlich zu strangulieren. Dazu gehörten Wirtschaftssanktionen, die es sehr schwierig machten, Geld nach Afghanistan zu transferieren. (Lies hier den marx21-Artikel: »Afghanistan und das Imperium«).
Es ging auch darum, die Reserven der afghanischen Regierung zu stehlen, die in Washington geblieben waren. Diese neun Milliarden US-Dollar waren nach US-Maßstäben eine läppische Summe, aber ein riesiger Verlust für das mittellose Land.
Die amerikanische Regierung plädierte nicht öffentlich für Rache. Stattdessen wurden alle ihre Aktionen mit der Sorge um die afghanischen Frauen gerechtfertigt, so wie auch die lange amerikanische Besatzung ab Herbst 2001 öffentlich auf dieselbe Weise gerechtfertigt wurde.
Einige andere Regierungen und die meisten UN- und NGO-Mitarbeiter:innen vor Ort wollten eine sich weiter zuspitzende Hungersnot in Afghanistan verhindern. Das war ein Gebot der Menschlichkeit. Aber auch, weil die Regierungen sich die Verbitterung und den Terrorismus, insbesondere in den Nachbarländern, vorstellen konnten, die folgen würden, wenn eine große Zahl von Afghan:innen an Hunger sterben würde.
Mehr als 80 Prozent des Landes sind von schweren Dürren betroffen
Das Ergebnis war, dass die Vereinten Nationen, andere Regierungen und die NGO genügend Nahrungsmittel fanden, um die Menschen im Winter 2021-2022 zu ernähren. Doch nun steht der nächste Winter vor der Tür, und die angebotene Hilfe ist viel geringer als im letzten Jahr.
Die Taliban-Regierung in Kabul kann ihr Volk nicht ernähren. Sie hatten Akhundzada versprochen, dass der Westen seine Versprechen einhalten würde, wenn er die Universitäten für Frauen offen halten und die weiterführenden Schulen ebenfalls für Frauen öffnen würde.
Am 2. Dezember fasste der Internationale Rote Halbmond/Rotes Kreuz die Lage zusammen:
»Afghanistan wird von einer der schlimmsten Dürre- und Nahrungsmittelkrisen seit Jahrzehnten heimgesucht, und es droht eine beispiellose humanitäre Katastrophe, da Millionen von Afghan:innen ein bitterer Winter bevorsteht.
Der Afghanische Rote Halbmond liefert dringend Nahrungsmittelhilfe und Überlebenspakete für den Winter. Rund 22,8 Millionen Menschen – 55 Prozent der afghanischen Bevölkerung – leiden unter akuter Nahrungsmittelknappheit.
Mehr als 80 Prozent des Landes sind von einer schweren Dürre betroffen, die die Nahrungsmittelproduktion lahmlegt und die Menschen von ihrem Land zwingt.
Fast 700.000 Menschen wurden in diesem Jahr vertrieben, zusätzlich zu den rund 3,5 Millionen Menschen, die bereits aus ihren Häusern im ganzen Land vertrieben wurden und die alle mit einem harten Winter konfrontiert sind, in dem die Temperaturen in einigen Gebieten Afghanistans auf bis zu -20 °C sinken können.«
Im Moment ist dies die schlimmste Klimakatastrophe der Welt. (Lies hier den marx21-Artikel: »Klimaveränderung in Afghanistan«).
Die Verbote
Inzwischen scheint Akhundzada beschlossen zu haben, dass es genug ist. Die Taliban an der Regierung in Kabul hatten nicht geliefert. Der Westen, und insbesondere die USA, nahmen die Bildung von Frauen nicht ernst. Beides trug dazu bei, dass die internen Auseinandersetzungen unter den Taliban in Richtung Sexismus kippten.
Aber auch die Taliban verloren die Kontrolle über die Situation. Sie standen vor einer wirtschaftlichen und klimatischen Katastrophe. Erschwerend kam hinzu, dass sie von der Nahrungsmittelhilfe derselben westlichen Mächte abhängig waren, die sie besetzt und gefoltert hatten.
Dann waren da noch die NGOs. Es handelte sich dabei um gemeinnützige Organisationen, die aus dem Ausland, hauptsächlich aus Nordamerika und Europa, finanziert und geleitet wurden. Sie verfügten über das Personal und die Infrastruktur, um einen Großteil der benötigten Nahrungsmittelhilfe und medizinischen Versorgung zu leisten. Die Taliban waren bei dieser Arbeit ebenfalls auf sie angewiesen, da ihre Regierung weder über die notwendige Infrastruktur noch über die Steuereinnahmen verfügte, um die Menschen zu bezahlen, die diese Leistungen erbringen sollten.
In dieser Situation kippte das Gleichgewicht im internen Streit unter den Taliban wieder zugunsten von Akhundzada und den Traditionalisten, so dass die Regierung am 19. Dezember Frauen von den Universitäten ausschloss. Am 24. Dezember verfügte sie, dass Frauen nicht für NGOs arbeiten dürfen.
Zwei weitere Faktoren spielten hier eine Rolle. Akhundzada war nicht für die Regierung, sondern für die geistlichen Angelegenheiten zuständig. Gerade weil die Taliban von den westlichen Mächten abhängig waren, spielte er die islamistische Karte. Eine Regierung und eine Bewegung, die mit der Wirtschaft nicht zurecht kam, wählte das einzige Feld, auf dem sie unabhängig erscheinen konnte.
Der Islamische Staat
Dann war da noch der Islamische Staat Khorosan (Khorosan war die alte Bezeichnung für den Osten Irans und Afghanistans). Der ISK entstand 2015 als radikale Abspaltung von den Taliban. Der ISK war mit der Taliban-Mehrheit vor allem in zweierlei Hinsicht nicht einverstanden. Sie waren gegen Verhandlungen mit den US-Amerikanern. Nach dem Vorbild des Islamischen Staates im Irak betrachteten sie alle Schiit:innen als Feinde. Diese Politik unterschied sich stark von derjenigen der Taliban-Mehrheit, die eine ökumenische Bewegung aller Muslime aufbauen wollte.
Nach dem Abzug der USA gelang es den Taliban, die meisten ISK-Kämpfer vor Ort gefangen zu nehmen oder zu töten. Dennoch gelang es der ISK, mit einer kleinen Anzahl von Bombenanschlägen, bei denen Mädchen in Schulen und Hazara-Schiit:innen getötet wurden, ihr öffentliches Gesicht zu wahren. Über die meisten dieser Bombenanschläge wurde in den westlichen Medien so berichtet, als seien sie von Taliban verübt worden, die an der Regierung waren, und als hätten sie die Unterstützung der Bevölkerung. In Wirklichkeit waren sie das Gegenteil: Bombenanschläge mit dem Ziel, die Taliban-Regierung zu schwächen.
Aber in einer sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation müssen Akhundzada und seine Anhänger auch dem ISK über die Schultern schauen.
Andere arbeitende afghanische Frauen
Das von der afghanischen Regierung verhängte Verbot für Frauen, für NGO zu arbeiten, kam zu früheren Verboten für Frauen, im öffentlichen Sektor zu arbeiten, noch hinzu. Es handelte sich nicht um ein Verbot jeglicher Beschäftigung. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) arbeiteten im Jahr 2020 205.000 afghanische Frauen im öffentlichen Sektor und in NGOs sowie 279.000 Frauen in der Textilindustrie.
Wahrscheinlich gab es auch mindestens so viele Frauen, die in der Teppichindustrie von zu Hause aus arbeiteten, wie ausgelagerte Arbeitskräfte. Es gab noch viel mehr Nomadenfrauen, die schon immer außerhalb ihrer Zelte gearbeitet haben. Wie schon immer waren arme Bauernfamilien auf die Arbeit von Frauen auf den Feldern angewiesen, und die Mehrheit der afghanischen Bauern war arm.
Die Taliban haben den Frauen diese Art von Arbeit nicht untersagt. Aber bei der ganzen Kontroverse ging es nicht um arme Frauen. Für die Taliban-Führer und für die amerikanischen Führungskräfte und Journalist:innen waren sie in dieser Kontroverse irrelevant.
Proteste
Die Verbote sind falsch und sexistisch. Aber es gab eine willkommene Folge: In mehreren Städten gab es Frauenaufmärsche. Diese Proteste waren klein, und sie repräsentierten mutige und engagierte Minderheiten.
Es gibt auch ein Video, das zeigt, wie die männlichen Studenten der medizinischen Fakultät der Universität in Dschalalabad aus Solidarität mit den Studentinnen, die ausgeschlossen worden waren und vor dem Hörsaal standen, ihre Prüfungen abbrechen. Dies ist umso bemerkenswerter, als es sich um Menschen handelt, die an einem Arbeitsplatz – der Universität – zusammenkommen.
Das Video kann hier angesehen werden. Man soll den Moment beachten, in dem die Studentinnen in Schwarz verstehen, was die Männer in Weiß tun.
In der Zwischenzeit muss wiederholt werden, dass die meisten afghanischen Männer das Verbot der Ausbildung von Frauen nicht unterstützen. Auf Twitter sind zahlreiche Videos und Fotos aus dem letzten Jahr zu sehen, auf denen afghanische Dorfälteste, Männer mit weißen Bärten und traditioneller Kleidung, zusammenkommen, um ihre Unterstützung für den Zugang ihrer Mädchen zu den örtlichen Schulen zu diskutieren. (Siehe z. B. die Twitter-Feeds von @matiullahwesa und @penpath1.)
Dies ist ein weiterer Grund dafür, dass auch unter den Taliban offensichtlich noch tiefe Gräben bestehen. Verschiedene Ministerien, die die afghanischen Medien offiziell und inoffiziell informierten, vertraten unterschiedliche Standpunkte. Sie sagten, sie hofften, die Verbote rückgängig machen zu können – und sie könnten dazu auch in der Lage sein.
Der US-imperialistische Würgegriff hält an
Die meisten der vom Ausland finanzierten NGOs reagierten mit einer Arbeitsverweigerung, bis das Verbot für ihre weiblichen Mitarbeiterinnenschaft aufgehoben wurde. Dies muss tragische Auswirkungen auf die Lebensmittelverteilung und die Gesundheitsversorgung haben.
Bislang hat der UN-Sicherheitsrat Afghanistan einstimmig zensiert, aber die Nahrungsmittelhilfe noch nicht eingestellt.
Dennoch ist dies ein Triumph für Bidens hässliche Rachepolitik, die es leichter macht, Afghanistan zu isolieren und auszuhungern. Es ist ein Sieg für die Politik von Akhundzada, die die Kontrolle der Patriarchen der Taliban weiter ausbaut. (Lies hier das marx21-Interview: »Ein Jahr nach dem Nato-Abzug aus Afghanistan«).
Es ist eine Niederlage für die große Zahl von Frauen, die eine Universität besuchen oder in NGOs arbeiten (wollen), und für die weitaus größere Zahl von Mädchen, die eine weiterführende Schule besuchen wollen. Es ist eine Niederlage für die sehr viel größere Zahl armer Frauen und Kinder, die mit der Realität von Hunger, Kälte und der Angst vor einer Hungersnot konfrontiert werden. Es ist eine Niederlage für die armen Männer, die an ihrer Seite mit all dem Elend und der Hungersnot konfrontiert sein werden.
Zwei Abschiedsgedanken
Wir lassen die Leser:innen mit zwei Gedanken zurück. Der erste betrifft die Art und Weise, wie die westlichen Medien über diese Ereignisse berichtet haben. Ein Artikel von Zahra Joya im Guardian vom 23. Dezember ist ein gutes Beispiel dafür.
Joya ist eine afghanische Hazara-Journalistin und Feministin, die jetzt im Exil lebt. Sie unterstützt die Proteste, so wie wir auch. Joya wählt aufschlussreiche und bewegende Auszüge aus Interviews mit afghanischen Frauen aus. Sie zitiert einen Mann, der die Proteste unterstützt.
Dieser Mann ist Ramatullah Nabil. Er war in den Jahren vor den Taliban Direktor der Staatssicherheit und dann Geheimdienstminister und lebt heute im Exil. Im Klartext: Er war in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Besatzung für Inhaftierungen und Folterungen im ganzen Land verantwortlich.
Dieser Artikel ist Teil eines Trends in der Berichterstattung vieler westlicher – und nicht nur westlicher – Medien. Die Unterstützung für Frauen, für Feminist:innen und für ihre Proteste in Afghanistan wird mit einem politischen Projekt verbunden, das die Isolierung der Afghanen und den Abzug der Hilfe fordert, die arme afghanische Frauen dringend benötigen. Dies ist eine neue Form des alten Arguments, dass der Westen afghanische Frauen, Kinder und Männer bombardieren sollte, um afghanische Frauen zu retten. Diesmal sind es keine Bomben, sondern Hunger.
Einige derjenigen, die dieses Argument verbreiten, sind diejenigen in der Diaspora, die enge Verbindungen zu den korrupten Kriegsherren und Kollaborateuren haben, die Afghanistan unter den USA regierten.
[Für die Einzelheiten dieser Erfahrung lesen Sie bitte das ausgezeichnete Buch von Timor Sharan, Inside Afghanistan: Political Networks, Informal Order, and State Disruption].Einige Leute in der Diaspora rufen zu einem westlichen Boykott der afghanischen Regierung auf, der jedoch zu einer noch schlimmeren Hungersnot führen wird. Andere rufen sogar zu einer weiteren Invasion auf.
Unser anderer Gedanke zum Abschied ist jedoch, dass die Geschichte weitergeht. Der »Feminismus« der Folterknechte und das Patriarchat der Taliban sind nicht die einzigen Alternativen. Viele, vor allem jüngere Menschen in Afghanistan empfinden Abscheu sowohl gegenüber den alten, korrupten Kollaborateuren der westlichen Besatzung als auch gegenüber der sexistischen Politik der Taliban.
In ihnen liegt die Hoffnung auf die Zukunft. Aber gerade jetzt, in diesem Winter, ist die Gefahr des Hungers akut.
Dieser Text erschien zuerst auf Anne Bonny Pirate.
Übersetzt von Simo Dorn.
Titelbild: Farid Ershad
Schlagwörter: Afghanistan, Emanzipation, Imperialismus, Klimakrise