Der Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan ist überfällig. Er offenbart das Fiasko, das der imperialistische Krieg angerichtet hat, meint Christine Buchholz
Der Afghanistankrieg war ein Desaster. Die genauen Opferzahlen sind nicht bekannt. Die Ärzteorganisation IPPNW ging bereits 2016 davon aus, dass 250.000 Menschen direkt oder indirekt durch den Krieg getötet und 12 Millionen Menschen vertrieben wurden.
Mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan geht der teuerste und verlustreichste Auslandseinsatz in der Geschichte der Bundeswehr zu Ende. Er bestand aus der offensiven Kampfoperation »Enduring Freedom« und der zunächst als »Stabilisierungsmission« verkauften ISAF-Mission, die immer stärker und offensichtlicher Aufstandsbekämpfung betrieb. Seit 2015 war die Bundeswehr außerdem im Rahmen der robusten »Resolut Support Mission« zur Ausbildung von Sicherheitskräften in Afghanistan.
Das im Jahr 2001 in Afghanistan einmarschierende westliche Militärbündnis unter Führung der USA erklärte, man wolle mit dem Sturz der Taliban das afghanische Volk »befreien«, insbesondere die Frauen, und den internationalen Terrorismus bekämpfen. Außerdem sollte die Regierung von Präsident Hamid Karsai, die bei der Afghanistankonferenz auf dem Petersberg in Bonn im Dezember 2001 eingesetzt wurde, abgesichert werden.
Keines dieser Ziele ist erreicht, im Gegenteil. Die Taliban sind so stark wie lange nicht mehr, Terror und Gegenterror sind allgegenwärtig. Die soziale und wirtschaftliche Situation im Land ist katastrophal. Die vom westlichen Militärbündnis gestützte ehemalige Regierung Karsai hat ein korruptes System zur Verteilung knapper Ressourcen aufgebaut. Der Drogenhandel blüht.
Afghanistan: Der teuerste Auslandseinsatz der Bundeswehr
Mit dem Abzug geht der teuerste und verlustreichste Auslandseinsatz in der Geschichte der Bundeswehr zu Ende. Die IPPNW ging schon für den Zeitraum 2001 bis 2013 davon aus, dass 170.000 Zivilpersonen direkt durch den Krieg getötet wurden. 59 deutsche Soldaten verloren ihr Leben, 35 davon wurden bei Anschlägen oder in Gefechten getötet. Mehr als 12 Milliarden Euro kostete der Bundeswehreinsatz. Er bestand aus einer offensiven Kampfoperation, der Operation »Enduring Freedom« und der zunächst als Stabilisierungsmission verkauften ISAF-Mission, die immer stärker und immer offensichtlicher Aufstandsbekämpfung betrieb. Seit 2015 war die Bundeswehr im Rahmen des robusten Mandates der »Resolut Support Mission« in Afghanistan. Aber ging es dem 2001 in Afghanistan einmarschierende Militärbündnis westlicher Staaten überhaupt um Demokratie, Frauenrechte und gesellschaftlichen Fortschritt?
Die wahren Ziele des imperialistischen Westens
Den USA ging es um geostrategischen Einfluss im ölreichen Nahen und Mittleren Osten. Für die deutschen Bundesregierungen bot sich die Gelegenheit, in einer Region von zentraler geopolitischer Bedeutung militärisch präsent zu sein. Zudem wollte man dem seit Anfang der 1990er Jahre angestrebten Ziel näherkommen, die Bundeswehr zu einer weltweit operierenden militärischen Kraft auszubauen.
Im Jahr 1994 klagte die SPD vor dem Bundesverfassungsgericht noch gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr. Sieben Jahre später machte die rot-grüne Regierung den Weg frei für die deutsche Beteiligung am Afghanistankrieg. Es ging unter dem Vorwand der »Verantwortung« darum, auf der Weltbühne mitzumischen. Der damalige grüne Außenminister Joschka Fischer sagte: »Das Maß der Mitbestimmung richtet sich nach dem Maß des Mitwirkens.«
Testfeld Afghanistan
Für das Verteidigungsministerium war Afghanistan ein Testfeld. Hier lernte die Bundeswehr an der Seite der amerikanischen Streitkräfte, imperialistischen Krieg zu führen, man wuchs in neue Aufgaben hinein. Die Bundeswehr beteiligte sich am aktiven Gefecht, an der systematischen Ermordung führender Kommandanten des Gegners und probte die Steuerung militärischer Drohnen.
Das Massaker von Kundus, bei dem am 4. September 2009 über 100 Zivilist:innen auf Befehl des Bundeswehrobersten Georg Klein ermordet wurden, rückte in die Wahrnehmung der Öffentlichkeit, was offiziell nicht wahr sein sollte: Deutschland war im Krieg.
Über 100 Zivilist:innen wurden auf Befehl der Bundeswehr ermordet
In dem von Militärstrategen als »asymmetrischer Konflikt« bezeichneten Krieg übernahm Deutschland eine immer größere Rolle. Seit 2003 führte die Bundeswehr das sogenannte Provincial Reconstruction Team (PRT) im nordafghanischen Kundus, seit 2004 auch das PRT in Faisabad. Der Name »Wiederaufbauteam« sollte den Eindruck erwecken, als würden hier zivile Hilfsorganisationen unter dem Dach militärischen Schutzes ihre Tätigkeit aufnehmen. Tatsächlich waren die PRT reine Militärlager. Zu Beginn des Jahres 2010 befanden sich im PRT Kundus neben den stationierten 1.300 Soldaten ganze 20 Mitarbeiter der sogenannten »Zivilmilitärischen Zusammenarbeit«, kurz CIMIC. Was wie selbstlose Hilfe aussieht, ist hingegen militärisches Kalkül. Die Bundeswehr braucht ein »ziviles Lagebild«, um ihren militärischen Auftrag inmitten der Bevölkerung erfüllen zu können. Die Bundeswehr schreibt selbst: »CIMIC ist keine Entwicklungshilfe, sondern Bestandteil der militärischen Operationsführung«.
Deutschland übernahm ab 2006 das Regionalkommando für den gesamten Norden Afghanistans. Die Bundeswehr richtete zu diesem Zweck bei Masar-i-Scharif mit Camp Marmal ein mehr als drei Quadratkilometer umfassendes Feldlager ein, das mitsamt einem Flughafen mehrere Tausend Soldaten der ISAF beherbergte. Zum Höhepunkt der Intervention im März 2011 umfasste das deutsche Kontingent 5.300 Soldaten, 59 von ihnen verloren im Einsatz ihr Leben.
Ab 2015 übergab die ISAF den Stab an den NATO-Nachfolgemission Resolute Support Mission. Offiziell wurde stets betont, es handele sich um eine Mission zur Ausbildung und Beratung afghanischer Streitkräfte. Das Mandat ließ aber einen Spielraum für Kampfhandlungen.
»Niemand kann ein anderes Volk befreien«
Im Jahr 1981, nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan, schrieb der US-amerikanische Sozialist und Aktivist Jonathan Neale: »Niemand kann ein anderes Volk befreien, weder durch Erziehung noch durch Staatsmacht noch durch Putsche und amtliche Dekrete.« Die Militäreinsätze schwächten den Widerstand aus der afghanischen Gesellschaft gegen die Herrschaft der Taliban, eine Entwicklung, die sich ähnlich in Irak und Libyen beobachten lässt. Gestärkt wurden die Taliban und andere rückschrittliche Kräfte im Land. Die Flüchtlingskatastrophe im Mittleren und Nahen Osten ist auch das Resultat westlicher Militäreinsätze, im Falle von Syrien auch von russischer Militärintervention.
Das ist heute so richtig wie vor vierzig Jahren. Die Lehre aus der afghanischen Katastrophe ist dieselbe wie die aus der syrischen, libyschen und irakischen Katastrophe: Demokratie, gesellschaftlicher Fortschritt kann nicht mit Kriegen von außen aufgezwungen werden.
Schluss mit Bundeswehreinsätzen und Abschiebungen
Mit dem Abzug der westlichen Truppen enden ihre Kampfhandlungen in Afghanistan nicht. Das US-Militär gab bekannt, dass bereits Kampf- und Aufklärungsoperationen außerhalb der Landesgrenzen gestartet werden. Die Konsequenz aus dem Afghanistandesaster muss sein, die ausländischen Truppen, Spezialkräfte und Geheimdienste dauerhaft zurückzuziehen.
Die Bundeswehr ist aus allen Auslandseinsätzen abzuziehen, sie darf sich keinen weiteren Kriegen anschließen und keine neuen Kriege anfangen. Das Auswärtige Amt muss seine Einschätzung zur Sicherheitslage in Afghanistan korrigieren. Sämtliche Abschiebeflüge müssen sofort gestoppt werden.
Rekonstruktion der deutschen Kriegsverbrechen in Kundus
Am 4. September 2009 sind auf Befehl der Bundeswehr zwei im Fluss Kundus steckengebliebene Lastkraftwagen ohne Vorwarnung bombardiert worden. Bei dem Angriff starben bis zu 140 afghanische Zivilisten, darunter zahlreiche Kinder. Viele weitere sind verletzt und traumatisiert worden. Es handelte sich um das schlimmste Kriegsverbrechen in deutscher Verantwortung seit dem Zweiten Weltkrieg.
Bis heute entzieht sich die Bundesregierung ihrer Verantwortung. Die Opferfamilien wurden nicht entschädigt, die Bundesregierung hat zu keinem Zeitpunkt ein Schuldeingeständnis abgeliefert. Der Generalbundesanwalt stellte Ermittlungen gegen den Bundeswehrobersten Klein nach einem Monat ein, es fand keine strafrechtliche Verfolgung statt. Stattdessen baute die Bundesregierung die Erzählung auf, der Angriff sei militärisch angemessen gewesen. Klein wurde sogar befördert.
Abdul Hanan, der Vater zweier bei dem Angriff getöteter Kinder, zog mit Entschädigungsklagen vor deutsche Gerichte und scheiterte. Auch seine Klage am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen mangelnder Aufklärung scheiterte. Damit ist die Bundesregierung mit ihren Fake News und der Verschleierungstaktik zu dem Angriff in Kundus durchgekommen.
»Bundeswehroberst Klein wurde sogar befördert«
Dabei kam der vom Bundestag 2009 eingesetzte parlamentarische Untersuchungsausschuss zu anderslautenden Ergebnissen. Es wurde deutlich, dass der den Angriff kommandierende Oberst Klein nicht zwischen Aufständischen und Zivilisten unterschieden und damit Grundregeln des Völkerrechts missachtet hatte. Überdies ignorierte Klein selbstherrlich mehrere Einsatzregeln der NATO. So verzichtete er auf die vorgeschriebene »Show of Force«, also einen Überflug in niedriger Höhe als Warnung für den bevorstehenden Angriff. Stattdessen ließ Klein ohne Vorwarnung bombardieren.
Die Bundesregierung wiederholte immer wieder die Behauptung, die Tankfahrzeuge seien angegriffen worden, um zu verhindern, dass sie »für einen späteren Angriff missbraucht werden«. Das ist eine Lüge. Die angegriffenen Tankfahrzeuge hatten sich vom Lager der Bundeswehr entfernt, bevor sie im Fluss steckenblieben. Die örtliche Bevölkerung sammelte sich an ihnen, um das enthaltene Benzin für den individuellen Verbrauch abzuzapfen. Anders als die Bundesregierung heute behauptet, stellten die Tankfahrzeuge keine militärische Gefahr dar. Am Fluss Kundus zeigte der Krieg am Hindukusch sein wahres Gesicht.
Christine Buchholz ist für die Bundestagsfraktion DIE LINKE Mitglied im Verteidigungsausschuss. Sie war Mitglied im Kundus-Untersuchungsausschuss und war 2010 in Afghanistan.
Bild: Brandon Owen / DVIDSHUB / CC BY / flickr.com
Zum Text: Der Beitrag erschien zuerst auf der Seite LINKSBEWEGT.
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