Im August 1914 zog ganz Deutschland begeistert in den Krieg. So steht es in den Geschichtsbüchern. Unser Gesprächspartner Arno Klönne empfiehlt: Genauer hinsehen!
Dieses Interview wurde zuerst veröffentlicht am 28. Juli 2014.
marx21: Die SPD schreibt auf ihrer Homepage über den August 1914: »In der Stunde des Krieges regiert der Nationalismus überall in Europa. Sozialdemokraten stehen dem Taumel machtlos gegenüber«. Hatte die Kriegsbegeisterung tatsächlich die gesamte Bevölkerung erfasst?
Arno Klönne: Das ist eine Legende. Es gab in der Landbevölkerung und der Arbeiterschaft erhebliche Vorbehalte und Widerstände gegen den Krieg. Die Leute dachten realistisch: Einberufung bedeutete, dass die vorher durch Arbeit gesicherte Existenz der Familie prekär würde – im Falle des Todes an der Front sogar höchst gefährdet. Trotz Lohnerhöhungen und sozialen Reformen kämpften die meisten Familien der unteren Klassen ums Überleben. Deshalb war hier die Sorge bei Kriegsausbruch groß.
Aber die Bilder von jubelnden Massen sind doch nicht alle gestellt…
Natürlich gab es Kriegsbegeisterung, aber die war eben nicht allgemein. Das deutschnational gesinnte Bildungsbürgertum war euphorisiert, ebenso die Eliten. Für die breite Masse galt das aber nicht. Noch im Juli 1914 gab es Massenkundgebungen gegen die Kriegsgefahr, organisiert von der damaligen Sozialdemokratie. Die sind nicht durch das Kommando eines Parteiapparats auf die Beine gebracht worden, sondern weil große Teile der Bevölkerung den Krieg fürchteten.
Und das aus gutem Grund. Schon vor dem Jahr 1914 war klar, dass der nächste Krieg anders und grausamer sein würde als die vorherigen – weil die Modernisierung der Industrie natürlich auch moderne Waffen mit größerer Zerstörungsgewalt hervorbracht hatte. Der Reformpädagoge Wilhelm Lamszus brachte im Jahr 1912 die Schrift »Das Menschenschlachthaus – Bilder vom kommenden Kriege« heraus. Das Buch war ein Bestseller und wurde in viele Sprachen übersetzt. Es gab sogar eine Sonderausgabe für die Arbeiterjugendverbände. Die Warnung vor dem Krieg war also durchaus präsent und damit auch die Angst.
Aber wir alle kennen doch die Bilder von Eisenbahnwaggons, auf denen steht: »Wir sehen uns in Paris«. Solche Parolen hat doch nicht die Obrigkeit geschrieben, sondern die Soldaten selbst.
Das ist schon richtig. Die Parolen waren aber auch Ausdruck von Hoffnung: Nämlich dass der Krieg, ähnlich wie der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71, in kurzer Zeit und ohne größere Verluste siegreich beendet werden könnte. Das versprach ja auch die Propaganda der Herrschenden. Von einem langen Krieg mit enormen Opfern an der Front und Verelendung der Bevölkerung sprachen die Eliten selbstverständlich nicht.
Zur psychologischen Massenmobilisierung war die Illusion eines schnellen Siegs sehr wichtig – deshalb wurden die Bilder, die du gerade erwähnt hast, auch über die nationale Propagandamaschine verbreitet. Das macht sie aber nicht zu einem repräsentativen Abbild der allgemeinen Stimmung in der Armee.
Das deutschnational gesinnte Bildungsbürgertum war euphorisiert, ebenso die Eliten. Für die breite Masse galt das aber nicht.
Die Sozialdemokratie agitierte jahrzehntelang gegen den Militarismus, mobilisierte noch im Juli Demonstrationen gegen den Krieg und im August stimmte dann ihre Reichstagsfraktion den Kriegskrediten zu. Woher der jähe Sinneswandel?
Da muss man genau hinsehen, ob das wirklich so plötzlich kam. Die Zustimmung zu den Kriegskrediten war keine reine Vorstandsentscheidung, sondern wurde von einer breiteren Strömung in der Partei mitgetragen. Die hat sich schon vor 1914 herausgebildet. Längst vor dem Ersten Weltkrieg kämpfte die SPD keinesfalls geschlossen gegen Nationalismus und Imperialismus – es gab über diese Fragen erhebliche Konflikte in der Partei.
Zum Beispiel?
Die herrschenden Schichten warfen den Sozialdemokraten vor, sie seien vaterlandslose Gesellen – damit wurde ihnen der Zugriff zur »Beteiligung« im Staat verwehrt.
Eine Reaktion darauf war sozialdemokratischer Patriotismus. Führende Sozialdemokraten bekannten sich schon vor Kriegsbeginn zur Vaterlandsverteidigung und stellten in Aussicht, bei einem Verteidigungskrieg, insbesondere gegen das reaktionäre russische Zarenreich, mitzumachen. Man erhoffte sich dadurch eine höhere Akzeptanz im Kaiserreich und ein offenes Ohr für sozialdemokratische Anliegen.
Eine wichtige und problematische Rolle spielten dabei die Führungen der Freien Gewerkschaften.
Die schlossen 1914 mit den Unternehmern einen »Burgfrieden«, verzichteten also auch auf Arbeitskämpfe…
Ja, aber ich meine schon die Zeit davor. Wie hätte die Arbeiterbewegung vor 1914 effektiv gegen Militarismus kämpfen können? Das entscheidende Mittel wäre der politische Streik gewesen. Mit diesem Machtinstrument hätte sie wirklich etwas gegen die Aufrüstung tun können. Doch die gewerkschaftlichen Führungen hatten den politischen Streik nach einer längeren Debatte als Mittel des politischen Kampfs explizit abgelehnt.
Auch das ist ein Hinweis darauf, dass die Bereitschaft zum offenen Konflikt mit dem wilhelminischen Establishment wenig ausgeprägt war.
Karl Liebknecht wollte im Jahr 1906 einen Antrag an den SPD-Parteitag auf Gründung eines »Ausschusses für antimilitaristische Propaganda« stellen. Dafür fand er aber in der Führung keine Mehrheit. War da auch übergroße Vorsicht der Grund?
Das war das wesentliche Motiv. Die Sozialdemokratie wollte sich vor dem Vorwurf schützen, sie sei antipatriotisch. Dahinter steckte auch die traumatische Erfahrung des Verbots der Sozialdemokratie durch Bismarcks Sozialistengesetz. Die SPD-Führung befürchtete, dass eine zu radikale Oppositionshaltung die eigenen Organisationsstrukturen gefährden würde.
Dazu kamen aber auch ideologische Entwicklungen. Viele Sozialdemokraten sind schlicht in die Falle nationalistischer und imperialistischer Agitation gegangen. Zwei Beispiele: Ludwig Frank, ein tüchtiger Organisator der sozialdemokratischen Arbeiterjugendverbände, war nicht in der Lage, die aggressiven deutschen Interessen bei diesem Krieg zu durchschauen. Er meldete sich freiwillig als Soldat und starb in den ersten Kriegswochen. Der Arbeiterdichter Karl Bröger brachte bei Kriegsbeginn die vielzitierten Zeilen hervor, wonach sich nun zeige, »dass der ärmste Sohn des Landes auch der Getreueste ist« – eine Werbung für den Kriegsdienst.
Da zeigt sich, dass der Glaube an die »Volksgemeinschaft« schon lange in die SPD eingedrungen war. Im Krieg wurden die Fortschritte, welche die Arbeiterbewegung bei den Löhnen, der Arbeitszeit und den Arbeitsbedingungen erkämpft hatte, massiv zurückgedreht. Trotzdem hielt die Gewerkschaftsführung am »Burgfrieden«, dem Bündnis mit Staat, Militär und Unternehmern, fest.
Die Sozialdemokratie wollte sich vor dem Vorwurf schützen, sie sei antipatriotisch. Viele Sozialdemokraten sind aber schlicht in die Falle nationalistischer und imperialistischer Agitation gegangen.
August Bebel sagte im Jahr 1907, er sei »als alter Knabe noch bereit, die Flinte auf den Buckel zu nehmen und in den Krieg gegen Russland zu ziehen«. Welche Rolle spielte die Haltung der Sozialdemokratie zur russischen Despotie in der Auseinandersetzung über die Kriegskredite?
Eine bedeutende: Dahinter stand die Theorie vom »progressiven Krieg«. Den hatte man als Sozialdemokrat zu unterstützen, auch wenn die Partei eigentlich gegen Militarismus war.
Zweifellos war Russland im Vergleich zu westeuropäischen Ländern eine besonders reaktionäre Gesellschaft mit feudalen Zügen. Doch dies war nicht der Grund, weshalb es Konflikte zwischen den deutschen und russischen Eliten gab. Die Herrschenden in Berlin hatten kein Problem mit der Armut der Bauern oder mit der Unterdrückung progressiver Bestrebungen durch das Zarenreich. Sie sahen in Russland einen imperialen Konkurrenten, den es auszuschalten galt. Deutsche Planungsstäbe hatten schon entwickelt, wie das imperiale Projekt nach einem Sieg gegen Russland umzusetzen sei: Die Ukraine sollte unterworfen werden und dem deutschen Reich als Kornkammer dienen. Russland selbst sollte zerteilt werden. Das waren geopolitische Machtziele, keine progressiven Motive. Und deshalb war es falsch, einen solchen Krieg zu unterstützen und den Herrschenden fortschrittliche Beweggründe zu unterstellen, die sie nie hatten.
Die SPD hatte in den Vorkriegsjahren intensiv über die Haltung zur Kolonialpolitik debattiert. Welche Positionen gab es innerhalb der Partei? Hatten sie Einfluss auf die Entscheidung bezüglich der Kriegskredite?
In dieser Debatte gab es zwei fatale Argumentationslinien. Theoretiker des rechten Parteiflügels behaupteten, dass es dem deutschen Proletariat nütze, wenn deutsche Unternehmer auf dem Weltmarkt weiter expandieren würden. Aber ein Aufschließen der späten Großmacht Deutschland zu ihren Konkurrenten war nur durch militärische Auseinandersetzungen realisierbar. Deshalb führte das Argument direkt in die Kriegsbefürwortung. Seit 1914 hieß es eben auch innerhalb der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften : »Wir müssen siegen, sonst leidet das deutsche Proletariat«. Aus dem Spruch »Was gut ist für Krupp, ist nicht gut für Krause (gemeint ist der einfache Arbeiter, Anm. d. Red.)«, wurde nunmehr: »Was gut ist für Krupp, ist auch gut für Krause«.
Die zweite Fehleinschätzung betraf die Frage der Kolonien. Hier argumentierten auch Sozialdemokraten wie der spätere Parteivorsitzende Friedrich Ebert, der Erwerb von Kolonien sei eine »zivilisatorische Mission«. Damit lieferten sie eine moralische Legitimation für gewaltsame Geopolitik. Verknüpft war dies mit rassistischen Vorstellungen: »Die Primitiven müssen mit Gewalt zur Zivilisation gebracht werden«. Ähnliche Begründungen finden sich heute auch, wenn von »Failed States« geredet wird, die durch westliche Heere demokratisiert werden müssten.
Solche Positionierungen wirkten nach: So war Gustav Noske erst ein heftiger Verfechter der Kolonialpolitik, dann ein glühender Vertreter der Kriegsbejahung der Sozialdemokratie. Nach 1918 war er ein führender Akteur beim Abwürgen der revolutionären Entwicklung.
Das alles ist Teil der Geschichte der SPD. Es wurde nie kritisch aufgearbeitet und wirkt bis heute weiter.
Die Fragen stellte Stefan Bornost
Foto: The Library of Congress
Schlagwörter: Erster Weltkrieg, Friedrich Ebert, Karl Liebknecht, Krieg, Kriegskredite, Nationalismus, Sozialdemokratie, SPD, Weltkrieg