Jürgen Ehlers und Volkhard Mosler analysieren die Regierungskrise der Ampel und die innenpolitische Lage in Deutschland
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes im November 2023 fehlten im Haushalt der Bundesregierung für den Klima- und Transformationsfond plötzlich 60 Milliarden Euro. Dadurch ist die finanzielle Geschäftsgrundlage der selbsternannten »Fortschrittskoalition« zerstört worden. Diese bestand vor allem in Subventionen, die ein gigantisches Konjunkturprogramm gewesen wären und gleichzeitig den Klimaschutz voranbringen sollten: beschleunigter Ausbau regenerativer Energiequellen, Klimaschutzmaßnahmen in industriellen Produktionsprozessen und an Wohngebäuden, Ausbau und Modernisierung des Schienennetzes, Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur und Digitalisierung von Verwaltungsvorgängen.
Der mühsam zustande gekommene Haushaltsentwurf für 2024, der zunächst Kürzungen von 17 Milliarden Euro vorsieht, zeigt, dass der Traum der drei Ampelparteien, die erheblichen politischen Differenzen untereinander mit zinsgünstigen Schulden zu heilen, endgültig geplatzt ist. Die richtige Forderung nach einem Aussetzen der Schuldenbremse, die wenige Tage zuvor noch von dem SPD-Parteitag erhoben wurde, ist vom sozialdemokratischen Bundeskanzler Olaf Scholz fallengelassen worden, stattdessen sollen die Ausgaben im Bundeshaushalt gekürzt werden. Der Löwenanteil der geplanten Streichungen betrifft dabei den Klima- und Transformationsfond, in dem bis 2027 rund 45 Milliarden Euro fehlen werden. Auf dem Bundesparteitag der Grünen hatte Robert Habeck 2019 noch die Losung ausgegeben, dass ein von den Grünen geplanter sogenannter Green New Deal den »Krieg der Ökonomie gegen die Natur« beenden wird.
Die 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung der Bundeswehr, ergänzt um weitere Milliardenbeträge in noch nicht bezifferter Höhe – darin sind sich die Mitglieder der Ampel einig – stehen auf keinen Fall zur Disposition. Stattdessen wird die CO2-Besteuerung stärker als bisher geplant erhöht, so dass die Energiepreise in 2024 noch weiter steigen werden. Vor allem Strom wird teurer, da außerdem die versprochenen Zuschüsse zum Netzentgelt gestrichen worden sind. Das trifft alle Bezieher:innen von kleinen und mittleren Einkommen ganz besonders hart. Was das bedeutet, wird deutlich, wenn man einen kurzen Blick auf die Reallohnentwicklung der letzten Jahre wirft. Das Statistische Bundesamt weist von 2020 bis zum Oktober 2023 einen Reallohnverlust von 6,8 Prozent aus und die Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichte 2020 Statistiken, die für die zwei Jahrzehnte ab 2000 einen Reallohnzuwachs von gerade einmal 8,8 Prozent dokumentieren. Mit anderen Worten: Von 2000 bis 2023 haben sich die verfügbaren Einkommen so gut wie nicht erhöht. Es handelt sich hier um statistische Durchschnittswerte, die nichts über die dahinter verborgenen – individuell sehr unterschiedlichen – konkreten Folgen aussagen. Beispielsweise, wenn Belegschaften starke Einkommensverluste hinnehmen müssen, weil die von ihnen ausgeübte Tätigkeit outgesourct wird, oder Beschäftigte auf Urlaubs- oder Weihnachtsgeld verzichten, weil sie vom Management mit einer drohenden Betriebsstilllegung erpresst werden.
Wie schlecht es vielen Beschäftigten geht, zeigte der Streit um die Erhöhung des Mindestlohns. Die von der SPD-Führung so gelobte Mindestlohnerhöhung von 12 Euro um 0,41 Euro auf jetzt 12,41 Euro und noch einmal um den gleichen Betrag ab 2025 fällt deswegen so extrem niedrig aus, damit der kleine Abstand zu den besonders schlecht bezahlten Tätigkeiten in Deutschland gewahrt bleibt. Fast jede:r fünfte Beschäftigte in Deutschland arbeitet inzwischen in diesem Niedriglohnsektor, der – dank der Agenda 2010 – zum größten in ganz Europa angeschwollen ist. Dazu passt auch, dass bereits vereinbarte Zusatzleistungen im Zusammenhang mit dem Bürgergeld – vormals Hartz IV – gestrichen und stattdessen mögliche Sanktionen gegenüber den Empfänger:innen durch den sozialdemokratischen Arbeitsminister Hubertus Heil unter dem Beifall der FDP verschärft worden sind. Das alles atmet den Geist der Agenda 2010, die dem Kapitalismus in Deutschland erhebliche Wettbewerbsvorteile gegenüber der internationalen Konkurrenz verschafft hat.
Regierungskrise: Böses Erwachen
Ein genauerer Blick auf die Entwicklung der Finanzierungsspielräume der Bundesregierung offenbarte schon seit mehreren Monaten, dass mit der Zinswende der EZB im letzten Jahr, um die Inflation in den Griff zu bekommen, die Finanzierung von Schulden auch für Deutschland deutlich teurer geworden ist. In gleichem Maße nahmen die Spannungen in der »Fortschrittskoalition« zu.
Das 9 Euro-Ticket gibt es nicht mehr, obwohl es den richtigen Weg wies, den Schienenverkehr attraktiver zu machen. Der Verkehrsminister der FDP räumte das beliebte Ticket ab, ohne dass die SPD mit ihrem Bundeskanzler an der Spitze interveniert hätte, obwohl es auch hier Protest von der eigenen Parteibasis gab. So auch bei der Kindergrundsicherung, als der Finanzminister der FDP die Familienministerin der Grünen in aller Öffentlichkeit demütigte, indem er ihr die geforderten 12 Milliarden Euro für das sozialpolitisch so wichtige Projekt auf 2 Milliarden fast vollständig zusammenstrich.
Während der Niedrigzinspolitik war es dem Finanzminister möglich, mit den sehr begehrten – weil sehr sicheren – Staatsanleihen Deutschlands, die zur laufenden Finanzierung von Staatsschulden ausgegeben werden, Zinsgewinne abzuschöpfen. Eine sehr komfortable Lage für die Bundesregierung unter Angela Merkel, die auf diesem Weg ab 2020 die umfangreichen Corona-Hilfen von zusammen 75 Milliarden Euro finanzieren konnte. So standen 2021 den Zinskosten für Kredite in Höhe von 3,9 Milliarden Euro Zinseinnahmen von 13 Milliarden gegenüber. Seit Februar 2022, also knapp ein halbes Jahr nach der letzten Bundestagswahl, werden für den deutschen Staat wieder Zinsen fällig, die seitdem rasch gestiegen sind. Für das Haushaltsjahr 2023 waren deswegen bereits 30 Milliarden Euro für die erwartete Zinslast eingeplant.
Der unmittelbare Auslöser der Zinswende durch die EZB war die stark angestiegene Inflation infolge des Krieges zwischen Russland und der Ukraine. Der Lieferstopp von Öl und Gas aus Russland führte zwar nicht zu Engpässen, bot den Energiekonzernen aber eine Gelegenheit, kräftig an der Preisschraube zu drehen und ihre Profite mehr als zu verdoppeln. Die Tagesschau vermeldete vor einem Jahr: »Experten gehen davon aus, dass Exxon, Chevron, BP, Shell und Total im vergangenen Jahr zusammen einen Profit von rund 190 Milliarden US-Dollar gemacht haben.«
Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich schon lange vorher gezeigt hatte, dass sich die Erwartungen, mittels der Niedrigzinspolitik die Konjunktur zu beleben, nicht erfüllt haben. Die seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 in den Markt gepumpten Milliarden Euros haben vor allem die Immobilienspekulation befeuert und manchen Staatsbankrott in Europa hinausgezögert. Die eigentliche Ursache für die Krise, die in den Augen der Kapitalist:innen vorhandenen weltweiten Überkapazitäten in wichtigen Industriebranchen, ist damit aber nicht gelöst worden.
Für die deutsche Industrie hat der Wegfall der billigen Gaslieferungen aus Russland seit 2022, die neben dem größten Billiglohnsektor in Europa einen entscheidenden Konkurrenzvorteil dargestellt haben, schwere Nachteile und hat inzwischen in Deutschland zu einer Rezession geführt, während andere europäische Länder ein Wirtschaftswachstum verzeichnen. Die Lohnstückkosten lagen 2021 in der EU um 8 Prozent unter denen in Deutschland und sind in den USA und Japan sogar um 20-25 Prozent niedriger. Der VW-Konzern hat deswegen im November 2023 die Belegschaft auf einen Personalabbau eingestimmt: »Die Situation ist sehr kritisch. Ohne spürbare Einschnitte geht es nicht.« Nach dem Autozulieferer Continental hat auch Bosch inzwischen Entlassungen angekündigt.
Die Umstellung auf die Produktion von Elektroautos hat für die wichtigste Exportbranche dazu geführt, dass Weltmarktanteile der deutschen Industrie, die jahrzehntelang kaum gefährdet waren, verloren gegangen sind. Und auch die neben dem Fahrzeug- und Maschinenbau so bedeutsame Chemieindustrie, die ganz besonders auf billige Energie angewiesen ist, kündigte Entlassungspläne an.
Rainer Dulger, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, leitete aus dieser negativen Entwicklung im Herbst 2023 klare Forderungen an die Bundesregierung ab: »Wir befinden uns in einer Rezession. Auch die Inflation hält sich hartnäckiger als gedacht. Wir haben mit die höchsten Energiekosten, wir haben mit die höchsten Steuern und Lohnzusatzkosten. Wir haben eine marode Infrastruktur. Diese Probleme mischen sich mit Fachkräftemangel, verschlafener Digitalisierung und der Dekarbonisierung.« Er will, dass die Klimaschutzziele aufgeweicht und die »grünen« Pläne zur Transformation der Wirtschaft aufgegeben werden, damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie nicht weiter gefährdet wird.
Der Plan von Wirtschaftsminister Robert Habeck mittels eines schuldenfinanzierten »Green New Deals«, wie er es versprochen hatte, dem Klimaschutz zu dienen und gleichzeitig dem Kapitalismus in Deutschland durch eine moderne Infrastruktur und billige Energie internationale Wettbewerbsvorteile zu verschaffen, ist gescheitert. Die veränderten ökonomischen und finanzpolitischen Rahmenbedingungen lassen das nicht mehr zu. Die SPD könnte die von Arbeitgeberseite jetzt geforderte Neuauflage der Agenda 2010 politisch nicht durchhalten, ähnliches gilt für die Grünen bei noch weiteren Abstrichen beim Klimaschutz.
Die Ampelkoalition ist schwer angeschlagen. Die Forderungen nach Neuwahlen aus den Reihen der Opposition werden deswegen lauter, denn der bereits einmal erfolgreich beschrittene Weg – ein Wechsel des Koalitionspartners durch die FDP zur CDU, der 1982 zum Sturz von Helmut Schmidt und zur Kanzlerschaft von Helmut Kohl führte – ist durch die gegenwärtigen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag verbaut. Keine der drei Koalitionsparteien kann ein Interesse an Neuwahlen haben, denn alle müssen mit Verlusten rechnen und für die FDP wäre der Wiedereinzug in den Bundestag fraglich.
Die Spannungen innerhalb des Regierungslagers werden bis zur nächsten Bundestagswahl 2025 weiter zunehmen und die zu erwartenden Kompromisse werden bestehende Probleme verschärfen und die Unzufriedenheit bei vielen Wähler:innen steigern. Davon profitieren bereits seit einiger Zeit die CDU und die AfD, vor allem seitdem wieder einmal die Migrationspolitik und dabei der Umgang mit Geflüchteten zum Hauptproblem erhoben worden sind. Bei der AfD-Wählerschaft spielt auch der Klimaschutz eine Rolle, dessen Notwendigkeit entweder ganz geleugnet oder befürchtet wird, dass die Kosten dafür zu ihren Lasten gehen. Hinzu kommt, vor allem im Osten, die Unterstützung der Ukraine durch Deutschland im Krieg gegen Russland.
Der Aufstieg der AfD erklärt sich also nicht einfach aus dem Abstieg der LINKEN. Bei der letzten Bundestagswahl 2021 holte die AfD 10,8 Prozent. Schlimm genug, aber sie büßte damit gegenüber der Wahl vier Jahre zuvor 1 Million Wählerstimmen ein, als die Partei noch 12,6 Prozent holte. Das war ein Verlust von 17 Prozent aller Wähler:innen, die der Partei 2017 ihre Stimme gegeben hatten. Die AfD konnte damit nicht vom parallel dazu verlaufenden Niedergang der LINKEN profitieren, die im gleichen Zeitraum von 9,2 auf 4,9 Prozent abstürzte. Die Partei verlor 2 Millionen Stimmen, fast die Hälfte aller ihrer Wähler:innen.
Dass die AfD nach Umfragen heute bei 18 Prozent liegt, ist die Folge einer Kampagne gegen Flüchtlinge, unterstützt von einer Islamfeindlichkeit, die nach dem Überfall der Hamas auf Israel, durch die Diskreditierung von Solidaritätsbekundungen mit den Palästinenser:innen und der verlogenen deutschen Staatsräson gegenüber Israel noch erheblich verstärkt worden ist. Der Rassismus in all seinen Spielarten hat der AfD und ihren Vorgängern schon immer in die Hände gespielt. Neu ist jetzt, dass dazu der Kampf gegen den Klimaschutz und für eine reaktionäre Leitkultur kommt, die sich gegen alle wendet, die anders sind und um Anerkennung kämpfen. Dafür steht symbolisch das Gendern.
Albtraum
In der CDU gibt es seit längerem eine Strategiedebatte, wie dem Aufstieg der AfD zu begegnen sei, um der Konkurrenz am rechten Rand das Wasser abzugraben. Während die großmäulige Ankündigung von Friedrich Merz im Jahr 2018 – also noch während der Merkel-Ära – die Stimmanteile der AfD von damals 15 auf 7,5 Prozent halbieren zu wollen, sich nicht erfüllt hat, nimmt es die CDU heute als Kollateralschaden in Kauf, dass parallel zu ihren Wahlerfolgen auch die AfD von ihren strammen rechten Parolen profitiert.
Die gehässigen Bemerkungen von Merz gegenüber Flüchtlingen aus der Ukraine, denen er Sozialtourismus unterstellte oder seine Polemik gegen Flüchtlinge, die die Wartezimmer der Zahnärzte überfüllen würden, ist viel Wasser auf die Mühlen der AfD gewesen. Bei Merz sind seit einiger Zeit aber nicht mehr nur die Flüchtlinge im Fokus. Daneben sind die Grünen zum Hauptgegner der CDU avanciert. Sie stehen für Ideale, die dem rechten Flügel der CDU schon immer ein Dorn im Auge waren. Die CDU will – so wie auch die AfD – einen Wertewandel ausgemacht haben, der dazu geführt hätte, dass sich in der Politik alles nur noch um das Gendern, geschlechtliche Identitäten und die Hilfen für Flüchtlinge drehen würde, während die Interessen der großen Mehrheit ignoriert würden. So als ob Geflüchtete für den Klimawandel verantwortlich wären oder der Kampf gegen Diskriminierung irgendjemand davon abhalten würde, sich gleichzeitig für soziale Belange einzusetzen.
So schwadronierte Merz bereits im Sommer 2021 mit Blick auf die Grünen: »Ein grünes ›Einwanderungsministerium‹ soll möglichst viele Einwanderer unabhängig von ihrer Integrationsfähigkeit nach Deutschland einladen. Die Gender-Sprache soll uns allen aufgezwungen und das Land überzogen werden mit neuen Verhaltensregeln, Steuern und Abgaben.« Auf dem letzten CDU-Parteitag im November 2023 hat er noch einmal nachgelegt: »Hauptgegner, das sind die 20-jährigen Studienabbrecher in der grünen Bundestagsfraktion, die uns von morgens bis abends die Welt erklären.«
Nach anfänglicher Kritik aus den eigenen Reihen von zahlreichen Ministerpräsidenten, die mit oder in Baden-Württemberg sogar unter den Grünen völlig geräuschlos koalieren, hat sich dieser Kurs von Merz inzwischen immer mehr durchgesetzt. Nach der Wahl des AfD-Kandidaten in Sonneberg zum Landrat im Juni 2023 charakterisierte Merz seine Partei als »AfD mit Substanz«. Wenige Wochen später im Oktober erzielte die CDU in Hessen mit 34,6 Prozent eines ihrer besten Wahlergebnisse überhaupt, aber die AfD wurde mit 18,4 Prozent zur zweitstärksten Kraft. Nach diesem Erfolg für die CDU schlug sich Boris Rhein, der Spitzenkandidat der Partei, auf die Seite von Merz und beendete im Herbst 2023 die seit vielen Jahren fast völlig reibungslos arbeitende Regierungskoalition mit den Grünen und machte stattdessen die SPD, die ihr bisher schlechtestes Wahlergebnis in Hessen eingefahren hat und damit jetzt hinter der AfD rangiert, zu ihrem Juniorpartner.
Das geschah, obwohl die Grünen der CDU in den vergangenen 10 Jahren in der Landesregierung immer den Rücken frei gehalten haben, wenn es drohte, eng zu werden – so bei dem Versuch des von der CDU geführten hessischen Innenministeriums die Aufklärung von Verstrickungen des Verfassungsschutzes mit dem NSU zu torpedieren, dem Versagen der Polizei bei den rassistisch motivierten Morden in Hanau oder dem sehr zögerlichen und unvollständigen Enttarnen von umtriebigen Nazi-Netzwerken bei der hessischen Polizei. Stattdessen wurde mit Zustimmung der Grünen gegen landesweite Proteste das Demonstrationsrecht erheblich verschärft. Darin ist nun eine Regelung enthalten, die das willkürliche Einschreiten der Polizei gegen Demonstrierende legitimiert. So gilt jetzt ein »Militanz- und Einschüchterungsverbot«, wonach ein Auftreten untersagt ist, »das Gewaltbereitschaft vermittelt und und einschüchternd wirkt.« Was das genau ist, wird von den jeweiligen Einsatzkräften vor Ort festgelegt. Das öffnet der Willkür Tür und Tor.
Die Loyalität gegenüber der CDU galt aber auch für den Autobahnausbau und dem damit verbundenen Abholzen des Danneröder Forsts sowie einer Waldfläche in Frankfurt gegen den massiven Protest der Klimaschutzbewegung. Auch das weitere alle Lebewesen im Wasser tötende Versalzen von Flüssen als Folge des Kalibergbaus haben die Grünen mitgetragen und ihr Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir genehmigte den weiteren Ausbau des Frankfurter Flughafens, den er vorgab, verhindern zu wollen und damit vor zehn Jahren viele Wählerstimmen der lärmgeplagten Anwohner:innen für seine Partei gewann.
Weichgespülter Konservatismus
Merz geht noch weiter: Der im Dezember 2023 vorgelegte Entwurf für ein neues Parteiprogramm der CDU ist ein deutlicher Kurswechsel nach rechts. Der »weichgespülte« Konservatismus, für den Angela Merkel stand und die damit 2005 erfolgreich Gerhard Schröder als Bundeskanzler ablöste, gehört damit der Vergangenheit an. Merkel hatte vor ihrem Wahlsieg Merz und Roland Koch kaltgestellt, die schon damals mit der Forderung nach einer deutschen Leitkultur und einer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft das rechtspopulistische Profil der Partei schärfen wollten. Merkel setzte sich durch, obwohl Koch mit einer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, einem liberalen Prestigeprojekt der Schröder-Regierung, in Hessen die Landtagswahl 1999 gewonnen hatte.
Der von der US-amerikanischen Wissenschaftlerin und Sozialistin Nancy Fraser geprägte Begriff vom »progressiven Neoliberalismus« ist der populäre Versuch, die Entwicklung einer ganzen Ära auf den Punkt zu bringen. Etwas verkürzt: Mit dem Niedergang der Arbeiterbewegung – beginnend mit dem Ende des Nachkriegsbooms in den 1970er Jahren – sind anstelle der bis dahin dominierenden Ideen vom Klassenkampf gegen die Ausbeutung als Motor der Geschichte, andere Vorstellungen in der Linken getreten. Diese Vorstellungen trennen den Kampf gegen Ausbeutung vom Kampf gegen Unterdrückung. Die individuelle Betroffenheit von Diskriminierten wurde zum Dreh- und Angelpunkt des politischen Denkens und Handelns. Der Kapitalismus als tiefere Ursache geriet dadurch in den Hintergrund, an seine Stelle trat die Identitätspolitik.
Das hat es sozialdemokratischen und auch konservativen Politiker:innen ermöglicht, sich ein progressives Image zu geben und damit Wählerstimmen für sich zu gewinnen, indem von ihnen eine neoliberale Sozialpolitik als Teil eines gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses verkauft worden ist. SPD und Grüne haben das ab 1998 erfolgreich vorgeführt, um als rot-grüne Bundesregierung unter Schröder nach 16 Jahren Helmut Kohl aus dem Amt zu drängen. Kohl wurde ein Reformstau angelastet, der durch eine Ökosteuer, die dem Klimaschutz dienen und ein neues Staatsbürgerrecht, das die Integration von Migrant:innen verbessern sollte – um zwei der wichtigsten Themen zu nennen – aufgehoben werden sollte. Sowohl die Ökosteuer und vor allem die 2003 beschlossene Agenda 2010 waren für die Bezieher:innen kleiner und mittlerer Einkommen und die Arbeitslosen schwere Zumutungen. Während die SPD darüber viele Mitglieder verlor und es 2004 zu einer Abspaltung kam, aus der drei Jahre später zusammen mit der PDS DIE LINKE hervorging, blieben dagegen die Grünen von den Protesten nahezu unberührt. Ihre Repräsentant:innen und Wähler:innen waren mehrheitlich diejenigen, die sich seit den 1980er Jahren der Identitätspolitik zugewendet hatten.
Die CDU unter Merkel hat sich daran orientiert. In die Regierungszeit von Merkel fällt beispielsweise das Gleichstellungsgesetz, das sicherstellen soll, dass niemand wegen seiner ethnischen Herkunft, dem Geschlecht, der Religion oder sexuellen Identität benachteiligt wird, sowie die Ehe für alle. Das hat ihr die Freundschaft mit Alice Schwarzer eingebracht, während gleichzeitig durch ihre Steuer- und Sozialpolitik die Reichen immer reicher und die Armen noch ärmer geworden sind. Das war die politische Blaupause für die noch bestehenden schwarz-grünen Regierungskoalitionen.
Jetzt ist Schluss mit dem »weichgespülten Konservatismus« der Ära-Merkel, hat es eine Journalistin auf den Punkt gebracht. Der neue Kurs der CDU will sich an einer deutschen Leitkultur orientieren, zu der »das Bewusstsein von Heimat und Zugehörigkeit sowie die Anerkennung des Existenzrechts Israels« gehört. Nur wer das akzeptiert, kann nach den Vorstellungen der CDU künftig deutsche:r Staatsbürger:in werden. Das Asylrecht soll praktisch abgeschafft werden, indem die Asylverfahren – einschließlich des späteren Aufenthalts bei Anerkennung – in sogenannte sichere Drittstaaten ausgelagert werden. Das Renteneintrittsalter soll angehoben werden und Schulabgänger:innen sollen zu einem »Gesellschaftsjahr« verpflichtet werden. Der Klimaschutz spielt in dem Programmentwurf keine Rolle mehr und stattdessen will sich die CDU die Option offen halten, wieder auf die Atomkraft als Energiequelle zurückzugreifen. Dahinter steht die Überlegung, dass die sich wandelnden internationalen Kräfteverhältnisse und das wachsende Verlangen, auch militärische Stärke zum Durchsetzen von politischen Zielen einzusetzen, eines Tages eine eigene Atombombe notwendig machen könnte. Die aber kann nur gebaut werden, wenn man im Besitz von schweren Elementen ist, die nur in einem Atomreaktor durch die kontrollierte Kernspaltung entstehen und wenn man die dafür notwendige Technik beherrscht.
Drohender Rechtspopulismus
Es droht in Deutschland eine Entwicklung, an deren Ende ein dominierender rechtspopulistischer Block steht. Alle Versuche der CDU der AfD durch eine Kopie von vielen ihrer Forderungen das Wasser abzugraben, sind erfolglos geblieben. Die Wahlerfolge der CDU waren zuletzt immer begleitet von Wahlerfolgen der AfD, so wie auch 2023 in Hessen. Dort ist mehr als jede zweite Wählerstimme an den rechtspopulistischen Block aus CDU und AfD gegangen. Eine Entwicklung, die in anderen Ländern schon viel früher begonnen hat. So vor zwanzig Jahren bereits in Österreich, später dann auch in Polen, Ungarn, Italien, Skandinavien, der Slowakei und 2016 mit Donald Trump in den USA sowie jüngst auch in den Niederlanden.
Die AfD kommt auf Bundesebene für die CDU derzeit als Koalitionspartnerin nicht in Frage, vor allem weil es unüberbrückbare Differenzen in der Außenpolitik gibt und eine offene Kooperation mit dem Nazi Björn Höcke für das bürgerlich-konservative Milieu in der CDU nicht vorstellbar ist. Gleichzeitig aber hat es die von Merz mit markigen Worten errichtete Brandmauer zur AfD nie gegeben. »Die Landesverbände vor allem im Osten bekommen von uns eine glasklare Ansage: Wenn irgendjemand von uns die Hand hebt, um mit der AfD zusammenzuarbeiten, dann steht am nächsten Tag ein Parteiausschlussverfahren an.« Dabei gibt es auf kommunaler Ebene längst eine Kooperation zwischen CDU und AfD, so als wäre das völlig normal. Zu den angedrohten disziplinarischen Konsequenzen hat das nicht geführt und in Thüringen bedienten sich 2023 CDU und FDP der Stimmen der AfD, um gleich zweimal ihre Anträge gegen die Minderheitsregierung von Bodo Ramelow durch den Landtag zu bringen.
Diese widersprüchliche Haltung der CDU gegenüber der AfD ermutigt Teile im Umfeld dieser Partei nach Wegen zu suchen, um als potentielle Koalitionspartnerin der CDU in Frage zu kommen. Einer davon ist der Publizist und Unternehmensberater Markus Krall – bis 2017 noch Mitglied der CDU – , der laut über eine Parteineugründung nachdenkt. 2017 ist bereits die »Werteunion« am rechten Rand der CDU aus Protest gegen den weichgespülten Konservatismus von Merkel gegründet worden, der auch Hans-Georg Maaßen angehört, dem eine zu große Nähe zur AfD und Antisemitismus vorgeworfen wird. Das hat ihm 2023 ein Parteiausschlussverfahren eingebracht, gegen das er zunächst erfolgreich geklagt hat. Die CDU will Maaßen nicht und er will keine Brandmauern. Er hat deswegen nun mit der »Werteunion« die Basis für eine neue Partei gelegt.
DIE LINKE wird dringend gebraucht
Das Scheitern der »Fortschrittskoalition« zeigt zum wiederholten Mal, dass im Kapitalismus der Klimaschutz, soziale Belange und auch der Frieden schnell unter die Räder kommen. Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist nur oberflächlich betrachtet die Ursache für die Inflation, die steigenden Zinsen und daraus resultierend die Regierungskrise. Der Krieg in der Ukraine ist die Fortsetzung einer Politik kapitalistischer Staaten, deren Grundlage sich widersprechende imperialistische Interessen zwischen Russland und der Nato unter Führung der USA sind. Das rechtfertigt nicht den Überfall Russlands, zeigt aber wie aussichtslos es ist, zu glauben, das Raubtier Kapitalismus zähmen zu können, um in seiner Nähe ungestört seinen Regierungsgeschäften nachzugehen.
Der Kampf um Reformen, die dem Klimaschutz dienen, die die Lebenssituation der abhängig Beschäftigen, Studierenden, Arbeitslosen und der Rentenbezieher:innen verbessern, ist heute um ein Vielfaches schwerer als während des Nachkriegsboom, weil die Verteilungsspielräume kleiner geworden sind. Dabei ist genug Geld vorhanden, die Zahl der Millionäre in Deutschland war noch nie so groß wie heute. Da es im Kapitalismus ausschließlich um die Höhe der Profite geht, ist eine wachsende Ungleichheit im System angelegt. Die Steuerpolitik drückt das aus, sie sorgt für Regelungen, die Deutschland als profitablen Investitionsstandort attraktiv machen sollen. Dazu gehört auch, die großen Vermögen zu schonen. Die daraus resultierende Ungleichheit kann sich aber, in Abhängigkeit von den Kräfteverhältnissen im Klassenkampf, schneller oder langsamer entwickeln und damit auch größer oder kleiner ausfallen.
Diese Kräfteverhältnisse sind das Problem, sie zu verändern ist die einzige Lösung. Die gegenwärtigen Kräfteverhältnisse im Klassenkampf und damit das weitestgehende Ausbleiben von erfahrbarer Klassensolidarität sind die tieferen Ursachen, die der ohnmächtigen Wut so viel Raum verschaffen. Das Erfolgsgeheimnis der AfD oder eines Donald Trumps ist, dass sie an dieses weitverbreitete Ohnmachtsgefühl anknüpfen. Es gelingt ihnen vergleichsweise einfach, die ohnmächtige Wut auf die von ihnen angebotenen Feindbilder zu lenken. Die immer wieder gemachte Erfahrung, dass es völlig egal ist, wer regiert, weil die finanziellen Lasten ohnehin immer von ihnen getragen werden müssen und sich niemand für ihre Interessen einsetzt, schafft in Verbindung mit bestehenden Vorurteilen und Ressentiments zahlreiche Anknüpfungspunkte für die rechtspopulistische Propaganda.
Der erstarkende Rechtspopulismus verschiebt die in der politischen Debatte hinausposaunten Parolen und die erhobenen Forderungen immer weiter nach rechts. Das ermutigt AfD-Anhänger:innen, Reichsbürger und andere, auf die Straße zu gehen, Menschen in der Öffentlichkeit zu bedrohen und Flüchtlingsheime in Brand zu stecken. Dieser Entwicklung muss sich DIE LINKE stellen.
Dem Kampf um eine gewerkschaftliche Erneuerung durch offensiv geführte Verteilungskämpfe unter Führung der Beschäftigten, unterstützt von den Gewerkschaften, kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Sehr bedeutsam ist auch die Diskussion in der Klimaschutzbewegung um die zukünftige Ausrichtung ihrer Politik. Die bisherigen Proteste sind entscheidend dafür gewesen, die Dringlichkeit des Klimaschutzes zu einem festen Bestandteil im Alltagsbewusstsein der meisten Menschen zu machen. Die Umsetzung von notwendigen Maßnahmen zum Klimaschutz soll aber die Profitabilität von Betrieben oder von Mietwohnungen nicht gefährden. Deswegen kommt der so wichtige Klimaschutz kommt nicht voran, obwohl die Folgen des Klimawandels immer deutlicher zu spüren sind.
Der Autobahnausbau geht unvermindert weiter und ein Tempolimit oder ein Verbot von Kurzstreckenflügen sind nicht in Sicht. Der Ausbau von regenerativen Energiequellen geht viel zu langsam voran. Das Erreichen des von der Bundesregierung bis 2030 ausgegebenen Ausbauziels für die Windenergie, die zentral für den Ausstieg aus der fossilen Stromerzeugung ist, wird mit jedem Tag unrealistischer. Gegenwärtig liegt das Ausbautempo fast 60 Prozent unter dem notwendigen Niveau für den Ausbau an Land und auf See sogar 90 Prozent darunter. Dabei werden die Auswirkungen des Klimawandels schon jetzt immer katastrophaler. Um das im Pariser Klimaabkommen beschlossene Ziel zu erreichen, die Erderwärmung – gemessen an der vorindustriellen Zeit – auf 1,5 Grad zu begrenzen, ist es bereits viel zu spät. Es wäre nur noch zu erreichen, wenn bis 2030 der CO2-Ausstoß um 43 Prozent unter dem von 2019 läge. Selbst wenn alle Staaten ab sofort alle von ihnen beschlossenen Maßnahmen umsetzen würden, wäre das nicht der Fall.
Mit den bisherigen Maßnahmen, die dem Klimaschutz dienen sollen, ist die Erfahrung verbunden, dass die daraus resultierenden finanziellen Lasten, vor allem für die Bezieher:innen kleiner und mittlerer Einkommen, viel zu hoch sind. Eine Radikalisierung der Klimaschutzbewegung, wie sie mit den Blockaden des Autoverkehrs bereits begonnen hat, liefert noch keine Antwort auf die Frage, wie es gelingen kann, die Lasten für den Klimaschutz anders zu verteilen. Eine Antwort darauf kann die Unterstützung von Arbeitskämpfen für eine bessere Bezahlung oder von Mieterinitiativen gegen weitere Mieterhöhungen infolge von energetischen Modernisierungen sein. Dazu gibt es bisher nur Ansätze. Ein Anfang, der Hoffnung macht, ist die Unterstützung der Tarifrunde für eine bessere Entlohnung der Beschäftigten im ÖPNV durch das Bündnis »Wir fahren zusammen«.
Der Wunsch, etwas gegen den Klimawandel zu tun, ist weit verbreitet und die Bewegung auf der Straße kann neue Unterstützer:innen gewinnen, wenn sie die Finanzierung der notwendigen Maßnahmen in den Mittelpunkt ihrer Forderungen stellt. Die Vorsitzende der Grünen-Jugend Svenja Appuhn versucht das, indem sie die soziale Schieflage des Bundeshaushalts, bei gleichzeitigem Ausbremsen von Klimaschutzmaßnahmen und der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich in diesem Land kritisiert: »Wir werden auch Druck von der Straße machen für Klimaschutz, der das Leben der Menschen verbessert, für eine Politik, die Menschen Sicherheit im Job und bei der sozialen Absicherung gibt und für eine gut ausgestattete Daseinsvorsorge. Für all das muss endlich Geld in die Hand genommen werden – deshalb gehört die Schuldenbremse ins Museum und die Superreichen gerecht besteuert.«
DIE LINKE muss sie beim Wort nehmen und versuchen, gemeinsame Sache mit ihr und ihren Anhänger:innen zu machen. Auch in der Flüchtlingspolitik ist es möglich, dem wachsenden Rechtspopulismus etwas entgegenzusetzen. Entgegen der ständig wiederholten Behauptung, dass die gestiegenen Flüchtlingszahlen den Menschen in Deutschland immer mehr Angst machen, gibt es auch eine weit verbreitete Hilfsbereitschaft gegenüber Geflüchteten, wie die gelungenen Integrationsprojekte von einzelnen Kommunen zeigen. Das sollten Modellprojekte sein, die zum Nacheifern auffordern und mit einer klaren Kritik an der finanziellen Notlage vieler Kommunen verbunden sind, die die Folge einer Steuerpolitik zugunsten von Konzernen und der Spitzenverdiener:innen ist.
Ebenso ist es wichtig, die Fluchtursachen zu benennen und für ihre Beseitigung zu kämpfen. Dazu zählt die schnelle Umsetzung von Maßnahmen gegen die rasch fortschreitende Erderwärmung, die viele Länder besonders hart treffen, die den Klimawandel gar nicht ausgelöst haben und eine Wiedergutmachung wegen der Kolonialisierung im 19. Jahrhundert und ein Ende der Ausplünderung der natürlichen Ressourcen heute. Dazu zählt aber auch der sofortige Rückzug der Bundeswehr aus dem Ausland. Nicht erst der Nato-Einsatz in Afghanistan hat bewiesen, dass die politische Einmischung, unterstützt durch den Einsatz von Militär, keine gesellschaftliche Entwicklung im Interesse der einheimischen Bevölkerung ermöglicht, sondern bestehende Konflikte verschärft, die dann zu Fluchtursachen werden.
Es wird von der LINKEN abhängen, ob es ihr gelingt eine glaubhafte Alternative zum reaktionären Populismus eines Friedrich Merz aufzubauen. Die Mitglieder und Sympathisant:innen der LINKEN in den Gewerkschaften, in Initiativen gegen den Mietenwahnsinn, in der Klimaschutzbewegung und gegen jede Form von Diskriminierung sind gefordert, die bestehenden Chancen zu nutzen und auszubauen.
Schlagwörter: Ampel, Bundesregierung, Inland, Rechtsruck