Erst »Klimakanzlerin«, dann »Flüchtlingskanzlerin« und schließlich gar »Anführerin der freien Welt«: Nach 16 Jahren an der Spitze der deutschen Politik ist die Ära Merkel zu Ende. Zeit, mit den Mythen aufzuräumen. Von Volkhard Mosler und Martin Haller
Fast wäre »merkeln« einmal Jugendwort des Jahres geworden, belegte dann aber hinter »Smombie«, einem Kofferwort für Smartphone-Zombies, doch nur den zweiten Platz. »Merkeln« bedeute der Jury zufolge »nichts tun, keine Entscheidung treffen, keine Äußerung von sich geben«. Und tatsächlich gehörten zum Regierungsstil von Angela Merkel eine gewisse Zurückhaltung und Besonnenheit, mit der sie sich von manch polterndem Parteikollegen und auch ihrem Vorgänger im Kanzleramt deutlich abhob. Doch das Bild einer mehr oder minder untätigen Kanzlerin, die Politik lediglich verwaltet und Krisen einfach aussitzt, ist genauso schief wie die ebenso oft verbreitete Erzählung einer heimlichen Sozialdemokratin, die schlicht in der falschen Partei gelandet sei. Angela Merkel war als Kanzlerin, wann immer es darauf ankam, eine knallharte Interessenvertreterin des deutschen Kapitals und somit ein Glücksgriff für die herrschende Klasse.
Von »Kohls Mädchen« zur »Mutti der Nation«
Als Merkel 2005 Bundeskanzlerin wird, ist sie nicht nur die erste Frau in diesem Amt, sondern mit 51 Jahren auch die jüngste und die erste Ostdeutsche. Gegen welche Widerstände sich »Kohls Mädchen« innerhalb ihrer Partei, aber auch der männerdominierten Politik insgesamt durchsetzen musste, lässt allein dieser Spitzname erahnen. Doch Merkel behauptete sich sowohl in der CDU, deren Bundesvorsitz sie 18 Jahre lang ausübte, als auch als Regierungschefin. Die Liste der politischen Alphamännchen, die sich an ihr die Zähne ausbissen, ist lang. Das brachte ihr sowohl Missgunst in den eigenen Reihen ein als auch Respekt selbst beim politischen Gegner. Sexistische Zuschreibungen verschwanden dennoch nie und begleiteten Merkel durch ihre gesamte Kanzlerschaft, wie sich am Wandel ihres medialen Bilds von »Kohls Mädchen«, über »die Schwarze Witwe« zur »Mutti der Nation« exemplarisch ablesen lässt.
Für Merkel selbst hatten Geschlechterfragen während ihrer Kanzlerschaft keinen hohen Stellenwert. Mit ihrer DDR-Sozialisierung und als selbstbewusste Frau und Naturwissenschaftlerin hatte sie das in christlich-konservativen Kreisen im Westen verbreitete patriarchale Rollenbild der Frau nie geteilt. Als Feministin sah sie sich dennoch nicht. Erst kurz vor dem Ende ihrer Kanzlerschaft im September 2021 revidierte sie ihre Haltung: »Dann bin ich Feministin.« Politische Taten, an denen man diesen Anspruch messen kann, gab es von ihr jedoch nicht. Merkel mag als erste Bundeskanzlerin für viele ein Vorbild gewesen sein, die wenigen frauenpolitischen Fortschritte der letzten 16 Jahre gab es allerdings meist trotz und nicht wegen ihr.
Das Märchen der »Sozialdemokratisierung«
Dieses ambivalente Verhältnis zu gesellschaftspolitischen Fragen ist symptomatisch für Merkels Kanzlerschaft. Sie war keine offensive Vertreterin gesellschaftlicher Liberalisierung, stellte sich ihr jedoch auch nicht konsequent entgegen. Damit trug sie einerseits zu einer Modernisierung der Union und einer Anpassung an sich verändernde gesellschaftliche Gegebenheiten bei, eckte innerhalb ihrer Partei aber auch regelmäßig an und setzte sich dem Vorwurf aus, konservative Werte und Kernpositionen preiszugeben.
Immer wieder ist sogar die Rede davon, unter Angela Merkel hätte eine »Sozialdemokratisierung« der CDU stattgefunden. Diese Erzählung wird vor allem von rechtskonservativer Seite als Vorwurf gegen Merkel erhoben, aber auch von Linksliberalen wie Heribert Prantl geteilt, der anerkennend meint: »Die CDU hat seit 2005 ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik erfolgreich sozialdemokratisiert; das hat ihr eher gutgetan.«
Durch ständige Wiederholung ist die These einer »Sozialdemokratisierung« der CDU unter Merkel längst Allgemeinplatz geworden. Tatsächlich hält sie einer Überprüfung ihrer Regierungsbilanz jedoch nicht stand. Merkel ist eine gemäßigte Konservative, zuweilen liberal, und hat ein christlich-humanistisches Weltbild. Sozialdemokratisch ist daran nichts – erst Recht nicht an ihren Positionen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, wie Prantl es behauptet. Im Gegenteil: Im zentralen Konflikt zwischen Arbeit und Kapital vertrat Merkel stets klassisch neoliberale Ideen. Während ihre Politik sich pragmatisch an den Interessen der Wirtschaft, stabilen Bedingungen für die Kapitalakkumulation und der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland orientierte, kann sie ideologisch getrost als Marktradikale bezeichnet werden. Es gehört zu ihren Grundüberzeugungen, dass die Wirtschaft am besten funktioniere, wenn der Staat sie möglichst wenig mit Regeln und Regulierungen stört. Am deutlichsten wurde dies, als ihr in einem ehrlichen Moment die Forderung nach einer »marktkonformen Demokratie« herausrutschte.
Merkel und die Marktideologie
Die Ursprünge Merkels neoliberaler Ideologie lassen sich bis in die 1980er Jahre zurückverfolgen. Angela Merkel war bereits während des Niedergangs der DDR-Wirtschaft zu einer glühenden Anhängerin des »freien Marktes« geworden. Nach einer Westreise 1987 kam sie zu dem Schluss: »Für mich war völlig klar, es muss das Westmodell sein.« Obwohl sie der SED gegenüber stets auf Distanz geblieben war, hielt sie sich auch von der Bürgerrechtsbewegung fern. Erst nach dem Fall der Mauer schloss sie sich im Dezember 1989 dem »Demokratischen Aufbruch« an, der sich schon bald für den Anschluss der DDR an die BRD aussprach und damit gegen »sozialistische Experimente« in einer reformierten DDR. In einem Artikel für die Berliner Zeitung bekannte sich Merkel im Februar 1990 zu Ludwig Erhard und der Schule der Ordoliberalen, die 1948 in einer scheinbar hoffnungslosen Lage den Aufschwung mit einem Konzept eingeleitet hätten, »die Wirtschaft nur noch über Wettbewerb und über den Markt zu steuern.«
In den Jahren nach dem Anschluss der DDR an die BRD geriet die deutsche Wirtschaft in eine anhaltende Stagnationskrise und Merkel führte dies auf die gleiche Ursache zurück, wie die Krise der DDR-Ökonomie: zu viel Staat, zu hohe Sozialkosten und damit zu geringe internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Nach dem Ende der Kohl-Ära und ihrem eigenen Aufstieg zur CDU-Vorsitzenden im Jahr 2000 setzte sie sich dementsprechend für einen radikalen Umbau des Sozialstaats ein.
Merkel unterstützte die »Agenda 2010« unter der rot-grünen Bundesregierung von Gerhard Schröder, die darauf abzielte, den deutschen Kapitalismus durch Senkung der Lohnstückkosten auf den Weltmärkten wettbewerbsfähiger zu machen. Auf ihren Druck hin stimmten CDU und CSU dem größten Angriff auf Sozialstaat und die Klasse der Lohnabhängigen in der Geschichte der Bundesrepublik zu. Schröders Agenda bedeutete eine massive Schwächung der Gewerkschaften und des Tarifvertragswesens, die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, die Aushöhlung des Kündigungsschutzes, die Einführung der Fallpauschalen im Gesundheitssystem, die Teilprivatisierung der Rentenversicherung und die Entstehung eines großen, auf prekärer Arbeit beruhenden Niedriglohnsektors. Merkels Kritik an der »Agenda 2010« bestand darin, dass ihr der Marktliberalismus noch nicht weit genug ging.
Merkel als »deutsche Margaret Thatcher«
Auf dem Leipziger Parteitag 2003 beschloss die CDU unter ihrer Führung das marktradikalste Programm ihrer Parteigeschichte. Es sollte nur noch drei Steuersätze anstelle des bisherigen Progressionstarifs geben. Anstelle der solidarischen Krankenversicherung mit prozentualen Beitragssätzen sollte eine »Kopfpauschale« von 180 Euro treten. Das Rentenalter sollte auf 67 Jahre heraufgesetzt werden. »Wir brauchen ein stärkere Entkoppelung unser Sozialsysteme von den Arbeitskosten«, so Merkel. »Die Alternativen sind: Weiter herumdoktern und sich über die Zeit retten oder den Befreiungsschlag wagen. Ich wähle den zweiten Weg.«
Der Parteitag bedeutete einen Bruch mit den sozial-konservativen Wurzeln der CDU. Norbert Blüm vom Arbeitnehmerflügel der Partei kündigte Widerstand an, genau wie die CSU. Der frühere Generalsekretär Heiner Geisler hatte sich schon zuvor über die »typisch Ossi-liberale Position« mokiert, die Merkel aufgrund ihrer DDR-Erfahrungen einnehme: »Alles was die Kommunisten bekämpft hätten, müsse gut sein, also auch der ungebremste Kapitalismus«.
Merkel wurde damals wegen ihrer marktradikalen Wirtschaftspolitik verschiedentlich als »deutsche Margaret Thatcher« betitelt. Ihre neoliberalen Umbaupläne der Sozialsysteme und des Steuersystems hätten ihr bei der Bundestagswahl 2005 fast den Sieg gekostet. Insbesondere Paul Kirchhof und sein Modell zur Besteuerung von Einkommen sowie die Kopfpauschale zur Krankenversicherung galten später als »schwer vermittelbar« und mitverantwortlich für das schlechte Wahlergebnis.
Statt mit ihrem Wunschpartner FDP fand sich Merkel als Kanzlerin in einer Koalition mit der SPD wieder und musste ihre noch weit über Schröders Agendapolitik hinausgehenden marktradikalen Pläne größtenteils begraben. Ihrer neoliberalen Einstellung tat dies keinen Abbruch. Ihr Mantra »keine Steuererhöhungen und möglichst keine Schulden« durchzog Merkels gesamte Kanzlerschaft.
Pragmatisch in der Krise
Gleichzeitig war Angela Merkel pragmatisch genug, ihre neoliberale Politik anzupassen und marktwirtschaftliche Grundsätze fallenzulassen, sobald Krisen ein Eingreifen des Staates im Interesse der Banken und Konzerne erforderten. Dies sollte schon bald nach ihrem Regierungsantritt der Fall sein, als ab 2007 die schwerste Weltwirtschaftskrise seit 1929 ausbrach. Das von Merkel 1990 so bewunderte kapitalistische System stand vor einem möglichen Zusammenbruch im Ausmaß der 1930er Jahre. Der von ihr bis zur Wahl 2005 propagierte Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsleben verkehrte sich nun ins Gegenteil: Ein Bankensterben wurde mit einer nie zuvor gekannten Staatsverschuldung verhindert. Die große Koalition unter Kanzlerin Merkel legte einen Fonds von 480 Milliarden Euro zur Rettung der Hypo-Real-Estate, der Commerzbank und anderer Banken auf, um eine Kettenreaktion wie 1929 zu verhindern.
Staatsinterventionismus diesen Ausmaßes war in Merkels wirtschaftsliberalen Denken nicht vorgesehen. Es wäre aber falsch, ihre Rettungspolitik als eine Abkehr vom Neoliberalismus zu verstehen. Denn das neoliberale Projekt, das bereits in den späten 1970er Jahren seinen Ausgang nahm und in einer Restauration von Kapitalmacht im Angesicht fallender Profitraten bestand, war nie »ideologisch rein«, wie es seine Vertreter:innen Glauben machen wollten. Das Credo »freier Märkte« und eines Rückzugs des Staates ging immer nur so weit, wie dies im Interesse des Kapitals war. Angesichts eines drohenden Zusammenbruchs passte die Bankenrettung auf Staatskosten genauso ins neoliberale Konzept wie Milliardengeschenke an die Wirtschaft, etwa in Form der »Abwrackprämie« für die Automobilindustrie.
Zudem stellte Merkel von Beginn an klar, dass die Abweichung von ihren marktwirtschaftlichen Grundsätzen nur eine »Ausnahme« von der Norm war. Sie knüpfte die Staatsverschuldung an die Aufnahme der »Schwarzen Null«, also eines ausgeglichenen Staatshaushalts, in das Grundgesetz. Im Januar 2009 stimmten in Bundestag und Bundesrat alle Parteien außer der LINKEN einer entsprechenden Verfassungsänderung mit Zweidrittelmehrheit zu. Nur kurze Zeit nachdem Merkels Regierung mit Milliarden bankrotte Banken rettete, ließ sie ein Kürzungsprogramm in Höhe von 35 Milliarden Euro gegen Arbeitslose und Geringverdiener:innen verabschieden.
Eurokrise, Austerität und Erpressung
Während insbesondere in Südeuropa die Banken- und Wirtschaftskrise im Zuge der staatlichen Rettungspakete zu einer Staatsschuldenkrise führte, war in Deutschland im Sommer 2010 das Ende der Rezession erreicht und die Wirtschaft begann sich zu erholen. Der Schlüssel zum Aufschwung war eine erfolgreiche Exportoffensive, deren Grundlage die rot-grüne Vorgängerregierung mit ihrer Agendapolitik gelegt hatte, die der deutschen Wirtschaft einen massiven Wettbewerbsvorteil verschaffte.
Mit der Abschaffung der nationalen Währungen innerhalb der Eurozone im Jahr 2001 entfiel die Möglichkeit, Ungleichgewichte im zwischenstaatlichen Konkurrenzkampf abzufedern. Unter dem Druck von Hartz IV und der anderen Maßnahmen von Schröders »Agenda 2010« kam es zwischen 2001 und 2008 in Deutschland zur Senkung der Reallöhne um 2,5 Prozent und der Lohnstückkosten um über 10 Prozent. Eine »innere Abwertung« Deutschlands gegenüber dem Rest der Eurozone war die Folge. Eine solche findet statt, wenn in einem Land die Preise und Löhne relativ zu den Preisen anderer Länder sinken, ohne dass eine Abwertung der Wechselkurse der Währung erfolgt.
Deutschland exportierte im wahrsten Sinne des Wortes seine Krise in die anderen EU-Staaten. Die Abschaffung flexibler Wechselkurse durch den Euro wirkte nun wie eine Wippe. Der Aufschwung der deutschen Wirtschaft führte die südeuropäischen Staaten an den Rand des Staatsbankrotts. Merkel und ihr Finanzminister Schäuble wollten nun die Staatsschuldenkrise anderer EU-Länder durch eine »Agenda 2020« für die gesamte EU »lösen«. Sie forderten von den südeuropäischen Staaten umfassende Kürzungen bei den Sozialausgaben, Renten, im Gesundheitssystem, bei der Arbeitslosenversicherung sowie die Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen. Krankenhäuser, Flughäfen, Hafenanlagen, Telekommunikation und vieles mehr sollten privatisiert werden, um die Staatshaushalte zu sanieren. Merkel machte die Zustimmung der Bundesregierung zu Rettungspaketen für die angeschlagenen Staaten von solchen »Reformen« abhängig. »Hilfe gegen Reformen« war die Formel, unter der die Erpressung vonstatten ging. Von Merkel ist der Satz überliefert, dass sie lieber »den Ausschluss Griechenlands aus der Euro-Zone« riskieren wolle, als der linken Regierung unter Tsipras Zugeständnisse zu machen. So kehrte der marktradikale Neoliberalismus auf europäischer Ebene zurück, der in der Finanzkrise auf deutscher Ebene bereits beerdigt schien.
Merkel: Politik für Reiche und Konzerne
Vor diesem Hintergrund von einer »Sozialdemokratisierung« unter Merkel zu sprechen, ist absurd. Austeritätspolitik und »Schwarze Null« waren stets die Kernelemente Merkelscher Finanz- und Wirtschaftspolitik. Richtiger wäre es stattdessen von einer »Entsozialdemokratisierung« der SPD unter Schröder zu sprechen. Was dieser in den 2000er Jahren für Deutschland »geleistet« hatte, »leistete« Merkel in den 2010er Jahren für ganz Südeuropa: die Deregulierung der Arbeitsmärkte, Senkung von Renten und Erhöhung des Renteneintrittsalters, Schließung von Krankenhäusern und Privatisierung bislang öffentlicher Dienste. Merkels Politik war nicht die Ursache der Krise, aber ihre neoliberale Medizin trug zur Verarmung von Millionen Menschen in ganz Europa bei.
Auch in Deutschland ist die soziale Spaltung in den 16 Jahren unter Angela Merkel weiter gewachsen. Die wenigen Reformen im Interesse der Lohnabhängigen, die es in ihrer Kanzlerschaft gab, wie die Einführung des Mindestlohns, waren keine Projekte Merkels, sondern mussten gegen sie durchgesetzt werden. Nachdem Merkel einen Mindestlohn lange bekämpft hatte, vollzog sie 2013 eine plötzliche Kehrtwende und warb für einen allgemeinen Mindestlohn, der allerdings »bestehende Jobs nicht gefährden« dürfe, was letztlich nichts anderes bedeutete, als dass er nichts am riesigen Niedriglohnsektor ändern sollte. Dieses Vorgehen ist typisch für den Regierungsstil Merkels: Wenn die Kanzlerin spürte, dass der gesellschaftliche Druck zu stark wurde, gab sie lieber ein Stück weit nach und formte das eigentlich Ungewollte selbst mit. So entstand ein viel zu geringer Mindestlohn mit zahlreichen Ausnahmen, genau wie eine »Mietpreisbremse«, die so gut wie nichts bremst – Reformen, die so unvollständig blieben, dass sie den Reichen und Konzernen nicht gefährlich wurden und keine wirkliche Verbesserung für die Lohnabhängigen bedeuten.
Stärkung des deutschen Imperialismus
Auch außenpolitisch ist die Bilanz Merkels ganz im Einklang mit den Interessen des Kapitals: Ihre Politik stärkte den deutschen Imperialismus, der sich in erster Linie im Ausspielen von Deutschlands Rolle als größter Wirtschaftsmacht innerhalb des riesigen Binnenmarktes der EU und dem Kaputtkonkurrieren schwächerer Volkswirtschaften ausdrückt. Gleichzeitig stand Merkel für Aufrüstung, Militarisierung und Kriegseinsätze.
Während Deutschland unter Merkel seine wirtschaftliche und politische Hegemonie in der EU ausbauen konnte, setzte sie weiter auf das Nato-Bündnis unter Führung der USA. Währenddessen zeigte sie sich insbesondere nach der Wahl Trumps zum US-Präsidenten auch offen für eine engere militärische Zusammenarbeit auf EU-Ebene. Dass militärisches Eingreifen ein legitimes Mittel der Politik darstellt, stand für Merkel nie in Frage. Zu der zuletzt in Afghanistan gescheiterten und aktuell in Mali scheiternden Interventionspolitik hat sie immer treu gestanden.
Unter Merkels Führung stimmte die CDU sämtlichen Auslands- und Kriegseinsätzen der Bundeswehr zu. Merkel unterstützte auch den Irakkrieg ab 2003. Die Regierung Schröder-Fischer kritisierte sie scharf für deren Ablehnung einer Entsendung deutscher Truppen in den Irak und sprach vom Verrat an der Nato und am westlichen Bündnis. Das »Zwei-Prozent-Ziel« der Nato, ein gigantisches Aufrüstungsprojekt, hat sie nie infrage gestellt.
»Merkel muss weg!«
Aber wie konnte sich angesichts einer solchen kapitalfreundlichen und militaristischen Politik unter Merkel die Erzählung einer »Sozialdemokratisierung« der CDU durchsetzen? Und warum kam die Kritik an Angela Merkel insbesondere im letzten Drittel ihrer Amtszeit hauptsächlich von rechts? »Merkel muss weg!«-Rufe fehlten bei keinem rechten Aufmarsch der letzten Jahre und auch auf den Demonstrationen der »Querdenker« wird zum Kampf gegen die »Merkel-Diktatur« aufgerufen.
Der Grund dafür liegt in der wachsenden politischen Polarisierung, welche sich infolge der Weltwirtschaftskrise Bahn brach – und das nicht nur in Deutschland. Nach Jahrzehnten sich als alternativlos gerierender neoliberaler Politik und Umverteilung von unten nach oben kam die Wut über die Folgen der Krise, den stagnierenden oder sinkenden Lebensstandard, schlechte Zukunftsaussichten sowie eine undemokratische und niemandem rechenschaftspflichtige herrschende Klasse in immer mehr Ländern an die Oberfläche. Nicht immer, aber in vielen Fällen profitieren hiervon nicht in erster Linie linke Kräfte, sondern vor allem Rechte, bis hin zu neofaschistischen Formationen, die die Schuld für soziale Probleme und wachsende Unsicherheit bei Sündenböcken abladen – Migrant:innen, Geflüchteten, Muslimen oder Juden. In Deutschland ist der Aufstieg der AfD Resultat dieser Entwicklung. Dass solche rechten Sündenbock-Strategien ausgreifen konnten, liegt nicht zuletzt daran, dass sie von Teilen der bürgerlichen »Mitte« und Medien gezielt gefördert werden, um von den eigentlichen Ursachen für Krisen, Armut und Ungerechtigkeit abzulenken – in Deutschland etwa vom rechten Rand der Unionsparteien oder der Springer-Presse.
Merkel als »progressive Neoliberale«?
Die Frage, ob die wachsende Polarisierung vor allem nach rechts oder links ausschlägt, ist einerseits eng verbunden mit der Vitalität der politischen Linken. Zum anderen hängt die Wirkmacht rechter Agitation im Zeitalter der Hegemoniekrise der Herrschenden aber auch mit einem Phänomen zusammen, das die amerikanische Philosophin Nancy Fraser mit dem Begriff des »progressiven Neoliberalismus« umschreibt. Darunter versteht sie, dass sich anders als im traditionellen, konservativen Neoliberalismus – etwa unter Ronald Reagan in den USA oder Margaret Thatcher in Großbritannien – moderne Neoliberale gerne den Anschein einer fortschrittlichen Gesellschaftspolitik geben und sich beispielsweise als feministisch und antirassistisch gerieren, aber unter diesem Deckmantel der Progressivität die gleiche elitäre Politik im Interesse von Banken, Konzernen und Vermögenden machen. Zu dieser Spielart des Neoliberalismus zählt sie etwa Bill und Hillary Clinton sowie Barack Obama in den USA, aber auch Tony Blair in Großbritannien, Emmanuel Macron in Frankreich oder Justin Trudeau in Kanada ließen sich in diese Reihe einordnen. Durch das Bündnis, das diese Neoliberalen mit Teilen der fortschrittlichen sozialen Bewegungen eingegangen sind, haben sie der rechten Elitenkritik, die statt dem Klassenwiderspruch einen angeblichen Großkonflikt zwischen »linksliberalen Kosmopoliten« und der »einfachen Bevölkerung« predigt, Glaubwürdigkeit verliehen. Der Unmut und das Aufbegehren gegen kapitalistische Zumutungen konnte so von rechts vereinnahmt werden, was sich etwa in der Wahl Donald Trumps ausdrückte.
Aber passt Frasers Konzept des »progressiven Neoliberalismus« auch zur Charakterisierung von Angela Merkel? In gewisser Weise ja, denn der Hauptgrund dafür, dass Merkel zum Feindbild der politischen Rechten wurde, ist ihr Widerstand gegen die rassistische Hetzkampagne, die infolge der Fluchtbewegung nach Europa im Sommer 2015 losgetreten wurde und der AfD zu ihrem Aufstieg verhalf. Mit ihrem Satz »Wir schaffen das!« machte sich Merkel zum Hassobjekt der neuen rechtsradikalen und in Teilen neofaschistischen Formation. Anders als etwa Horst Seehofer stellte sich Merkel der rechten Hetze gegen Geflüchtete entgegen und weigerte sich standhaft, ideologische Zugeständnisse an die Rassist:innen zu machen.
Atomausstieg, Wehrpflicht und »Ehe für alle«
Doch dies war nicht der einzige Faktor, mit dem Merkel sich der Kritik von rechts aussetzte. Auch der Atomausstieg und ihr verbales Eintreten für Klimaschutz, die Aussetzung der Wehrpflicht oder die Ermöglichung der gleichgeschlechtlichen Ehe unter ihrer Kanzlerschaft, wie auch ihr Bekenntnis »Der Islam gehört zu Deutschland« ließen sie zur Zielscheibe konservativer und rechter Kreise in Politik und Gesellschaft werden.
So wird Merkel vom rechten Flügel ihrer Partei vorgeworfen, sie habe durch ihre Preisgabe konservativer Kernpositionen die rechte Flanke der Union geöffnet und trage damit eine wesentliche Schuld für den Aufstieg der AfD. Dieser Vorwurf ist jedoch gleich in zweierlei Hinsicht falsch, denn Merkel ist weder verantwortlich für den Aufstieg der AfD, noch hat sie sich den Nimbus einer »Klimakanzlerin«, »Flüchtlingskanzlerin« oder überhaupt irgendeiner progressiven Politik verdient.
Es war nicht Merkel, die die AfD salonfähig machte, sondern Politiker:innen wie Horst Seehofer und Medien von »Bild« bis »Spiegel«, die mit ihren Kampagnen gegen Geflüchtete und Muslime Angst vor einer »Überfremdung« oder »Islamisierung« schürten und so den Rassist:innen den Weg ebneten.
Gleichzeitig war Merkel nie die Verfechterin liberaler Ideen und progressiver Gesellschaftspolitik, zu der sie medial inszeniert wurde. Die Aussetzung der Wehrpflicht erfolgte nicht im Interesse des Antimilitarismus, sondern mit dem Ziel die Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zu einer global einsatzfähigen Interventionsarmee umzubauen – sie also fähig zum Angriffskrieg zu machen. Der Atomausstieg war nie ein Projekt Merkels – sie wollte das Gesetz ihrer Vorgängerregierung revidieren und die Laufzeiten der Atommeiler massiv verlängern. Erst die Massenbewegung nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima zwang sie zurückzurudern. Mit den Stromkonzernen einigte sie sich schließlich auf milliardenschwere Entschädigungen für die Rücknahme der Laufzeitverlängerung. Merkels einziger Verdienst bei der »Ehe für alle« bestand darin, dem gesellschaftlichen Druck nachzugeben und den Fraktionszwang bei der Abstimmung im Bundestag aufzuheben. Sie selbst stimmte dagegen. Und Merkels Klimapolitik heute noch in irgendeiner Weise als progressiv zu bezeichnen, kommt zum Glück nur noch dem letzten Klimawandelleugner in den Sinn.
Mehr Heuchelei geht nicht
Aber auch die angebliche »Grenzöffnung« für Geflüchtete im September 2015 war in Wahrheit lediglich die Entscheidung, die Grenzen nicht zu schließen, was bedeutet hätte, die Schutzsuchenden mit massiver Gewalt abzuhalten. Es waren der Druck der Fluchtbewegung selbst sowie die Solidaritätsbewegung in ganz Deutschland, die Merkel zu diesem Schritt zwangen. Danach wurde unter ihrer Ägide das Recht auf Asyl bis zur Unkenntlichkeit verschärft. Merkel ist mitverantwortlich für Tausende Tote im Mittelmeer, Abschiebungen in Kriegsgebiete und Elendslager in Griechenland.
Sie hat den perfiden Deal mit der Türkei eingefädelt, die Milliarden dafür bekommt, dass sie Geflüchtete von der EU fernhält. Mittlerweile sind unzählige Länder zu Vorposten der Abschottungspolitik Europas gemacht worden, die aufgerüstet werden, um Fluchtrouten zu sperren. Auch die sogenannte Grenzschutzagentur Frontex wurde mit Merkels Zustimmung mit Milliarden aufgestockt, um Asylsuchende fernzuhalten, damit sie erst gar nicht in die Lage kommen, einen Antrag zu stellen. In der öffentlichen Debatte blieb Merkel derweil das freundliche Gesicht, das auf Selfies mit Flüchtlingen posierte. Mehr Heuchelei geht nicht. Doch als Feindbild für die Rechte reicht’s.
Wenn also nun nach 16 Jahren die Ära Merkel zu Ende geht, sollten wir weder der Erzählung Glauben schenken, dass ihr Fünkchen Humanität der AfD den Weg ebnete, noch dass Merkel jemals tatsächlich für progressive Politik eintrat – weder sozial noch sonstwie. Sie »merkelte« für’s Kapital und die Interessen des deutschen Imperialismus.
Foto: Armin Linnartz / Wikimedia Commons
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