Am 8. Mai 1945 begannen französische Kolonialherren ein Massaker im besetzten Algerien zu verüben, als algerische Demonstrierende das Ende des Kolonialismus und der Besatzung forderten. Das Massaker von Sétif mahnt uns. Von Helena Zohdi
Der 8. Mai 1945 war nicht nur der Tag der Befreiung, der Tag, an dem der faschistische Terror der Naziherrschaft zerschlagen wurde. Am selben Tag fand in Sétif, einer nördlichen Stadt Algeriens, ein Massaker statt.
Doch es waren nicht die Nazis, die dieses Massaker verübten. Es waren die Truppen, die sich »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« auf die Fahne in Europa geschrieben hatten. Es waren die französischen Kolonialbesatzer, die Algerien seit über hundert Jahren, seit 1830, beherrschten.
Im Zweiten Weltkrieg hatten mehr als 100.000 Algerier:innen, genau wie andere kolonialisierte Menschen weltweit, mit Frankreich gegen die Nazidiktatur gekämpft. Viele algerische Soldaten wurden im Zweiten Weltkrieg getötet oder verwundet. Auch während sie in der französischen Armee für die Befreiung Europas von der faschistischen Naziherrschaft kämpften, wurden algerische und andere rassifizierte Soldaten der französischen Kolonien in den französischen Reihen diskriminiert.
Algeriens antikolonialer Aufschrei
Um den Sieg über die Nazidiktatur zu feiern sowie Unabhängigkeit vom Joch des französischen Kolonialismus zu fordern, gingen am 8. Mai um die 4.000 Algerier:innen in Sétif auf die Straße. Sie hatten Väter, Onkel und Brüder im Krieg gegen den Faschismus verloren und verlangten nun ihre eigene Befreiung. Als ein junger Mann namens Bouzid Saâl die algerische Unabhängigkeitsfahne schwenkte, reagierte die französischen Polizei brutal und erschoss ihn. In der algerischen Stadt Guelma wurden am selben Tag ebenfalls Demonstrierende von der französischen Polizei angegriffen. Daraufhin begann ein anti-französischer Aufstand, in dem mehrere französische Siedler:innen ums Leben kamen.
Diese Ereignisse wurden als Vorwand seitens der französischen Kolonialherren gemeinsam mit siedlungskolonialen Milizen unter Anweisung aus Paris verwendet, um kurz darauf einen Vergeltungsschlag zu starten. Muslimische algerische Zivilist:innen und Aktivist:innen wurden aufgesucht, erschossen und ihre Dörfer bombardiert.
Schätzungen zufolge wurden bis zu 45.000 Algerier:innen von den französischen Kolonialherren in diesem Zeitraum ermordet. Kein Franzose und keine Französin wurde hierfür je zur Rechenschaft gezogen. Die Geschehnisse gelten als katalysierender Punkt für den darauffolgenden Algerischen Befreiungskrieg (1954-1962). In diesem tötete die französische Armee mehr als eine Million Algerier:innen.
Koloniale Kontinuitäten
Die Brutalität des Massakers von Sétif sowie des späteren Kampfs gegen den Algerischen Befreiungskampf stellte eine Kontinuität des seit über einem Jahrhundert andauernden französischen Kolonialismus dar. Seit dem Beginn der französischen Besetzung Algeriens im 19. Jahrhundert war die Kolonialherrschaft Frankreichs bekannt für ihre Mordserien. So wurden geköpfte Schädel von algerischen, antikolonialen Freiheitskämpfer:innen als Trophäen mit nach Frankreich genommen und in Museen ausgestellt. Bis heute befinden sich noch hunderte algerische Schädel in französischen Museen.
Das imperialistische Weltbild
Dass dieselben französischen Truppen, die im 20. Jahrhundert in Europa gegen die Nazidiktatur gekämpft hatten und sich mit Sprüchen von Aufklärung, Freiheit und Gleichheit rühmten, gleichzeitig in Algerien und anderen »Kolonialgebieten« Frankreichs Zivilist:innen folterten und töteten sowie Unabhängigkeitsbewegungen niederschlugen, bezeichnet der antikoloniale Denker Frantz Fanon nicht als Widerspruch, sondern als Teil des rassistischen, imperialistischen Weltbilds Frankreichs sowie anderer Kolonialregime. Sie stufen rassifizierte Menschen als minderwertig ein, um somit ihre Ausbeutung und Unterdrückung zu rechtfertigen.
So wurde der französische – aber auch britische, deutsche und spanische – Kolonialismus als »Zivilisierungsmission« stilisiert. Liberale Leitbilder in Europa wurden als Legitimierung für imperialistische Feldzüge verwendet im kolonial-rassistischen Sinne des »white man’s burden«, wo Europa die »Last« annehme, den Rest der Welt zu »erziehen«. Im Klartext bedeutete dies stets, die Menschen zu beherrschen, zu unterjochen und auszubeuten.
Das Massaker von Sétif sowie darüber hinaus die brutale Besetzung Algeriens durch Frankreich mahnen uns, dass der Kampf gegen Faschismus und der Kampf gegen Imperialismus zusammengedacht werden müssen.
Foto: Algerian War Collage
Schlagwörter: Algerien, Antikolonialismus, Imperialismus, Kolonialismus, Unabhängigkeit