Früher war er Anarchist, heute versteht er sich als Marxist. Seine Vergangenheit lässt John Molyneux trotzdem nicht los, nun hat er sogar ein Buch über den Anarchismus geschrieben. Ein Gespräch über Arbeiterinnen und Arbeiter, Macht und Lifestyle
marx21.de: John, du hast ein Buch über die marxistische Kritik am Anarchismus geschrieben. Was gefällt dir so am Anarchismus?
John Molyneux: Für mich ist die Entwicklung der anarchistischen Bewegung ein sehr positives Zeichen dafür, dass junge Menschen in der ganzen Welt gegen das System aufbegehren. Ich begann mit dem Schreiben, als gerade die Bewegung der Indignados in Spanien und die Besetzung des Syntagmaplatzes in Athen stattfanden. Es lag auf der Hand, dass Menschen, die nach einer langen Zeit relativen sozialen Friedens gegen die Krise zu rebellieren anfangen, das in einem anarchistischen oder autonomen Geist tun. Es war ja eine spontane, libertäre Rebellion. Eine hervorragende Sache, und das ist das Allererste, womit ich den Anarchismus verbinde. Aber auch sonst gefällt mir eine ganze Menge an dieser Bewegung. Der Anarchismus war der erste politische Hafen, den ich als junger Mensch ansteuerte, daher ist mir der Antiautoritarismus sehr nah. Und das Streben nach einer Gesellschaft echter menschlicher Freiheit ist doch ein Drang, den Marxisten und Sozialisten mit Anarchisten teilen.
Die Staatsfrage ist ganz zentral
Du selber verstehst dich als Marxist. Was sind in wenigen Worten die wichtigsten Differenzen zwischen dem Anarchismus und dem Marxismus?
Die wichtigsten Meinungsunterschiede betreffen die Frage des Staates und die Rolle von Führung und Parteien in der Bewegung. Daraus resultieren viele Diskussionen über Strategie und Taktik und eine ganze Reihe weiterer Fragen. Wenn die Menschheit eine Überlebenschance haben soll, muss der Kapitalismus gestürzt werden, und das geht nicht ohne eine passende Strategie. Aber der Anarchismus bietet in meinen Augen keine gangbare Strategie für dieses Ziel, selbst für die Anarchisten nicht. Die Staatsfrage ist ganz zentral. Die Vorstellung, man könne den Staat durch einen bloßen Willensakt abschaffen und danach bedürfe es keines irgendwie gearteten Arbeiterstaates, ist ein Rezept für die Niederlage.
Anarchismus im Hier und Jetzt
Viele der heutigen Anarchisten haben das Bedürfnis, »ein besseres Leben im Hier und Jetzt« zu führen. War das schon immer ein Kennzeichen des Anarchismus?
Es gibt ein interessantes Buch von Murray Bookchin, »The Unbridgeable gap: Social Anarchism vs. Lifestyle Anarchism« (Die unüberbrückbare Kluft: Sozialanarchismus vs. Lifestyle-Anarchismus), in dem er auf die anarchistische Bewegung seiner Jugend in den 1930er Jahren zurückblickt, die viel politischer und viel enger mit der Arbeiterbewegung verbunden war. Während der langen Aufschwungsjahre der Nachkriegszeit und danach im lang andauernden Abschwung wandte sich der Anarchismus dann vermehrt den Fragen des Lifestyles zu. Das hat aber auch mit der sozialen Zusammensetzung der Bewegung zu tun. Der Anarcho-Syndikalismus mit seinem sehr engen Verhältnis zu Arbeitern und Gewerkschaftern wird sich immer vom Anarchismus einer Boheme am Rand der Gesellschaft abheben. Damit will ich keineswegs bestimmte Menschen mit Hilfe einer Klassenzuordnung herabsetzen, einer Boheme oder einer Minderheit anzugehören ist nichts Verwerfliches. Es entspricht einfach einer Andersartigkeit der sozialen Lage, die es einem erlaubt, für eine bestimmte Periode in seinem Leben aus dem gesellschaftlichen Regelwerk auszusteigen, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder einzusteigen. Ich möchte keinesfalls moralisierend wirken, aber das ist nicht die soziale Basis, von der aus die Gesellschaft umgekrempelt werden kann.
Damit meine ich, dass die Lage, in der wir uns befinden, sich außerordentlich dramatisch zuspitzt. Als Teilnehmer an den 18 Tagen des revolutionären Kampfes in Ägypten, an deren Ende Mubarak gestürzt wurde, wusste man, dass ein Misserfolg eine wütende Reaktion heraufbeschwören würde und tausende Menschen Tod und Folter zu erwarten hätten. In einer solchen Situation lässt sich nicht nach dem Lustprinzip handeln, es geht darum, wie man den Sieg erringen kann. Vor dieser Frage steht die gesamte Menschheit, denn wir haben es nicht nur mit einer Wirtschaftskrise zu tun, sondern auch mit einer aufkommenden ökologischen Krise, die das Leben von hunderten Millionen Menschen bedroht. Wenn man diesen Maßstab anlegt, dann möchte ich behaupten, dass der Anarchismus keine Lösung für diese Probleme hat.
Anarchismus ist mehr als der Schwarze Block
Wenn in den Massenmedien vom Anarchismus die Rede ist, dann meistens im Zusammenhang mit Steinewerfern und Schwarzen Blöcken. Ist das eine faire Zuordnung?
Offensichtlich nicht. Der Anarchismus umfasst viele unterschiedliche Tendenzen, und der schwarze Block ist nur eine kleine Minderheit. Die Medien verwenden die Bezeichnung Anarchismus, um den Begriff zu verunglimpfen. Daher bin ich gegenüber den Medien mit den Anarchisten solidarisch – was nicht heißt, dass ich die Theorie teile, die ihren Aktionen zugrunde liegt. Aber ich werde niemals die gemeinsame Solidarität gegen die Kapitalisten aufkündigen, zugleich suche ich aber die offene Auseinandersetzung über diese Fragen.
So manche Bewegungen im letzten Jahrzehnt, wie Occupy oder die Indignados, lehnen Parteien und Organisationen weitestgehend ab. Im Mittelpunkt standen die Besetzungen, aus denen politische Organisationen herausgehalten wurden. Wie erklärst du dir diese Entwicklung?
Ich finde, sie ist durchaus nachvollziehbar. Wenn man sich die Welt heute anschaut, fällt einem als erstes die korrupte Rolle der politischen Parteien auf. In den USA sind es beide im Parlament vertretenen Parteien. Die Demokraten unter Obama haben ihre ganzen Versprechen über Bord geworfen. Das gilt ebenso für die Konservativen und die Sozialisten in Spanien und für die Nea Demokratia und die PASOK in Griechenland. Angesichts dessen ist die Ablehnung von Parteien mehr als verständlich. Ein Kennzeichen der Indignados und von Occupy war aber in meinen Augen der Glaube oder die Illusion, sie seien quasi Pioniere und hätten als erste und auf einmal die richtigen Antworten. Sie denken, sie müssten nur einen Platz besetzen – sie fingen mit einigen Hundert an, dann kämen die Tausenden und die Millionen – und plötzlich sei die herrschende Klasse von der Bühne verschwunden. Wozu Parteien und Ideologien? Das alles bräuchten wir nicht, wenn wir die Antworten schon hätten.
Der Staat hat die Macht, einen besetzten Platz zu räumen – darauf braucht man eine Antwort
Ich glaube, gerade diese Haltung macht die Anziehungskraft der neuen Bewegungen aus, sie ist aber dennoch eine Illusion. Menschen kämpfen schon seit 200 Jahren gegen den Kapitalismus. Dabei ist ein Erfahrungsschatz entstanden, den man nicht einfach wegwerfen darf. Es gab auch schon wesentlich größere Bewegungen als die heutige. Sie lehren uns, dass man das Problem des Staates nicht ignorieren darf. Der Staat hat die Macht, einen besetzten Platz zu räumen – darauf braucht man eine Antwort. Welche soziale Kraft gibt es, die der Staat nicht zu besiegen vermag? Man muss sich damit auseinandersetzen, wie die Masse der Arbeiterinnen und Arbeiter mobilisiert werden kann oder wie mit der reformistischen Gewerkschaftsführung umzugehen ist. Je kräftiger sich die Bewegung entfaltet, desto drängender stellen sich diese Fragen.
In manchen sozialen Bewegungen herrscht bei der Entscheidungsfindung weitgehend das Konsensprinzip. Ist das demokratisch?
Das Konsensprinzip ist hervorragend – wenn es einen Konsens gibt. Wenn sich eine kleine Gruppe Menschen zusammenfindet, die sich einig sind: Was ist daran auszusetzen? Aber wenn es ernsthafte strategische Differenzen gibt – und in der Arbeiterbewegung gibt es seit eh und je ernsthafte Differenzen und die wird es auch in Zukunft geben, etwa in der Frage Reform oder Revolution – dann ist das Konsensprinzip lähmend. Solche Differenzen kann man nicht im Konsens beilegen, weil sie Kräfte mit einer materiellen Basis repräsentieren. Der Reformismus beispielsweise hat eine Basis in der Gewerkschaftsbürokratie und in der Führung der reformistischen Parteien. Die werden keinem irgendwie gearteten Konsens zustimmen, vielmehr werden sie die Bewegung stets aufhalten.
Es gibt eben Situationen, in denen eine Entscheidung gefällt werden muss
Ein gutes Beispiel ist der Aufruf zum Generalstreik von Occupy Oakland von 2011, dem die Menschen der Stadt teilweise folgten. Auf der Vollversammlung wurde demokratisch abgestimmt, es waren etwa 1150 für und 50 gegen den Streik. Hätten sie einen Konsens zu erreichen versucht, hätte kein Streik stattgefunden. Dabei wäre es vollkommen undemokratisch gewesen, hätte man diesen 50 Menschen erlaubt, den Generalstreik zu verhindern. Es gibt eben Situationen, in denen eine Entscheidung gefällt werden muss.
Marxistinnen und Marxisten reden von der Eroberung der Macht, während Anarchistinnen und Anarchisten die Macht aus Prinzip ablehnen. Was ist verkehrt daran, die Macht zu erobern?
Wir müssen uns etwas genauer darüber verständigen, was mit der Eroberung der Macht gemeint ist. Eins von Lenins großartigsten Büchern, »Staat und Revolution«, widmet sich dieser Frage und greift auf Marx‘ Schriften über die Pariser Kommune zurück (Lies hier den marx21-Artikel: »Lenin und die Bolschewiki: Prinzipienfest, aber flexibel«). Unter der Eroberung der Macht verstanden beide nicht die Inbesitznahme des bestehenden Staatsapparats. Es geht nicht darum, über das Parlament oder auf dem Weg eines Staatsstreichs die Macht zu ergreifen, auch nicht darum, das Militär oder die Polizei zu bezwingen. Die Eroberung der Macht bedeutet, dass arbeitende Menschen die Kontrolle über die Gesellschaft in ihrem Sinne übernehmen und dass sie demokratische Räte von unten bilden, die den Aufbau eines Arbeiterstaats einleiten. Das, würde ich sagen, ist ganz essenziell.
Ich denke nicht, dass es möglich ist, den bestehenden kapitalistischen Staat einfach beiseite zu fegen und dann direkt zu einer selbstverwalteten Gemeinschaft gleichgesinnter Menschen überzugehen. Denn am Tag oder in der Woche oder im Monat nach der Revolution sind die alte kapitalistische Klasse und all die Menschen, die sie unterstützen, nicht einfach verschwunden. Die Gesellschaft wird nicht von einem großen Konsens erfasst werden. Die ganzen Erfahrungen der 1848er-Revolution, der Pariser Kommune, von Russischen Revolution 1917, der Veränderungen in Chile Anfang der 1970er Jahre und all der anderen großen Umwälzungen zeigt eines: Angesichts ihres Machtverlustes gruppiert sich die herrschende Klasse von neuem und geht in die Gegenoffensive.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass das heute anders wäre. Vor allem dann nicht, wenn die Revolution nicht gleich in den USA siegt, was natürlich wunderbar wäre, sondern in einem Land wie Griechenland, Ägypten oder Spanien. Denn dann hätte die alte herrschende Klasse noch die Rückendeckung des amerikanischen Imperiums. Mithilfe dieser Unterstützung würden sie versuchen, die Revolution niederzuschlagen. Es bedarf dann einer irgendwie gearteten Staatsmacht, einer Armee, um die Revolution zu verteidigen.
Anarchismus und Theorie
Marxisten beziehen sich auf Marx‘ Kritik des Kapitalismus, um strategische und taktische Entscheidungen zu treffen und die Gesellschaft zu verstehen. Gibt es so etwas wie eine anarchistische Theorie der Gesellschaft?
Nicht wirklich. Die Anarchisten stimmen in vielem mit Marx‘ Analyse des Kapitalismus überein, aber sie übersehen einen ganz zentralen Bestandteil, nämlich seine Analyse der Totengräber des Kapitalismus, der Arbeiterklasse. Wenn man von anarchistischer Theorie spricht, bezieht man sich unweigerlich auf den einen oder anderen anarchistischen Schriftsteller, auf Bakunin, Kropotkin und andere. Sofern Bakunin über eine Theorie verfügte, hatte er sie von Marx geborgt, ansonsten findet man bei ihm viele rhetorische Verkündigungen der Freiheit, aber keine Analyse des Kapitalismus. Wenn man überhaupt von einer ernsthaften anarchistischen Theorie reden kann, dann hat sie ihre Wurzeln im Autonomismus. Zu ihm zählen Autoren wie Hardt und Negri oder John Holloway, die viel von Marx entnehmen, dann aber zu halbanarchistischen Schlussfolgerungen gelangen.
Die Unterschiede zwischen Reformismus, revolutionärer Sozialismus oder Anarchismus haben sich in den politischen Kämpfen herausgeschält
Du hast gerade Bakunin erwähnt. In der Ersten Internationale fanden sich Anarchisten und – um den heutigen Begriff zu verwenden – revolutionäre Sozialisten in ein und derselben Organisation wieder. Wenige Jahrzehnte später kam es zum Bruch und seitdem hat es immer klar voneinander getrennte anarchistische und sozialistische Strömungen gegeben. Wie kam es dazu?
Nun, Bakunin ist nicht mein Lieblingsanarchist. Ich hege viel mehr Sympathien für die CNT in Spanien oder für Kropotkin (Lies hier den marx21-Artikel: »Spanien 1936: Hammer und Sichel auf jeder Wand«). Wenn wir auf das 19. Jahrhundert zurückblicken, auf die Anfänge des modernen Sozialismus, die Chartistenbewegung, auf 1848, die Entstehung der sozialistischen Parteien nach der Pariser Kommune, dann können wir einen Prozess der politischen Klärung und der Verselbstständigung verschiedener Strömungen beobachten. Selbst die Differenz zwischen Reformismus und Revolution trat nicht vor dem ausgehenden 19. Jahrhundert zutage, als Rosa Luxemburg sich mit Bernstein auseinandersetzte. Und auch Marx war sich in dieser Frage unsicher, weshalb er keine klare Haltung zur revolutionären Partei entwickelte. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Richtungen – Reformismus, revolutionärer Sozialismus oder Anarchismus – haben sich in den politischen Kämpfen herausgeschält und klären sich erst im Verlauf solcher Kämpfe.
Interessant ist allerdings, dass es inmitten der Russischen Revolution zu einer Neuaufstellung der Kräfte kam. Den Bolschewiki gelang es, viele der besten Syndikalisten und Anarchisten aufgrund der Revolution und des Kampfes gegen den Reformismus für ihre Politik zu gewinnen. Trotzki meinte einmal über die Syndikalisten, er würde viel lieber versuchen, diese Menschen von der Notwendigkeit der revolutionären Partei zu überzeugen, als mit Karl Kautsky zu debattieren, dem die Notwendigkeit einer Partei bewusst war. Denn nur erstere verspürten den innigsten Drang, der Bourgeoisie den Kopf abzureißen. Weil Syndikalisten und Bolschewiki ernsthaft das gleiche Ziel verfolgt haben, konnten sie sich einig werden. Es hat also Zeiten gegeben, in denen Anarchisten und revolutionäre Sozialisten zusammen kämpften, und ich hoffe sehr, sie werden das auch in Zukunft wieder tun.
(Die Fragen stellten Loren Balhorn, Max Manzey und Oskar Stolz)
Zur Person:
John Molyneux war Professor am Institut für Kunst, Design und Medien der Universität Portsmouth. Er ist Autor von »Marxismus und Anarchismus« (Edition Aurora 2017).
Das Buch
John Molyneux
Marxismus und Anarchismus
Edition Aurora | 2017
80 Seiten | 4,50 Euro
ISBN 978-3-947240-10-4
Schlagwörter: Anarchismus, Marxismus