Alex Callinicos beleuchtet die Hintergründe des Streits um den Brexit zwischen den Eliten Großbritanniens und der Europäischen Union
Dieser Beitrag zum Brexit ist ein Auszug des Artikels »Riders of the storm« von Alex Callinicos, der zuerst auf Englisch im International Socialist Journal, Ausgabe 164 erschien. Alex Callinicos ist Herausgeber des International Socialist Journal und Professor für European Studies am King’s College in London. Übersetzung: Thomas Weiß
Das Ausmaß des interimperialistischen Konfliktes, also des Streits zwischen den imperialistischen Mächten Großbritannien und den führenden Staaten des Kontinents, über die Brexitfrage ist inzwischen offensichtlich. Auf der Konferenz der britischen »Liberal Democrats« im letzten September verkündete Guy Verhofstadt, eingefleischter Fan einer europäischen Föderation und Ein-Mann-Stoßtrupp für dieses Ziel, außerdem früherer Premierminister von Belgien und jetzt Brexit-Koordinator des europäischen Parlaments: »Die zukünftige Weltordnung wird sich nicht mehr auf Nationalstaaten oder Länder stützen, sondern auf Empires … Die Welt von morgen ist eine Welt der Empires. Wir Europäer und ihr Briten können unsere Interessen und unseren Lebensstil nur verteidigen, indem wir in einem europäischen Rahmen, in einer Europäischen Union zusammenarbeiten.« Die damit verbundene Drohung: »Kommt mit dem europäischen Empire klar oder geht unter!«.
Brexit: Wechselseitige Drohungen
Doch das Brexit-Beispiel zeigt, dass imperiale Mächte, auch die EU, sich häufig mit recht widerspenstigen Realitäten, die sich ihrer Kontrolle entziehen, auseinandersetzen müssen. In der Tat konnte man bei Verhofstadt einige Tage später im Europäischen Parlament auch Ängste heraus hören: »Das Europäische Parlament wird niemals hinnehmen, dass das Vereinigte Königreich alle Vorteile des freien Handels behalten darf, ohne sich unseren ökologischen, gesundheits- und sozialpolitischen Standards anzupassen … Wir werden niemals ein ›Singapur an der Nordsee‹ hinnehmen.« [Singapur ist ein Kleinstaat in Asien und ein Finanzzentrum, vergleichbar der Schweiz oder Luxemburg.] Mit anderen Worten, die 27 Staaten der EU (besonders Frankreich, die Niederlande und andere nordeuropäische Mitgliedstaaten) machen sich auch Sorgen. Sie befürchten, dass Großbritannien seinen Bruch mit der EU dazu nutzt, um gegenüber der EU einen Konkurrenzvorteil zu erhalten, indem es seine Unternehmen weniger stark reguliert.
Konkurrenz um die Marktregulierung
Ein wesentlicher Bestandteil der Brexit-Verhandlungen waren die Bemühungen von Brüssel, Großbritannien dazu zu zwingen, ein, wie es ein Kommentator ausdrückte, »regulierungspolitischer Satellit« der EU zu bleiben. Boris Johnson hat die Sorgen der EU vergrößert. Denn er nahm das Versprechen von Theresa May zurück, ein »ebenes Spielfeld« beibehalten zu wollen, mit den gleichen Regulierungsstandards für Großbritannien wie für die EU. Einem Artikel der »Financial Times« zufolge hat Boris Johnsons Europa-Berater David Frost »die EU-Verhandlungsführer aufgefordert, sich auf ein ›erstklassiges Freihandelsabkommen‹ festzulegen, in welchem das Vereinigte Königreich frei bliebe, auch nach dem Brexit über seine eigenen Regulierungsstandards zu bestimmen«. Wolfgang Münchau kommentiert dies in der »Financial Times« so:
»Man muss verstehen, dass die EU die Angst vor einer Konkurrenz um möglichst niedrige staatliche Regulierung umtreibt. Schon die alte Europäische Wirtschaftsgemeinschaft mag in den 50er Jahren hochfliegende politische Pläne gehegt haben. Gegründet wurde sie aber schlicht als ein Kartell der Produzenten. Ein Brexit à la »Singapur an der Nordsee«, nach welchem Großbritannien sich nicht mehr an die europäischen Marktregulierungen halten müsste, würde von der EU mit Sicherheit als Bedrohung wahrgenommen. Selbst wenn die Europäische Kommission einem Handelsabkommen, das dem Vereinigten Königreich die Autonomie über seine Regulierungsmaßnahmen überließe, zustimmte, würden niemals alle Parlamente der EU-Mitgliedsstaaten ihr Plazet geben. Frankreich würde mit Sicherheit nicht ratifizieren.«
Ein führender kapitalistischer Staat
Diese Sorgen sind nicht irrational. Großbritannien bleibt ein führender kapitalistischer Staat, auch wenn die Remainers [Befürworter eines Verbleibs in der EU, Anm. d. Red.] gerne das Bild einer ruinierten Nation verbreiten. Gemäß dem Power-Index von Tony Norfield (eine Rangliste der Staaten, in deren Berechnung Bruttoinlandsprodukt, direkte Auslandsinvestitionen, Volumen der Zahlungen in der jeweiligen Währung, Bilanzsumme der Banken und Militärausgaben eingehen) steht Großbritannien auf Platz 3 nach den USA und China und vor Japan, Frankreich und Deutschland. Diese Machtstellung wird sich nach einem Brexit nicht einfach in Luft auflösen. Insbesondere legt das auch ein neuer Bericht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) nahe. Demnach sind Hoffnungen etwa der französischen herrschenden Klasse, die City of London könnte mit Hilfe des Brexit von ihrem Platz als das herausragende globale Finanzzentrum verdrängt werden, vergeblich.
»City of London« stärker geworden
So ist seit 2016, dem Jahr des Brexit-Referendums, Londons Anteil am weltweiten Devisenhandel von 37 Prozent auf 43 Prozent gestiegen, während der Anteil des Hauptrivalen Wall Street von 20 Prozent auf 17 Prozent gefallen ist. Der Anteil am weltweiten außerbörslichen Handel stieg von 38 Prozent auf 50 Prozent. »London ist die Hauptstadt des Kapitals. Dieser Bericht [der BIZ] zeigt, dass trotz der derzeitigen Herausforderungen die Fundamente der City stark bleiben.« Dies äußerte gegenüber der »Financial Times« Catherine McGuinness, die Vorsitzende des »Policy and Resources Committee« der »City of London Corporation«.
Politiker vom europäischen Kontinent machen scheinheilig die »anglo-amerikanische Finanz« für den Crash 2007/2008 verantwortlich — scheinheilig, weil die Banken des Kontinents, oft über London, selbst sehr aktiv waren beim Aufblähen der Blase. Einer der größten Erfolge der EU war es, dass sie mit dem Versprechen eines freien Zugangs zum gemeinsamen Markt andere Staaten nötigen konnte, das regulatorische Regime der EU zu übernehmen. Deshalb ist die Aussicht, dass ein Schurkenstaat Großbritannien, immerhin die Basis der Finanzstadt London, die immer stärker zu werden scheint, sich als »Singapur an der Nordsee« gebärdet, wenig attraktiv.
Brexit: Widersprüche bleiben
Das Austrittsabkommen von Theresa May sollte Großbritannien weiterhin auf die EU ausrichten, gar in beträchtlichem Maße der EU unterordnen. Boris Johnson hat dies abgelehnt und hat so kaum eine andere Wahl, als dem Instinkt der Anhänger von Brexit und freier Marktwirtschaft zu folgen und sich den USA anzunähern, die unter Donald Trump emsig bemüht sind, Wühlarbeit gegen die EU zu leisten. Hauptsächlich um das zu verhindern, hat Brüssel bei den Brexit-Verhandlungen klare Kante gezeigt. Die Frage der irisch-irischen Grenze diente nur als Vorwand. Indem aber Brüssel so geringe Zugeständnisse an Theresa May machte, stärkte es die Anhänger eines harten Brexit, die jetzt das Kabinett von Boris Johnson beherrschen. Wie auch immer letztlich der Abgang Großbritanniens aussehen wird, diese Widersprüche werden sich weiter entwickeln vor dem Hintergrund wachsender handelspolitischer Spannungen zwischen EU und USA.
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