Der Vorwurf des Antisemitismus wird als Waffe in der Diskussion um die Politik Israels eingesetzt, um Kritiker:innen zu diffamieren und auszugrenzen. Die Auseinandersetzung um eine klare Definition, was Antisemitismus eigentlich ausmacht, hat mit der Kontroverse um eine jetzt vom Bundestag beschlossene Resolution, die Grundlage für ein zukünftiges Gesetz sein soll, eine neuerliche Zuspitzung erfahren. Horst Haenisch setzt sich in folgendem Beitrag mit dieser Resolution und ihren Folgen kritisch auseinander
Im September 2017 nahm der deutsche Bundestag die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remebrance Alliance (IHRA) mit einer speziellen deutschen Ergänzung an. Im Eingangssatz betont die Resolution der IHRA, dass diese nicht gesetzlich bindend ist – eine merkwürdige Feststellung für eine Institution, der keinerlei Gesetzgebungskompetenz zukommt. Und man konnte bereits damals ahnen, dass es genau darum geht, die Resolution mit der Wirkung eines Gesetzes auszustatten.
Diesem Ziel ist die Bundesregierung am 7. November 2024 mit der Annahme der Resolution »Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken« entscheidend näher gekommen. Das BSW hat dagegen gestimmt, die LINKE sich enthalten. Letztere konnte sich offenbar nicht dazu durchringen, dem heftigsten Anschlag auf die Wissenschafts- und Meinungsfreiheit seit Bestehen der BRD entgegenzutreten. Die Resolution enthält keine Kritik am eliminatorischen Rassismus der AfD und hat so der AfD erlaubt, ebenfalls für die Resolution zu stimmen. Mehr noch: mit der Betonung eines Antisemitismus, der »nicht zuletzt (…) auf Zuwanderung aus den Ländern Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens basiert«, hat die Resolution die islamfeindliche Argumentation der AfD übernommen und diese geradezu eingeladen! Brandmauer?
Resolution als Maulkorb
Die IHRA-Definition hat es damit in den Rang eines Quasi-Gesetzes geschafft, denn diese ist nun »maßgeblich«. Vorbei ist es mit dem vormals bescheiden und veränderungsoffen sich gebenden Auftreten als »Arbeitsdefinition«. Die Bundesregierung wird nun aufgefordert, auf der Grundlage dieser maßgeblichen Definition »Gesetzeslücken zu schließen und repressive Möglichkeiten konsequent auszuschöpfen«, insbesondere beim Straf-, Asyl- und Aufenthaltsrecht.
Länder und Kommunen werden angehalten, in ihren Zuständigkeitsbereichen ebenso vorzugehen. Auch Wissenschaft, Kunst, Kultur und die Medien mitsamt der finanziellen Förderung privater Initiativen sollen entsprechend durchleuchtet und gesäubert werden. Damit ist etwas eingetreten, wovor dringend gewarnt wurde. Wikipedia berichtet in diesem Zusammenhang, dass unmittelbar nachdem sich die englische Regierung der »Arbeitsdefinition« angeschlossen hat, an vielen englischen Universitäten Veranstaltungen zum Nahostkonflikt abgesagt wurden. Es geht um die freie Meinungsäußerung, und der Hauptautor der Arbeitsdefinition, Kenneth S. Stern, hat inzwischen kalte Füße bekommen und die amerikanische Regierung unter dem Eindruck der Bedrohung der akademischen Freiheit aufgefordert, die Resolution nicht in Gesetzesrang zu erheben und dabei auf viele Fälle des Missbrauchs der Arbeitsdefinition zur Unterdrückung der offenen Diskussion an amerikanischen Universitäten hingewiesen.
Erfindung des antiisraelischen Antisemitismus
Die IHRA erweitert den Antisemitismus-Begriff um die Dimension des antiisraelischen bzw. antizionistischen Antisemitismus. Wissenschaftliche Wegbereiter des Forschungsgegenstandes des antiisraelischen Antisemitismus in Deutschland waren, indem sie als Auftraggeber Einstellungen zu Israel in Umfragen zum Antisemitismus einbrachten: 1987 die Anti-Defamation League (ADL), 1990 und 1994 das American Jewish Committee (AJC) und 1991 die Zeitschrift Der Spiegel.
Die ADL, deren Interesse die Studie von 1987 »wesentlich mitbestimmt« hat, ist eine weit rechts stehende zionistische Organisation. Das AJC war bis zum Sechs-Tage-Krieg 1967 eine nicht-zionistische Lobby der amerikanischen Staatsbürger:innen jüdischen Glaubens, die sich nicht dem Verdacht doppelter Loyalitäten aussetzen wollten. Seitdem haben sich große Gemeinsamkeiten beim Kampf gegen jüdische Kritiker:innen der israelischen Politik und gegen die BDS-Kampagne ergeben und 2011 zu einer gemeinsamen Erklärung von ADL und AJC geführt, wonach für amerikanische Jüdinnen und Juden amerikanischer Patriotismus identisch ist mit zionistischem Patriotismus.
IHRA-Definition
Die IHRA-Definition lautet: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.« Es handelt sich somit bei der Arbeitsdefinition gar nicht um eine Definition. Dies oder jenes Verhalten, diese oder jene Redewendung kann antisemitisch sein. Was hinzutreten muss, damit wir sicher sein können, dass ein Auftreten antisemitisch ist, sagt uns die Definition nicht. Um diesen Mangel zu überbrücken, sind Handreichungen zur Identifizierung von Antisemitismus, angefügt:
»Beispiele:
Der Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen Religionsanschauung sowie die Beihilfe zu solchen Taten oder ihre Rechtfertigung.
Falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Juden oder die Macht der Juden als Kollektiv – insbesondere aber nicht ausschließlich die Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftlicher Institutionen durch die Juden.
Das Verantwortlichmachen der Juden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar von Nicht-Juden.
Das Bestreiten der Tatsache, des Ausmaßes, der Mechanismen (z.B. der Gaskammern) oder der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer und Komplizen während des Zweiten Weltkrieges (Holocaust).
Der Vorwurf gegenüber den Juden als Volk oder dem Staat Israel, den Holocaust zu erfinden oder übertrieben darzustellen.
Der Vorwurf gegenüber Juden, sie fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer.
Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird.
Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.
Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.
Das kollektive Verantwortlichmachen von Juden für Handlungen des Staates Israel.«
Kritik im Einzelnen
Die deutsche Bundesregierung übernahm diese Definition und verwies zusätzlich auf die erweiterte Definition aus dem Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, der abschließend am 7. April 2017 schrieb: »Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, das Ziel solcher Angriffe sein.« Auch diese Formel wurde vom Deutschen Bundestag beschlossen. Damit wurde die Kritik an der Politik Israels endgültig als Antisemitismus gebrandmarkt.
Eine bzw. zwei Handreichungen in der Liste gleichen den Stereotypen des Krypto-Antisemitismus, drei betreffen den unverstellten, »klassischen« Antisemitismus. In den übrigen sechs bzw. sieben geht es darum, welche Kritik an der Politik israelischer Regierungen antisemitisch sein soll. Hier liegt also das Schwergewicht.
Einiges an den Handreichungen ist absurd. So soll schon der »Vergleich« zwischen Israel und dem Nazi-Staat antisemitisch sein, nicht erst möglicherweise das, was bei einem solchen Vergleich präsentiert wird. Wenn das Bestreiten der »Vorsätzlichkeit« des Genozids an den europäischen Juden Antisemitismus ist, dann steht die erste Historiker-Generation des Münchner Instituts für Zeitgeschichte unter Antisemitismusverdacht, weil sie den in den Holocaust verwickelten Beamtenstaat von eben diesem Vorsatz freizusprechen versucht hat.
Recht auf Selbstbestimmung
Mit der »Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen« werde dem jüdischen Volk das »Recht auf Selbstbestimmung aberkannt«. Wie das? Hat irgendjemand, der den südafrikanischen Apartheid-Staat ein rassistisches Unterfangen nannte, damit den weißen Siedlern das Recht auf Selbstbestimmung aberkannt? Im Gegenteil wurde damit das Recht auf Selbstbestimmung für alle Südafrikaner:innen gefordert. Oder soll mit dieser Handreichung zur Identifizierung von Antisemiten gar gesagt werden, im Falle Israels schließe das Recht auf Selbstbestimmung das Recht ein, die Menschenrechte zu missachten und rassistische Politik zu machen?
Die Frage mag sarkastisch erscheinen, sie trifft aber Geist und Kern des Vorwurfs des antiisraelischen Antisemitismus. In einer Fußnote auf S. 66 wird zu dem Hinweis, dass schon der Begriff »Israelkritik« auf doppelte Standards gegen Israel, mithin auf antiisraelischen Antisemitismus schließen lasse, vom Expertenkreis folgende Erläuterung gegeben:
»Hier wird das Gegenargument vorgebracht, Israel müsse sich als Demokratie nun einmal besonders strenge Maßstäbe gefallen lassen. Ausgeklammert wird dabei erstens, dass so gut wie keine Staatengründung auch der heute demokratischen Staaten ohne Verdrängungen, Ungerechtigkeiten oder gar Krieg auskam, und zweitens, und dies besonders augenfällig, die explizite Bedrohungslage Israels dabei schlicht unerwähnt bleibt.«
Kein Recht auf Vertreibung
Der Expertenkreis ist also der Auffassung, dass, weil auch andere Staatengründungen mit »Verdrängungen« – gemeint sind wohl Vertreibungen –, Ungerechtigkeiten und Krieg einhergingen, es ein Fall von doppeltem Standard wäre, wollte man Israel nicht auch das Recht auf Vertreibungen, Ungerechtigkeiten oder Krieg zubilligen. Vielleicht auch den Gebrauch der Atombombe? Schließlich haben »die Amerikaner« sie auch schon eingesetzt. Was schon einmal ein Verbrechen war, gibt doch niemandem das Recht, mit Hinweis auf Gleichbehandlung das gleiche Verbrechen zu verüben.
Dass die Israelkritik in einer anderen Dimension angesiedelt ist als der »klassische« Antisemitismus, wird auch daran deutlich, dass der »klassische« nur in geringem Umfang von Ereignissen beeinflussbar ist. Im Gegensatz dazu folgt die Einstellung zu Israel politischen Entwicklungen. Die Einstellung zu Israel ist ein Urteil über die jeweilige israelische Politik, kein Vorurteil über die Juden.
Schwankende Sympathiewerte
Der Soziologe und Antisemitismusforscher Werner Bergmann schreibt: »Die Sympathieverteilung im arabisch-israelischen Konflikt folgt in Deutschland der Entwicklung in anderen westlichen Staaten: von 1965 bis 1978 kann Israel deutlich höhere Sympathiewerte verbuchen als die arabische Seite, während mit dem Libanonkrieg ein großer Sympathieverlust eintritt, so daß sich nach einem kurzen pro-arabischen Ausschlag die Sympathien für beide Seiten die Waage halten und der Anteil derjenigen ohne Sympathien für beide Seiten stark zunimmt.
Der Sympathieverlust Israels resultiert nicht aus einem Anwachsen eines Antizionismus, sondern eher aus einer Veränderung der Kräfteverhältnisse im Nahen Osten: so stieg die Sympathie für Israel von 24 % im Jahre 1965 in der Bedrohungssituation des Junikrieges von 1967 auf 55 %, während die Sympathie für die Ägypter von 15 % auf 6 % absank. Die Sympathien für Israel in der ›Goliath-Rolle‹ gingen wieder auf 19 % im Jahre 1983 zurück. D.h. die Einstellung der Deutschen zu Israel erweist sich in Bezug auf den arabisch-israelischen Konflikt als flexibel und situationsabhängig und relativ wenig ideologisch geprägt. … Muß diese Parteinahme gegen Israel als Ausdruck eines ›linken Antizionismus‹ gewertet werden, der im Grunde nur ein versteckter Antisemitismus ist?« Die Meinungsforschung »läßt hier m.E. nur die Antwort ›nein‹ zu.«
Grauzone und manifester Antisemitismus
Der die Bundesregierung beratende Expertenkreis schreibt in einem Exkurs unter dem Stichwort ›Grauzonen‹:
»Die Besonderheit der neueren Ideologieformen des Antisemitismus zeigt sich darin, dass in einigen Fällen nur schwer zwischen kritischen und antisemitischen Äußerungen unterschieden werden kann. Dies gilt v. a. in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der Politik Israels. Auch im Expertenkreis wurde über die Schwierigkeiten der eindeutigen Zuordnung diskutiert, fließende Übergänge konstatiert und auf ›Grauzonen‹ verwiesen. Die Übergänge zwischen ›Israelkritik‹ und Antisemitismus lassen sich auf einer theoretischen Ebene zwar durchaus definieren. (…) Im Einzelfall ist die Einschätzung, ob Äußerungen zu Israel lediglich kritisch oder antisemitisch zu verstehen sind, jedoch deutlich problematischer. Der Fokus sollte in diesem Zusammenhang daher weniger auf der Frage liegen, ob eine Äußerung antisemitisch gemeint war oder nicht – dies lässt sich in vielen Fällen nicht eindeutig klären. Stattdessen sollte das Bewusstsein im Zentrum stehen, dass kritische Äußerungen zu Israel unter Umständen sowohl als kritische Positionierung als auch als Antisemitismus verstanden werden können. Es kommt daher darauf an, wer, was, wann sagt und ob die Kritik ohne Zuschreibungen an ein unterstelltes jüdisches Kollektiv erfolgt oder ob im Sinne einer ›Umwegkommunikation‹ Israel nur an die Stelle ›der Juden‹ quasi als Legitimierung antisemitischer Einstellungen tritt. Es lässt sich festhalten, dass der Eintritt in den Diskursverlauf zur Kritik an der Politik Israels immer mit der Problematik verbunden ist, dass Äußerungen zumindest ambivalent verstanden werden können, in jedem Fall aber israelbezogene Äußerungen dann als antisemitisch zu bezeichnen sind, wenn bekannte Stereotype benutzt oder aber Morde an Juden gerechtfertigt werden.«
Wenn also jemand für einen »Schlussstrich« ist, dann hat dies das gleiche Gewicht wie die Rechtfertigung von Morden und ist auf jeden Fall dann außerhalb der Grauzone und antisemitisch, wenn eine Kritik an der israelischen Politik hinzutritt? So kommt man zu dem Ergebnis, dass gegenwärtig 40 Prozent der Deutschen antizionistische bzw. antiisraelische Antisemiten sind.
Methodologischer Einwand
Hier kommen wir zu dem entscheidenden methodologischen Einwand gegen das Verfahren zur Messung des antiisraelischen Antisemitismus: In einem »Diskursverlauf« kommt es darauf an, »wer, wann, was sagt«, um Licht in die Grauzone zu bringen, das tatsächlich Gemeinte herauszufinden und vor diesem Hintergrund zu bewerten. Richtig! Das Konzept der Grauzone wurde ursprünglich von dem Historiker Peter Ullrich in die Antisemitismus-Diskussion eingebracht.
Ihm ging es darum, Prominenten aus der Partei DIE LINKE die Möglichkeit zu geben, sich gegen eine Interpretation ihres Auftretens als antisemitisch in der Öffentlichkeit wehren zu können. In diesem Sinn wird das Vorhandensein der Grauzone auch vom Expertenkreis zugestanden. In dieser Situation ist der Befragte, dessen antiisraelischen Antisemitismus durch Zustimmung zu oder Ablehnung von entsprechenden Statements gemessen werden soll, jedoch nicht. Für ihn gibt es keine Grauzone.
Er kann den ihm vorgehaltenen Stereotypen zustimmen oder sie ablehnen und wird dann eingeordnet. Das war’s. Es wird mithin einerseits im Begriff der Grauzone eingeräumt, dass die Stereotype nicht trennscharf sind und das Gemeinte im Diskursverlauf ermittelt werden muss. Andererseits aber werden in der Befragung die Stereotype als trennscharf vorausgesetzt. Das ist ein grober Verstoß gegen die Regeln sozialwissenschaftlicher Methodologie. Aber nur mit dieser Absurdität kommen absurde 40 Prozent israelfeindliche Antisemiten in Deutschland zusammen.
Überall Antisemiten?
Diese Wissenschaft in der methodologischen Grauzone wendet nun wirklich einen doppelten Standard an: Personen des öffentlichen Lebens wird zugebilligt, dass ihr vorgeblicher antiisraelischer Antisemitismus vielleicht doch keiner sei. Dem in standardisierten Erhebungen repräsentierten Rest der Bevölkerung wird dies nicht zugebilligt. Alles im Dienste der Erzeugung von 40 Prozent Antisemiten.
Da wundern einen auch nicht mehr die Motive vieler Antwortverweigerer in Befragungen zum Antisemitismus. »Einige der gut informierten und überdurchschnittlich gebildeten Befragten haben anscheinend die Antwort verweigert, weil sie stereotype Fragen ablehnen, die sie in die Falle von vorurteilsgeladenen Antworten locken sollen, die den stereotypen Erwartungen der Forscher oder Sponsoren entsprechen«, so der Soziologe Hermann Kurthen.
Dichtung und Wahrheit
Der Expertenkreis wurde berufen, um dem IHRA-Antisemitismus wissenschaftliche Weihen zu verleihen. Die Bundestagsresolution vom November 2024 winkt mit einem weiteren Auftrag für die Experten, indem sie den neuen Begriff des »links-antiimperialistischen Antisemitismus« prägt. Man darf auf dessen wissenschaftliche Fundierung gespannt sein.
Versteht man Antisemitismus als Judenhass, dann ist die Statistik über politisch motivierte Kriminalität nicht ohne Aussagekraft, auch wenn es wegen der Zuordnungen, die wesentlich aus der Eingangsbeurteilung der Polizei stammen und nur unsystematisch mit den staatsanwaltlichen und gerichtlichen Befunden abgeglichen werden, Ungenauigkeiten geben wird. Danach gab es zwischen 2001 und 2015:
antisemitische Straftaten von rechts 21.216, im Jahresdurchschnitt 1.414
antisemitische Straftaten von links 61, im Jahresdurchschnitt 4
davon jeweils
antisemitische Gewalttaten von rechts 565, im Jahresdurchschnitt 38
antisemitische Gewalttaten von links 8, im Jahresdurchschnitt unter 1
zwischen 2001 und 2014
Schändung jüdischer Friedhöfe von rechts 591 im Jahresdurchschnitt 42
Schändung jüdischer Friedhöfe von links 0
Im Jahr 2015 wurden mit antisemitischem Hintergrund registriert
Körperverletzungen von rechts 28
Körperverletzungen von links 1
Brandstiftungen von rechts 2
Brandstiftungen von links 0
(eigene Aufstellung nach: Unabhängiger Expertenkreis 2017, BT Drucksache 18/11970, 2017, S. 30-45.)
Demnach werden von der Polizei im Zeitraum zwischen 2001 und 2015 weniger als 0,3 Prozent aller antisemitischen Straftaten dem linken politischen Spektrum zugeordnet. Um diese Zahlen zu deuten, sollten sie mit den Daten über die gesamte Hasskriminalität in Beziehung gesetzt werden. Aus dem Verfassungsschutzbericht 2015 ergibt sich hierzu folgende Aufstellung, Straftaten 2014/5 auf Grund von:
Fremdenfeindlichkeit 8.529, davon Gewalttaten 975, das entspricht 11,4 Prozent
Antisemitismus 1.366, davon Gewalttaten 36, das entspricht 2,6 Prozent
Rassismus 1.214, davon Gewalttaten 174, das entspricht 14,3 Prozent
Religion 1.112, davon Gewalttaten 110, das entspricht 9,9 Prozent
sexueller Orientierung 222, davon Gewalttaten 54, das entspricht 24,3 Prozent
gesellschaftlichem Status 320, davon Gewalttaten 39, das entspricht 12,2 Prozent
Behinderung 19, davon Gewalttaten 3, das entspricht 15,8 Prozent
(eigene Aufstellung nach: Unabhängiger Expertenkreis 2017, BT Drucksache 18/11970, 2017, S. 47.)
Auffällig ist der vergleichsweise geringe Anteil des Antisemitismus an der Hasskriminalität. Fasst man die ersten vier Kategorien als im engeren Sinne politisch motivierte Kriminalität zusammen, so hat der Antisemitismus daran einen Anteil von 11,2 Prozent. Noch aufschlussreicher die antisemitisch bedingten Gewalttaten: Nur 2,6 Prozent aller antisemitisch bedingten Straftaten sind Gewalttaten und nur 2,9 Prozent aller im engeren Sinn politisch motivierten Gewalttaten haben etwas mit Antisemitismus zu tun.
Der Judenhass ist so gering wie nie. Aber der Antisemitismus, gemessen mit den Werkzeugen der Erforschung des antizionistischen oder antiisraelischen Antisemitismus ist so verbreitet wie nie. Dieses Paradoxon wiederholt sich, wenn man andere Indikatoren zur Messung der sozialen Distanz oder Ablehnung heranzieht. Auf die Frage, welche Menschen ihnen als Nachbarn »eher unangenehm« bis »sehr unangenehm« sind, antworten die Deutschen:
Sinti und Roma zu 31 Prozent
Asylbewerber zu 29 Prozent
Muslime zu 21 Prozent
Osteuropäer zu 14 Prozent
Juden zu 5 Prozent
Schwarze Menschen zu 4 Prozent
Italiener zu 3 Prozent
(Unabhängiger Expertenkreis 2017, BT Drucksache 18/11970, 2017, S. 69.)
Der Rückgang des Antisemitismus sollte aber nicht zu der Annahme führen, die Gefahr eines neuen jüdischen Holocaust werde eher geringer. So wenig, wie eine Zunahme des Antisemitismus unvermittelt auf eine Holocaustgefahr schließen ließe, so wenig verringert der Rückgang des Antisemitismus diese Gefahr. Schließlich war Deutschland 1933 das am wenigsten antisemitische Land in Europa – wenn man von Italien absieht. Und dennoch …
Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung des Schlusskapitels aus dem 2023 bei Edition Aurora erschienen Buch ›Linker Antisemitismus – ein Kampfbegriff in Wissenschaft und Politik‹.
Foto: www.freepik.com
Schlagwörter: Antisemitismus, Inland